Heidi im Land der Bioroids

Visuelle Überwältigung als ästhetische Strategie - der Anime Appleseed und seine Zumutungen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Appleseed, der neue Anime von Shinji Aramaki, enthält so viele Widersprüche, dass es eigentlich gar nicht funktionieren dürfte. Tut es aber trotzdem. Ein Film als Ungeheuer.

Krudester Kitsch und ästhetisch ungeheuer ausgefeilte Strategien des Erzählens. Reaktionärer Waffenfetischismus und Botschaften der humanen Selbstbehauptung im Angesicht der Biotechnologie. Unglaubliche Destruktivität und zärtliche Detailverliebtheit. Das sind nur einige der Widersprüche und Ungereimtheiten, die der Anime Appleseed spielend miteinander übereinbringt.

Die Story des Films? Wenn man die zersplitterten Plotfetzen zusammenflickt, erhält man die Geschichte einer Kriegerin namens Deunan Knute (!), die am Anfang des Films noch nicht gemerkt hat, dass der Krieg, ihr Krieg vorbei ist. Erst als sie von den Entscheidungsträgern eines utopischen Gemeinwesens namens Olympus aus der Kriegszone entfernt wird, erkennt sie die Lage der Dinge.

Olympus ist aus den Trümmern der zerfetzten Vorkriegsgesellschaften entstanden, und man hat sich dort entschlossen, die politische Steuerung des Gemeinwesens zu großen Teilen in die Hände von sogenannten "Bioroids" zu legen, Kunstmenschen, die als genetische Sonderanfertigungen weniger emotional sind als normale Menschen. Die Balance zwischen den Bioroids und den Normalen, die je zur Hälfte die Bevölkerung in Olympus stellen, wird von einem Zentralcomputer namens "Gaia" überwacht sowie von einem Regierungssystem, das aus einem Ältestenrat mit sieben Mitgliedern, einer Bioroid-Präsidentin und einem menschlichen Parlament besteht. Unter verfassungsrechtlicher Sicht würde man das vielleicht checks and balances nennen. Die aus den Wüsten des Krieges entführte Kämpferin erfährt auch, dass ihr ehemaliger Geliebter, der Soldat Briareus, seinerzeit schwer verwundet wurde und jetzt zu über 70% aus Maschinenteilen besteht, also ein klassischer Cyborg nach Robocop-Art geworden ist. Von dieser Exposition aus entwickelt Appleseed eine Geschichte, die so widersprüchlich wie spannend ist und am Ende trotz ihres radikal eklektischen Zugriffs funktioniert.

Wie mit Worten begreiflich machen, was so essenziell auf Bilder angewiesen ist? Wie über einen Film reden, der schon in seinem Fundus fröhlich jede Wahrscheinlichkeit über Bord wirft? Im 22. Jahrhundert gibt es keine Strahlenwaffen, sondern die Menschheit metzelt mit den guten alten Donnerbüchsen. Ganz besonders haben es den Machern Gatling-Kanonen angetan, im ganzen Film ist Schießzeug dieser Art so wichtig, dass es auf der Besetzungsliste unter den Hauptrollen auftauchen sollten. Ein anderes prominent auftauchendes Stück Technik ist ein Senkrechtstarter, der sehr der Bell-Boeing V22 Osprey ähnelt. Wenn die Menschheit um 2131 noch mit so etwas herumfliegt, hat sie ernstere Innovationsprobleme, als ihr heute bewusst ist. Stört das die suspension of disbelief?

Nicht im Geringsten. Genauso wenig wie ein anderer bizarrer Widerspruch, der auf einer tieferen Ebene ansetzt. Der ganze Film zelebriert eine ungehemmte Destruktivität. Dass er in den USA erst ab 17 freigegeben war, hat durchaus Gründe. Aber im Gegensatz zu vielen Kriegs- und Antikriegsfilmen, die eine moralische Läuterungsgeschichte als Vorwand für mehr oder minder heftige Gemetzelorgien benutzen, packt Appleseed einen einfachen humanistischen Slogan an die Schlüsselstelle des Films und macht ihn so eindeutig zu seiner Message: "Wir müssen daran glauben, dass die Zukunft von uns selbst gemacht wird!"

Dies schreit Deunan in einem Moment heraus, in dem der Ältestenrat die Menschheit zum Untergang verdammen und komplett durch die Bioroids ersetzen will. Gaia hat nämlich geweissagt, dass die konventionelle Menschheit ohnehin zu nichts anderem taugt, als den Planeten zu vernichten. Aber Deunan widersetzt sich den Plänen Gaias und der Ältesten, im nächsten Augenblick stürzt sie sich in den Kampf gegen die übermächtig scheinenden Fatalisten - es folgt erhebliches Gemetzel. Deunan sieht mit ihren Bambiaugen wie eine erwachsene Version von Heidi aus, und seltsamerweise kommt ihr gerade durch diese mangatypische Überstilisierung im Kontrast zu dem ständigen Herumgefighte so etwas wie ein Charakter zu.

Aber natürlich reicht das nicht, der Film muss Deunans Konflikte durch einen völlig an den Haaren herbeigezogenen familiären Subplot auf die Spitze treiben. Am Höhepunkt dieses dramaturgischen Seitenstrangs verfällt sie in furchtbares Geschwafel über elterliche Lebensaufträge, nur um Sekunden später einen Zwischengegner per Kopfschuss zu erledigen, während sie im Begriff ist, von einer Forschungsplattform ins Meer zu stürzen.

Wie hält ein Film so was aus? Wie verhindert er die Selbstauflösung? Einmal natürlich durch Frechheit. Er wagt sich, Dinge einfach als gegeben hinzusetzen, die anderen viel zu disparat wären. Eine sehr ausgefeilte Spannungsdramaturgie, die weder der Geschichte noch dem Zuschauer Atempausen lässt, tut ein Übriges. Und dann ist da die visuelle Qualität des Films. Es gibt Diskussionen darüber, ob rein computergenerierte Animes, bei denen die Figuren nur noch so aussehen sollen, als seien sie gezeichnet worden, die Tradition nicht beschädigen, die Zeichenkunst nicht vernachlässigen usw. usf.

Tatsache ist, dass der Film eine konsequentere Ästhetik aufweist als alle vergleichbaren Konkurrenzprodukte, wie z.B. Inosensu: Ghost in the Shell. Das Design ist perfekt, die Bewegungsabläufe der Figuren sind vollkommen ruckelfrei, das Problem mit der mangelnden Tiefenwirkung, an dem Animes traditionellerweise leiden, ist gelöst. Die schimmernde Oberfläche hält zusammen, was von sich aus zerfallen würde. Besonders deutlich wird der Unterschied im Vergleich zur früheren Umsetzung des Stoffs aus dem Jahr 1988, die heute nur noch jämmerlich wirkt.

Zuletzt sei das sehr effektive Geräuschmanagement erwähnt. Damit ist nicht die Musik gemeint, die stellenweise störend wirkt, sondern der Rest von Appleseeds Klangtopographie: vom Zuziehen eines Reißverschlusses bis zum metallischen Wegklickern ausgeworfener Patronenhülsen ist alles genau kalkuliert. Das Zusammenwirken all dieser Elemente der handwerklichen Meisterschaft führt dazu, dass zum Beispiel der Kampf in der Eingangsszene trotz seiner Sinnfreiheit als gültige Exposition wahrgenommen wird.

Und so funktioniert der ganze Film: Im komplexen Widerstreit zwischen Diskurs und Optik entscheidet er sich immer für die Optik, und zieht dadurch den läppischen Diskurs mit. Das macht ihn zu einem schönen, aber auch potenziell gefährlichen Ungeheuer, und nur die spät in die Geschichte eingebauten checks and balances verhindern, dass er ganz in bloße Ästhetisierung von Gewalt abgleitet. Für Fans des Genres ist er ohnehin unverzichtbar, für alle anderen immerhin sehenswert.