Helden ohne Mythos

Eine intermediale Vermutung, warum Lara Croft unsterblich sein könnte

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Schon in vordigitalen Zeiten liefen nicht gerade wenige Helden und Superhelden, Antihelden und Bösewichter durch Kinderzimmer, Comix oder Jugendbücher. Fernsehen und Kino belebten die beliebtesten Protagonisten, um bereits damals den kostbaren Identifikations- und Aufmerksamkeitsstoff zu erhalten, zu entfalten und immer wieder zu präsentieren. Oft war es eine intermediale Enttäuschung, wenn etwa Karl Mays Helden in die stoffgläubigen Rialto-Filme verpackt wurden, um fließend zur Selbstparodie zu mutieren. Verfilmungen erlitten nicht nur hier, sondern auch in ihren Nachstellungen der Weltliteratur ein durchwachsenes Rezeptionsschicksal, weil sie den Helden eine endgültige Form verliehen, die der offenen Imagination des Lesers widersprach.

In Zeiten der Mediensymbiosen, Crossover-Befruchtungen, des Merchandizing, vor allem aber der immer rasanteren Aufmerksamkeitsfluchten gilt es mehr denn je, den wertvollen Stoff, aus dem die Träume sind, in immer neue Szenarien und Aktionsräume einzuspeisen. Auch das digitale Leben - vor allem in seiner kommerziellen Gestalt - strebt nach Unsterblichkeit. Das Grundgesetz des globalen Merchandizing lautet: Jedes Medium muss seinen spezifischen, anschlussfähigen Beitrag zur Heldenemanation leisten, ohne die kulturellen, ideologischen, religiösen oder ethnischen Voreinstellungen des Publikums zu provozieren. Bereits in der Konzeption weltumspannender Produktionen müssen daher Figuren und Geschichten von partikularen Eigenschaften weitgehend bereinigt werden, um als weltweite Projektionsfläche aller Konsumenten geeignet zu sein.

So entstehen inzwischen lange intermediale Verwertungsketten, die das Publikum an Figuren binden, die nicht weniger vertraut sind als der Nachbar von nebenan, den man gleichwohl nicht kennt. Aber wie viel Verwertung verträgt so ein Heldenleben? Welchen Einfluss hat die digitale Existenz etwa auf die Wiedergeburt als Filmheld? Vor allem aber: Welche neuen Helden braucht die Welt?

Lara Croft jedenfalls, inkarniert von Angelina Jolie, soll am 15. Juni 2001 ihre Welturaufführung in Fleisch und Blut erleben. Seit dem ersten Tomb Raider Spiel 1996 eine erstaunliche Karriere: Lara ist schon vor ihrer cineastischen Existenz - millionenfachen Verkäufen nach zu urteilen - zu einer zentralen Ikone der Postpopkultur avanciert.

Nun könnten Interpreten, um nicht von Hermeneutikern zu reden, verleitet sein, aus der Figur selbst, vielleicht gar aus der fiktiven Biografie der behüteten Aristokratin, die sich zur aktionsgeladenen "Tomb Raideress" verwandelt, auf den stupenden Erfolg der digitalen Superbraut schließen. Aber Lara so wie ihre weniger erfolgreichen Brüder und Schwestern sind keine Individuen, keine schicksalsgeladenen Vollexistenzen mehr. Ihre Biodigitalgrafie ist wenig mehr als ein beiläufiges bonus pack, kaum ersonnen, um ihr pures Dasein je plausibler zu machen. Die Retortenhelden des dritten Millenniums wollen längst nicht mehr "Ich" sagen, ja können es nicht einmal, um zu existieren. Bei ihnen geht die Existenz nicht der Essenz vor, es gibt kein Wesen mehr. Jeder Selbstentwurf wäre Blasphemie wider ihr Sein, das nie mehr als digitaler Schein sein will.

Von diesem geschichtslosen Wissen leben auch die Verfilmungen, die längst Videospielästhetik, Fantasmarealismus und Animationsspektakel - wie etwa in Matrix - gegen die Dramaturgie des Helden ausgetauscht haben (dazu jetzt der gerade beendete Kongress Entertainment in the interactive age). Dramatis personae wären an den ungezählten Orten der aufregenden Nichtabenteuer fehl am Platze, wie viel mehr erst die Protagonisten des gemächlichen Entwicklungsromans, die ihre Seelenlagen zur Erbauung des Lesers äquilibrierten, endlos über Selbstentwürfe als Vorbilder für Generationen meditierten.

Im Grunde gibt es also gar keinen Film zum Video, sondern nur die global verordnete Liquidation der Innenwelt mit ähnlichen Mitteln: Helden als entwurfslose Figuren, die jeden zur Identifikation einladen, weil es die Identifikation mit einem fröhlich und banal gewordenen, vom europäischen Nihilismus entdüsterten Nichts ist. Auch für sie gilt das "Lob der Oberflächlichkeit" (Vilém Flusser), aber es ist die Oberfläche eines umgekehrten Zauberspiegels, der vorrangig keine narzisstische Identifikation mehr gewährt, sondern den Identitätsmüden von seiner und jeder Identität losspricht.

Wenn die Faktur des global agierenden Helden seelenlos wird, gibt es auch keinen Mythos mehr. Waren zuvor die antiken Helden, etwa Herkules, Odysseus oder Achilles, zwar auch keine Individuen, so waren sie doch der Erzählung entsprungen, die schicksalshaft Ereignisse entwickelte und nicht mit "Action" verwechselt werden konnte. Ihr Mythos vermenschlichte die Götternwelten, suchte Näherungen an die Wahrheit, erzählte ein Schicksal und verarbeitete es in der Reflektion der Zuhörer.

Neue Helden wie Lara sind dagegen sequels und leben in einer serialisierten Welt kleiner Variationen, beliebig angeordnet und befreit von jedem Mythos. Arbeit am Mythos, gar Entmythologisierung findet hier keinen Gegenstand. Warum funktioniert das Paradox des mythenlosen Helden in einer angeblich entzauberten Welt, die indes keineswegs weniger Rätsel aufwirft als jene der argonautischen Zeiten? Was macht Lara Croft und die anderen Antimythenpixel so stark und attraktiv, wie es nie zuvor ein klassischer Held gewesen sein mag? Sie sind digital, also schicksalslos und leidensfrei. Sie reflektieren trotz ihrer Anbindung an narrative Versatzstücke, was immer ihr Publikum will. Und wer wollte es ihnen nicht gleichtun, um auf so posthumane und seelenlose Weise unsterblich zu werden?