Herbst des Missvergnügens, oder: Medienwissenschaft und Perlentaucherei

Die Bergische Universität in Wuppertal wäre beinahe gezwungen worden, einen großen Teil ihrer audiovisuellen Bestände zu vernichten, um nicht gegen unser antiquiertes Urheberrecht zu verstoßen. Der Fall zeigt wieder einmal, dass wir trotz aller Klagen über die Bilderflut weiter in einer Schriftkultur leben.

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Was war am 27. Oktober 2010? Na? Der Tag des Buches, einer vom Aussterben bedrohten Vogelart oder der Tag des Stotterns (sowas gibt's auch)? Alles falsch. Der 27. Oktober war der nunmehr fünfte, von der UNESCO ausgerufene "Welttag des audiovisuellen Erbes". Klingt erstmal gut, ist aber ein Alarmsignal. Wie schludrig wir mit diesem Erbe umgehen, fiel auch der UNESCO auf, als sie vor nunmehr 30 Jahren in Belgrad eine Konferenz abhielt. Also wurde am 27. Oktober 1980 eine "Empfehlung zum Schutz und zur Erhaltung bewegter Bilder" verabschiedet. Das zeitigte gleich einen so durchschlagenden Erfolg, dass die Kulturorganisation ein Vierteljahrhundert später, am 27. Oktober 2005, beschloss, doch noch einmal auf das Problem hinzuweisen und jetzt alljährlich so einen "Welttag" zu veranstalten.

Wer zu spät kommt, der hat Amnesie

Ähnlich wie beim Klimaschutz wird an diesem Tag daran erinnert, dass dringend etwas geschehen müsste, weil es sonst bald zu spät sein wird. In Deutschland wird der Welttag seit 2007 begangen. Letztes Jahr zeigte die Kinemathek in Berlin aus diesem Anlass Tabu, den letzten Film von Friedrich Wilhelm Murnau. Von diesem grandiosen Meisterwerk ist eine Fassung auf DVD in den USA erhältlich (mit einem wunderbaren Kommentar von Janet Bergstrom), eine andere, im Auftrag der nach Murnau benannten Stiftung restaurierte Version in Großbritannien. In Deutschland ist keine DVD mit dem Film erschienen, weil nämlich ... ja, hmmh, warum eigentlich nicht? Wahrscheinlich war das eine vorauseilende Verbeugung vor Obama, dem unser Außenhandelsüberschuss ein Dorn im Auge ist. Die Stiftung verzichtet darauf, auch im eigenen Land für eine Veröffentlichung dieses Hauptwerks ihres Namensgebers zu sorgen, damit wir endlich mehr im Ausland kaufen, statt nur zu exportieren.

Im Sinne der transatlantischen Beziehungen ist das sehr verdienstvoll, und es verweist zudem darauf, dass beim Schutz des audiovisuellen Erbes zwei Dinge zu berücksichtigen sind: Die Erbschaft, die wir da gemacht haben, sollte so aufbewahrt und gesichert werden, dass auch in den kommenden Jahrzehnten noch etwas davon übrig ist; das schulden wir den nachfolgenden Generationen. Und sie sollte der Allgemeinheit zugänglich gemacht werden, damit der Interessierte auch sehen kann, was es da gibt und der gern bemühte Spruch vom Film als unserem "kollektiven Gedächtnis" keine hohle Phrase bleibt. Das Kollektiv hat nämlich einen Anspruch darauf, zu wissen, was drin ist in seinem Gedächtnis.

Ein sehr eigenwilliger Beitrag zur Steigerung des Problembewusstseins kommt in diesem Jahr aus Wuppertal. Dort hat Erwin Lindemann wahrscheinlich noch immer keine Herrenboutique mit dem Papst eröffnet, aber es gibt eine Universität, und in dieser Universität ein Zentrum für Informations- und Medienverarbeitung (ZiM), von dem die Sendung vielleicht aufgezeichnet wurde, in der die von Loriot erdachte Figur über ihren Lottogewinn spricht und sich furchtbar verhaspelt, weil Herr Lindemann nicht fernsehtauglich ist. Rund um den "Welttag des audiovisuellen Erbes" herrschte große Aufregung (auch Telepolis hat darüber berichtet), weil die Justiziarin der Universität ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben hat, das zu der Einschätzung gelangt, dass die bisherige Praxis, Fernsehmitschnitte anzufertigen und sie für die wissenschaftliche Nutzung zur Verfügung zu stellen, urheberrechtlich nicht gedeckt ist. Dieses Gutachten lag offenbar noch gar nicht vor, als das ZiM bereits in einer hausinternen Mitteilung angewiesen wurde, alte Fernsehmitschnitte ohne Nutzungslizenz zu vernichten und keine neuen mehr anzufertigen.

Inzwischen hat der Leiter des ZiM mitgeteilt, dass eine praktikable Lösung gefunden wurde und die in jahrzehntelanger Sammeltätigkeit archivierten Bestände der Mediathek doch nicht vernichtet werden müssen. War also alles nur ein Sturm im Wasserglas, eine von übereifrigen Bürokraten und Rechtsverdrehern zu verantwortende Provinzposse? Fast könnte man es glauben. Ausgelöst wurde das langsam anschwellende und dann schnell wieder abflauende Getöse durch eine Pressemitteilung des "Aktionsbündnisses 'Urheberrecht für Bildung und Wissenschaft'" vom 21. September. Überschrift: "Vernichtungsanordnung als vorauseilender Gehorsam". Das war zu schön, um nicht übernommen zu werden. Ich habe keinen Bericht gefunden, dessen Autor auf den "vorauseilenden Gehorsam" verzichten wollte (hätte ich auch nicht gemacht).

So entsteht aber der Eindruck, als ob die Mediathek ihre Videokassetten behalten dürfte, weil eine servile, vor dem Fernsehen und der Medienindustrie in die Knie gehende Universitätsleitung und die arme Justiziarin, auf die jetzt eingehackt wird, obwohl sie vermutlich nur gemacht hat, wofür sie von der Uni Wuppertal bezahlt wird, im letzten Moment ausgebremst werden konnten. Ich fürchte, es ist wie üblich komplizierter. Das Problem besteht, seit es den Videorekorder gibt, und es ist nicht dadurch gelöst, dass die Bestände des ZiM jetzt scheinbar doch nicht "fachgerecht zu vernichten" sind, wie es in der hausinternen Anweisung hieß. Das, was aus Wuppertal berichtet wurde, wirft nur ein Schlaglicht auf unhaltbare Zustände, die den "Wissenschaftsstandort Deutschland" gefährden und an denen sich - nach dem aktuellen Stand der Dinge - so bald nichts ändern wird. Wenn man wie ich schon etwas länger mit dabei ist, hat man sogar das ungute Gefühl, sich im Kreis zu drehen und bald wieder am Ausgangspunkt zu sein, als habe man beim Monopoly das falsche Feld berührt und müsse nun zurück auf Los, während die anderen auf der Schlossallee ihre Hotels bauen.

Vom auteur zum Autor und dann in die Uni

Die Geschichte, die ich hier erzählen will, spielt nicht im Krieg oder gleich danach, auch wenn es vielleicht manchmal so wirkt. Sie beginnt zu einer Zeit, als sich die VHS-Videokassette bereits gegen konkurrierende Formate wie das in Deutschland entwickelte Video 2000 durchgesetzt hatte. Ich war Student an einer großen deutschen Universität (keine Wald-und-Wiesen-Uni, sondern eine von denen, die jetzt im Zeichen der Exzellenzinitiative eine Leuchtturmfunktion erfüllen etc. pp.). Die geisteswissenschaftlichen Institute boten sehr sporadisch Filmseminare an, die sich vor allem dadurch auszeichneten, dass sie weitestgehend ohne Filme und deren Analyse auskamen. Den Begriff "Medienkompetenz" kannte man noch nicht, und eine Beschäftigung mit Fernsehsendungen kam sowieso nicht in Frage, weil das noch weniger "Kultur" war als solche irgendwie suspekten Spielfilme.

Noch früher, in den 1950ern, hatten einige junge Leute aus dem Umfeld der französischen Zeitschrift Cahiers du Cinéma begonnen, auf eine neue Weise über Film zu schreiben. Sie hießen François Truffaut, Jacques Rivette, Jean-Luc Godard, Claude Chabrol oder Eric Rohmer und formulierten etwas, das sie la politique des auteurs nannten. Die Helden ihrer Texte, die bis in die 1970er hinein regelmäßig in Zeitschriften und Büchern erschienen, waren einige von den ganz Großen des europäischen Kinos wie Jean Renoir oder Carl Theodor Dreyer, aber auch Regisseure, die innerhalb des Studiosystems von Hollywood arbeiteten und nach gängiger Lesart keine Künstler sein konnten, weil sie sich an die amerikanische Unkultur und die Unterhaltungsindustrie verkauft hatten: Alfred Hitchcock, Howard Hawks, Anthony Mann, John Ford, Orson Welles, Fritz Lang, Douglas Sirk, Budd Boetticher und andere.

Ein auteur war einer, der den von ihm gemachten Filmen die eigene, persönliche und unverwechselbare Handschrift aufdrückte, auch wenn er innerhalb der "Traumfabrik" arbeitete, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, die Welt mit industriell hergestellten, standardisierten und massenkompatiblen Produkten zu beliefern. Da, hatte man bisher gedacht, war so etwas wie ein individueller Kunstausdruck nicht möglich. Von Leuten wie dem Kritiker Andrew Sarris wurde la politique des auteurs umbenannt und als auteur theory in den englischen Sprachraum importiert (la politique lässt sich eher mit Polemik übersetzen als mit Theorie). 1968 erschien Sarris' Standardwerk The American Cinema, in dem er die in Hollywood tätigen Regisseure der Tonfilmära in elf Gruppen einteilte: von den "Pantheon Directors" über "Expressive Esoterica" (meine Lieblingskategorie) und "Subjects for further research" bis zu "Miscellany". Die Bedeutung dieses Buches für die universitäre Beschäftigung mit dem Medium Film, auch und insbesondere mit dem Hollywoodkino, lässt sich kaum überschätzen.

Indem die Franzosen und die Gruppe um Andrew Sarris die "Auteur-Theorie" populär machten, verringerten sie die Distanz zwischen dem relativ neuen Medium der bewegten Bilder und älteren, traditionelleren Formen des kulturellen und des künstlerischen Ausdrucks. Wenn auch ein Film, also das auf Zelluloid festgehaltene Ergebnis einer kollektiven Anstrengung, einen Autor hatte, manchmal wenigstens, konnte man ihn mit Büchern vergleichen und versuchen, mit Hilfe von aus der Literatur bekannten Bewertungskriterien die künstlerische Qualität zu ermitteln. Dank dieser Vergleichsmöglichkeit stieg das Prestige des neuen Mediums, wurde es auch für Akademiker interessant (zumindest potentiell). An amerikanischen, französischen, bald auch britischen Universitäten begann man nun, sich mit der Geschichte und Ästhetik des Films zu beschäftigen. Nur in Deutschland wurde die Entwicklung leider verschlafen.

Goethe war kein Filmregisseur

Während in anderen Ländern an immer mehr Universitäten entsprechende Studiengänge eingerichtet wurden, fristeten die "Filmstudien" hierzulande ein tristes Dasein. An der Uni, an der ich mich immatrikuliert hatte, gab es bei den Anglisten alle paar Semester ein Seminar, das sich "Shakespeare-Verfilmungen" nannte. Als Cineast musste man da mit dabei sein. Dachte ich. Aber in der ersten Sitzung erfuhr ich, dass die Frage nach den Regisseuren der zu besprechenden Shakespeare-Verfilmungen irgendwie unangebracht war. Darum ging es nicht. Es ging darum, Shakespeare-Stücke mit den Verfilmungen zu vergleichen, festzustellen, wo gekürzt worden war (diese Theaterstücke sind sehr lang) und das den Filmen dann anzukreiden. Am Ende sollte wohl dabei herauskommen, dass man bei Büchern doch besser aufgehoben war. Die Filmauswahl war zufällig und hing davon ab, was man in England als VHS-Kassette ordern konnte. Die Originalfassung sollte es schon sein, schließlich war man unter Akademikern oder solchen, die es werden wollten.

Als eine Art Kulturrevolution galt, dass auch die Germanisten nach langem Zögern bereit waren, sich dem audiovisuellen Medium zu widmen. Angeboten wurde eine "Einführung in die Filmanalyse". Die Einführung begann mit der Warnung des Dozenten (ein Lehrbeauftragter ohne feste Anstellung), Professoren gegenüber unter keinen Umständen Begriffe wie "klassisches Hollywood" zu gebrauchen, weil einem diese würdigen Herren (eine Dame gab es auch) solche Ausdrücke sofort um die Ohren hauen würden. Die Klassik war die Zeit, in der Goethe seine Bücher schrieb. Im Zusammenhang mit Filmen durfte man das Wort nicht verwenden. Das wäre ein Sakrileg gewesen. So wurde man gleich eingeschüchtert, bekam man das Gefühl vermittelt, etwas zu tun, das nur geduldet war - etwas, wofür man eine Erlaubnis brauchte, die jederzeit widerrufen werden konnte. Wenn eine Mediathek wie das ZiM in Wuppertal durch die bestehenden Regelungen gezwungen wird, in einer rechtlichen Grauzone zu operieren, um ihre Aufgabe zu erfüllen, ist das strukturell ganz ähnlich.

Der running gag der "Einführung in die Filmanalyse" war, dass der frustrierte Dozent in jeder Sitzung darüber lamentierte, was man alles für tolle Sachen machen könnte, wenn man es denn dürfte. Man durfte aber nicht. Erlaubt war nur, über deutsche Verfilmungen von Werken der deutschen Literatur zu sprechen. Nur unter dieser Voraussetzung war das Seminar genehmigt worden. Weil man außerdem darauf angewiesen war, ein Video der überhaupt in Frage kommenden Werke zu finden, blieb nicht viel übrig. Zum Glück gab es noch das Institut für Amerikanistik. Dort lehrte ein Gastprofessor aus den USA, der auch ein Filmseminar anbot. Das war die Rettung. Während man in anderen geisteswissenschaftlichen Instituten solche Filmseminare mühsam erkämpfen musste, hatten die Amerikanisten ihren Gast ausdrücklich darum gebeten, eines anzubieten, weil unter den Studierenden eine große Nachfrage bestand und es keinen gab, der sie hätte befriedigen können. Der Fairness halber muss man hinzufügen, dass sich die Amerikanisten mit solchen Tabubrüchen leichter taten, weil sie von vornherein einen eher zweifelhaften Ruf hatten. Ihr Fachgebiet war das Land der Micky Maus. Als Shakespeare seine Stücke schrieb, gab es da nur Indianer.

Dummerweise hatten die Amerikanisten ihrem Gast versichert, ihm eine ausreichende Menge an Filmen für seinen Kurs zur Verfügung stellen zu können. Das war ein Irrtum. Aller Anfang ist schwer. Wenn ich nichts vergessen habe, bestand die Filmsammlung des Instituts (neben einigen wenigen Synchronfassungen) aus Casablanca, Fred Niblos Stummfilm-Version von Ben Hur und der 16-mm-Kopie eines Dokumentarfilms. Es gab ein Fernsehgerät, einen Videorekorder und sogar einen 16-mm-Projektor, der aber kaputt war. Geld für die Reparatur war nicht vorhanden. Es gab auch wirklich wichtigere Dinge, die vorher in Ordnung gebracht werden mussten: zum Beispiel das Dach, durch das es in die Bibliothek regnete.

John Wayne muss leider draußen bleiben

Einige Jahre zuvor hatte die Universität ein Medienreferat eingerichtet. Da saß ein Herr (Typ: grimmiger Hausmeister), der sehr gewissenhaft die Hörzu las und dann beschloss, was er mitschneiden würde und was nicht. Man durfte auch Vorschläge machen, die Gehör fanden oder nicht. Meistens eher nicht. Das war damals die Zeit, als in anderen Ländern, in denen es eine Filmkultur gab, John Fords The Searchers wiederentdeckt wurde. 1982, bei der alle zehn Jahre stattfindenden Umfrage der Zeitschrift Sight & Sound nach den besten Filmen der Welt, hatte Fords Meisterwerk zur allgemeinen Überraschung den zehnten Platz belegt. Beim nächsten Mal, 1992, rückte er sogar vor auf Platz 5. Aber als The Searchers im Fernsehen lief, verweigerte das Medienreferat die Archivierung. Filme mit John Wayne lehnte der zuständige Herr grundsätzlich ab. Das war Schund. Für so etwas gab man nicht das Geld für eine Videokassette aus.

Ob wohl das ZiM in Wuppertal damals schon weiter war und den Film in seine Sammlung aufnahm? Ich will hier nur zwei Gründe nennen, warum das sehr wichtig gewesen wäre. Der eine hängt damit zusammen, dass man als Historiker oft froh ist, in solchen Archiven Dinge wiederzufinden, die man selbst einst weggeworfen hat. Ich glaube, mein eigenes Verhalten ist durchaus repräsentativ. Die - pardon - Ignoranz des "Medienreferats" (schon die Wortwahl sagt sehr viel) war zu verkraften, denn als Filmliebhaber besaß man natürlich einen eigenen Videorekorder. Das Aufbauen einer privaten Sammlung allerdings war teuer, und für VHS-Kassetten braucht man viel Platz. Anfangs war man froh über den Fernsehmitschnitt der deutschen Synchronfassung. Dann erschien der Film in den USA und in Großbritannien auf VHS - erst als Vollbild-Version, später im (annähernd korrekten) VistaVision-Format, auf DVD, als DVD mit besserer Bildqualität, auf BluRay. Irgendwann habe ich meine alte VHS-Kassette mit der im deutschen Fernsehen ausgestrahlten Fassung überspielt. Das war dumm.

The Searchers

In den 1980ern, als The Searchers wiederentdeckt wurde, gab es den Film nur in zensurierten Kopien. Betroffen waren vor allem Szenen, die sehr wichtig für die Charakterisierung der von John Wayne gespielten Hauptfigur sind. Ethan Edwards ist nicht der aufrechte Kämpfer für Recht und Ordnung, den man im Western erwartete, sondern ein gewalttätiger, von inneren Dämonen getriebener Mensch und ein Rassist. Einmal erschießt er einen Mann von hinten. Das machten sonst nur die Bösewichter, nicht John Wayne. Also wurde an der Szene genauso herumgeschnitten wie an der, in der Edwards einem toten Indianer die Augen ausschießt, weil die Comanchen glauben, dass sie dann nicht in die ewigen Jagdgründe eingehen.

The Searchers

Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass der auf die Leiche schießende John Wayne aus den Fassungen, die in den 1980ern im Fernsehen und in Kinematheken liefen, entfernt war. Aber solche Erinnerungen sind oft trügerisch, und belegen könnte ich es sowieso nicht mehr, weil mein alter Mitschnitt längst gelöscht ist. Als die Warner Bros. The Searchers aus dem Archiv holte, um ihn auf dem Heimvideomarkt zu vertreiben, war er wieder vollständig. Das ist natürlich zu begrüßen. Aber der Käufer der DVD erfährt nicht, was viele Jahre lang fehlte und so die Rezeption beeinflusste. Wollte man eine Geschichte der Zensur in den 1950ern schreiben, müsste man auf eine Sammlung wie das ZiM in Wuppertal hoffen, die vielleicht die verstümmelte Version aufbewahrt hat.

Die deutsche Fassung von The Searchers ist ein Klassiker hiesigen Synchronschaffens (lange von der Uni weg, traue ich mich inzwischen, das K-Wort zu verwenden, obwohl Goethe weder das Drehbuch geschrieben noch Regie geführt hat). Den weißen Siedlern im Film (Originalfassung) ist der Häuptling der Comanchen als "Scar" bekannt, weil er eine Narbe im Gesicht hat. Der deutsche Verleihtitel ist Der schwarze Falke, und der Häuptling wurde kurzerhand umbenannt. Es gibt eine Szene, in der John Wayne dem Comanchen nach langen Jahren des Suchens erstmals von Angesicht zu Angesicht gegenübertritt. Die beiden Feinde sehen sich an. Jetzt wisse er endlich, sagt Ethan Edwards (deutsch synchronisiert), wie der Häuptling zu dem Namen "Schwarzer Falke" gekommen ist. Der Comanche führt daraufhin unwillkürlich die Hand zu seinem Gesicht, über das die Narbe läuft (weil er eben "Scar" heißt und nicht "Schwarzer Falke").

Das ist so blöd, dass es schon wieder komisch ist. Aber entstellend ist es auch. Die Narbe erinnert an einen Überfall der Weißen auf ein Indianerdorf, bei dem die Söhne des Häuptlings getötet wurden. Das erklärt seinen Rachefeldzug, macht Scar menschlicher und rückt ihn auf beunruhigende Weise an Ethan Edwards heran, die mehrfach gebrochene Identifikationsfigur, deren Inneres so vernarbt ist wie das Gesicht des Indianers. Wenn der weiße Held den indianischen Bösewicht trifft, begegnet er seinem Spiegelbild. Beide sind in einer Spirale aus Gewalt und Gegengewalt gefangen. Wer "Scar" durch den "Schwarzen Falken" ersetzt, trägt - bewusst oder unbewusst - dazu bei, aus einem Film über Rassismus einen rassistischen Film zu machen.

The Searchers

Wer sich als deutscher Medienhistoriker mit The Searchers beschäftigt, sollte wissen, in welcher Version der Film hierzulande im Kino lief und wie das Original verändert wurde; daraus erfährt man auch eine ganze Menge über die Adenauerzeit. Auf der jetzt bei uns vertriebenen DVD ist auch die alte Synchronspur enthalten. Das muss nicht so bleiben. Sollte jemand beschließen, den Film neu zu synchronisieren wie etwa im Fall von Michael Powells Peeping Tom, wird man bald wieder auf Mediensammlungen angewiesen sein, um etwas über die Vergangenheit zu erfahren (auf der Kinowelt-DVD von Peeping Tom ist die Original-Synchronisation wieder mit enthalten). Wer die Bestände solcher Sammlungen löscht, amputiert ein Stück von unserem kollektiven Gedächtnis. Ohnehin passiert das jetzt schon dauernd, ganz ohne Löschbefehl der Universitätsleitung. Im Jahr 2010, in dem längst keine Videorekorder mehr produziert werden, diskutiert der Wissenschaftsstandort Deutschland, das Land des Fortschritts und der Exzellenzinitiative mit Leuchtturmuniversität, darüber, ob das ZiM seine alten Videokassetten behalten darf. Man müsste dringend damit beginnen, die VHS-Bestände zu digitalisieren und auf einem moderneren Speichermedium zu sichern, bevor sie auseinanderfallen.

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