Heuchler, Spione, Perverse und ein Todesfall: Großbritannien und die Profumo-Affäre

Heute vor 45 Jahren starb Stephen Ward, der im größten britischen Politskandal des 20. Jahrhunderts als Sündenbock herhalten musste, damit alles so bleiben konnte, wie es war. Ein Rückblick

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Oft fängt etwas, das schlimm endet, ganz harmlos an. Nehmen wir den Skandal, der zum Rücktritt eines Ministers und eines Regierungschefs führte, beinahe eine Börsenpanik verursacht hätte, die NATO und das FBI in Alarmzustand versetzte, uns eines der am häufigsten reproduzierten Photos der 1960er schenkte und einen Stuhl weltberühmt machte: die „Profumo-Affäre“.

Man kann sagen, dass alles an einem schönen Sommertag begann, mit einer Bootsfahrt auf der Themse. „Mit mir im Motorboot“, schreibt Stephen Ward in seinen nachgelassenen Memoiren kokett, „waren eine berühmte Schauspielerin (die Hauptdarstellerin in The King and I - ich habe ihren Namen vergessen), Lord Astor, und die zweite Lady Astor ...“ Natürlich hatte er den Namen nicht vergessen. Stephen Ward war ein name dropper - also einer, der anderen nur zu gern erzählte, mit welchen Berühmtheiten er Umgang hatte. Die Schauspielerin war Valerie Hobson, die nach kurzer Hollywood-Karriere (Elizabeth in Bride of Frankenstein) in einigen der besten britischen Filme der 1940er mitgewirkt hatte (Great Expectations, Kind Hearts and Coronets) und 1953 als Hauptdarstellerin der Londoner Bühnenproduktion von Anna und der König von Siam gefeiert worden war. 1954 hatte sie John Profumo geheiratet und für ihn ihre Karriere aufgeben wie bald danach auch Grace Kelly für den Fürsten von Monaco (an eine Carla Bruni war damals, vor 50 Jahren, noch nicht zu denken).

Stephen Ward: Frauenversteher und Chiropraktiker der High Society

Bill Astor, der Bootsbesitzer, hatte seinen Titel genauso geerbt wie ein riesiges Vermögen. John Profumo, Valeries Gatte, entstammte dem nach England ausgewanderten Zweig eines uralten und sehr reichen italienischen Adelsgeschlechts mit eigenem Bankhaus, saß für die Konservativen im Parlament, wurde 1960 Kriegsminister im Kabinett von Harold Macmillan und galt als potentieller Nachfolger des Premierministers. Er gehörte zu mehreren Seilschaften, in denen sich die alten Herrschaftseliten die Hand reichten. So war er eines von nur 60 Mitgliedern des von Churchill gegründeten Other Club, der als der exklusivste Club der Welt galt. Als Kind hatte er die Eliteschule Harrow besucht. Macmillan, ebenfalls Mitglied im Other Club, war ein Absolvent von Eton und hatte die Tochter eines Herzogs geheiratet, was in einer Klassengesellschaft wie der britischen auch nicht schaden konnte. Und Stephen Ward? In seinem Lebenslauf stand ein Ort namens Cranford. Dort gab es eine jener Schulen, auf die Eltern ihre Söhne schickten, wenn sie etwas Geld hatten, sich Eton oder Harrow aber nicht leisten konnten. So einer durfte vielleicht eine Weile lang mit den Reichen und den Mächtigen im selben Boot sitzen, musste aber damit rechnen, als Erster über Bord zu gehen, wenn es stürmisch wurde.

Ward war Chiropraktiker von Beruf. Im Zweiten Weltkrieg in Indien stationiert, renkte er Mahatma Gandhi den Nacken ein und befreite ihn von seinen Kopfschmerzen. Das erzählte er später, in London, Winston Churchill, der sich ebenfalls von ihm behandeln ließ. Churchill empfahl ihn weiter. Ward erzählte jetzt von Gandhi und von Churchill. In keinem anderen Land werden Berufsgruppen so sehr mit einem Straßennamen identifiziert wie in Großbritannien: Filmproduzenten mit der Wardour Street, Presseleute mit der Fleet Street, Ärzte mit der Harley Street. Als Ward sich selbständig machte, konnte er sich die teure Harley Street nicht leisten. Deshalb eröffnete er eine Praxis am Cavendish Square. Das war gleich um die Ecke. Zur Einweihungsfeier kam auch Prinz Philip. Zu Wards Patienten gehörten Ava Gardner, Mel Ferrer und der Ex-König von Jugoslawien, aber auch die Showgirls der Vergnügungsetablissements in Soho und im West End. Berühmt waren seine Spontanbehandlungen. Er war deshalb ein gerngesehener Gast auf den Partys der High Society, die nach dem Krieg dabei war, sich neu zu formieren.

Stephen Ward

Ward hatte keine Berührungsängste, und es machte ihm Freude, in einem Land rigider Klassengegensätze mühelos von einer Schicht in die andere zu wechseln. Vor diesem Hintergrund sollte man wohl auch diejenigen seiner Aktivitäten sehen, die ihn später vor Gericht brachten. Bei ihm kamen häufig junge Frauen unter, die aus irgendeinem tristen Provinznest nach London geflohen waren. Ward gab ihnen ein Sprechtraining, brachte ihnen bei, sich zu bewegen wie ein Model und ließ sie täglich die Zeitung lesen, damit sie sich besser unterhalten konnten. „Er war“, sagt Christine Keeler über ihn, „wie Peter Pan im Never-Never-Land - natürlich mit dem Unterschied, dass er ein Magnet für von zuhause weggelaufene Mädchen war, nicht für weggelaufene Jungen.“ Die Presse erklärte ihn 1963, als man ihm den Prozess machte, zum modernen Pygmalion, oder sie nannte ihn, in Anlehnung an Shaws gleichnamiges Bühnenstück und das darauf basierende Musical My Fair Lady, „Professor Higgins“.

Wenn Ward den jungen Mädchen genug Stil antrainiert hatte, nahm er sie zu den Partys mit, zu denen er auch deshalb eingeladen war, weil er immer junge, gutaussehende Frauen mitbrachte. Und weil er immer öfter mit seinem Patienten Bill Astor unterwegs war (Astor hatte Rückenschmerzen, seit er bei der Fuchsjagd vom Pferd gefallen war), wurde er zu immer exklusiveren Partys eingeladen. So profitierten alle. Auch die Mädchen, fand Ward. Er unterstützte und beriet sie, führte sie in die Gesellschaft ein. Offenbar machte er es aus Hilfsbereitschaft, aus der Lust am Experiment, und um seine Stellung als Freund der Reichen und Mächtigen zu sichern. Finanzielle Vorteile zog er daraus nicht. Seine Praxis warf mehr ab, als er brauchte. Geld war ihm nicht wichtig.