"Hilfe, meine Tochter will in den Dschihad"

Kölns neuer Kripochef über geistige Brandstiftung, turboradikalisierte Mädchen und 170 tickende Zeitbomben in NRW

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Die islamistische Szene in NRW macht öfters von sich reden, Verfassungsschützer sprechen allein von 2.700 Salafisten in dem Bundesland ("Sie werden leiden, sie werden Blut weinen"). Hier gibt es auch schon seit einiger Zeit ein Aussteigerprogramm. Jetzt äußert sich Stephan Becker (55), neuer Chef der Kölner Kriminalpolizei, besorgt über das Gefährdungspotenzial in der Region.

Becker weiß, wovon er spricht: Er war Abteilungsleiter beim Landeskriminalamt in Düsseldorf (LKA), davor leitete er die Kriminalinspektion "Organisierte Kriminalität" bei der Polizei in Köln, er kennt das Land und die Region. Beim LKA führte er die Abteilung "Staatsschutz" und hatte es mit islamistischen Extremisten zu tun. Dass es in NRW noch zu keinem "vollendeten" Anschlag gekommen ist, bezeichnet er im Interview mit dem Kölner Stadt-Anzeiger ein Stück weit als "Glück".

"Ein abgestuftes, ganz perfides Verfahren" mit dem Ziel: Ab nach Syrien, um dort für den Dschihad zu kämpfen. Bild: IS

Foreign Fighters: Beim Anwerben hilft das Internet

Islamisten wie Ibrahim Abou-Nagie, der dadurch auffiel, dass er mit einer Koran-Verteilaktion in NRW Leute für den Dschihad rekrutieren wollte, nennt Becker "geistige Brandstifter". Sie präsentierten jungen Interessierten eine geistige Heimat, lieferten ihnen jedoch nur "einfache Wahrheiten". Becker nennt das "ein abgestuftes, ganz perfides Verfahren" mit dem Ziel: Ab nach Syrien, um dort für den Dschihad zu kämpfen. Beim Anwerben hilft das Internet.

"Foreign Fighters" nennen die Behörden deutsche Staatsangehörige, die zum islamistisch-dschihadistischen Personenspektrum zählen und aus Deutschland in die Krisenregionen ausreisen, um sich dort an Kampfhandlungen zu beteiligen. Als Rückkehrer sind sie dann oft besonders gefährlich, weil verroht und kampferprobt.

Zunehmend reisen aber auch junge Frauen aus. Die Mädchen, so Stephan Becker, werden "quasi turboradikalisiert: Heute shoppen sie noch Klamotten, morgen sind sie voll verschleiert." Unter den Geköderten seien längst nicht nur "Mädchen mit Migrationshintergrund", sondern auch "welche mit deutschem Pass". Becker weiß von entsetzten Eltern zu berichten, die um Hilfe suchen: "Meine Tochter will in den Dschihad ziehen -". "Und dann sind die Mädchen plötzlich verschwunden".

"Tickende Zeitbomben"

Im Vergleich mit anderen Bundesländern fällt die Szene in NRW besonders auf, hier haben Polizei und Verfassungsschutz mehr als 500 Personen näher im Blick, darunter etwa 170 sogenannte "Gefährder". Der neue Kölner Kripochef macht sich und uns keine Illusionen: "Viele sind tickende Zeitbomben. Sie haben keine Angst um ihr eigenes Leben. Das macht sie gefährlicher als andere Straftäter." Allein in Köln und Umgebung sind ein gutes Dutzend solcher Personen als Gefährder eingestuft.

Der Rat der Europäischen Union erklärte in einer Stellungnahme zu der Problematik vor Jahresfrist: "Die Bedrohung durch radikalisierte Europäer, von denen viele ins Ausland reisen, um zu kämpfen, wird in den kommenden Jahren voraussichtlich fortbestehen. Um diesem Problem wirksam begegnen zu können, sind eine umfassende Strategie und ein langfristiges Engagement erforderlich."!

Hoher Aufwand: Wie der Druck auf die Szene verstärkt wird

Polizei und Staatsschutz tun laut Becker viel, jedenfalls sei der Aufwand, die aufgezeigte Personengruppe unter Kontrolle zu halten, personalintensiv und koste Zeit und Mühe. Neben purem "Glück" habe der hohe auf die Szene ausgeübte Druck dazu beigetragen, bislang einen Anschlag zu verhüten. Teils sei man über Monate hinweg an Personen nah dran. Ein spezielles Dezernat beim LKA sei eigens für Observation zuständig. Becker: "So mühsam das auch ist - wir dürfen da nicht nachlassen. Das ist unsere einzige Chance."

Beim Kampf gegen Taschendiebe - auch hier gibt es ernste Probleme in NRW - sind die Zahlen wohl inzwischen drastisch gesunken. Insbesondere habe man die Szene der nordafrikanischen Taschendiebe rund um den Dom durch verstärkte Kontrollen aufgerieben, so die jüngsten Verlautbarungen aus Köln. Becker: "Aus Tätersicht ist seit der Silvesternacht ein Vakuum entstanden, aber andere werden versuchen, in diese Lücke zu stoßen. Das wissen wir, und darauf bereiten wir uns vor."