Hochmobiles Nichtverstehen

Ein Kongress der Bundesregierung erweist sich unverhofft als Testfall für zerstreute Öffentlichkeiten, die eigentlich Thema sein sollten

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Was tut eine Firma, die mit der Auswahl, Herstellung und Präsentation ihrer Produkte an sich zwar zufrieden ist, ihre Kunden damit aber nicht mehr erreicht?

Richtig geraten! Sie ruft ihre Public Relation Abteilung zum Rapport und sucht dort um Rat nach, wie möglichst schnell dieses Vermittlungs- und Absatzproblem behoben werden kann. Üblicherweise machen das in der modernen Gesellschaft Personen, Agenten und Agenturen des Marketing, die vorgeben zu wissen, wie man die Marke verbessern, Abnehmer ansprechen und die gestörte Kommunikation wiederherstellen kann.

So empfand und so einfach dachte sich das wohl auch die Deutsche Bundesregierung, genauer: ihr Presse- und Informationsamt, weswegen man sich kurzerhand mit der Humboldt Universität zusammentat und flugs einen Kongress über Zerstreute Öffentlichkeiten veranstaltete.

Drei Tage lang sollte in Berlin eine halbe Hundertschaft von Wissenschaftlern, Politikern und Medienmachern der Politik Wege aus ihrem Darstellungs- und Vermittlungsproblem zeigen. Von diesem geballten Sachverstand hoffte die Öffentlichkeits- und Marketingabteilung der Bundesregierung endlich zu erfahren, wo ihre "Kunden" sich hin verzogen haben, was es denn nun mit den Neuen Medientechnologien auf sich habe und wie den von ihnen neu angeschriebenen Kommunikationsbedingungen zu begegnen sei.

Das Erheben von Meinungen und Trends, die Analyse und Bewertung von Statistiken, Kurven und Diagrammen genügen der Politik offensichtlich nicht mehr. Politbarometer, Frau Noelle-Neumann und monatliche Umfragen mal zu diesem und jenem Thema können der Politik zwar signalisieren, dass und wie die Bürger auf bestimmte Politiken, Debatten und Meinungen von Politikern reagieren. Sie vermögen ihr aber nicht zu sagen, wie beispielsweise Medienformen und Öffentlichkeiten ineinander wirken, wie die Evolution der neuen Medien die politische Kommunikation und das Interface der Gesellschaft verändern oder wie Regierung, Parteien und andere Agenten der Politik auf diesen neuerlichen Strukturwandel der Öffentlichkeit reagieren können oder müssen.

Dafür braucht es sicherlich mehr als bloße Erbsenzählerei, augenscheinlich das Know How, die Sachkompetenz und die Einsichten einer soziologischen Reflexionsartistik, die der Politik irgendwie das Gefühl wiedergibt, sich im Meer der Ungewissheiten und Unwägbarkeiten, im Mehr der sozialen Milieus, der Chatrooms, Mailinglists und anderer öffentlicher Ausdrucksformen nicht zu verlieren.

Bei ihrer Suche nach Orientierung und künftigen Sinnhorizonten scheint man in den Feuilletons der großen deutschen Zeitungen fündig geworden zu sein. Dort hat sich in den letzten Jahren ein Paradigmenwechsel vollzogen. Schleichend zwar und langsam, aber immerhin. Eine neue Medien- und Öffentlichkeitstheorie hat dort Einzug gehalten, eine spezifisch deutsche Medienwissenschaft, Soziologie und Philosophie, die so gar nichts mehr mit kritischer Kritik und Frankfurter Schwarzmalerei, mit Habermas, disputierenden Bürgern und dem Modell räsonierender Öffentlichkeiten am Hut hat und sich eher mit den Effekten technischer Apparaturen und ihrer Oberflächen auseinandersetzt als mit den Wünschen, Erwartungen und humanistischen Werten aufrechter Bürger. Die Pressefritzen von Ministerien, Politikern und Parteivorständen scheinen irgendwie davon gehört, gesehen und gelesen zu haben. Nur so wird überhaupt erklärbar, warum man seitens des Presse- und Informationsamtes versucht hat, vor allem Vertreter dieses Genres nach Berlin zu locken, um dort mit ihnen und einigen Würdenträgern des alten Paradigmas das Problem einer Fragmentierung der Öffentlichkeit in viele unterschiedliche Teilöffentlichkeiten zu erörtern.

Zerstreute Meinungen und Diskussionen angesichts einer nicht geladenen Öffentlichkeit

Um es gleich vorwegzunehmen: So redlich dieser Versuch der Politik auch ist, die Vermittlung und den Verkauf kluger Politik durch den Einkauf von philosophischem Sachverstand und medialer Kompetenz zu verbessern, so abwegig erwies sich dieser Gedanke in der Praxis. Noch selten ist es einem Kongress gelungen, sein Thema so gezielt und treffend zu persiflieren, zu kommentieren und zu parodieren wie diesem. Zweieinhalb Tage lang gelang es nämlich, über "Zerstreuung" zu reden, indem man sich selbst in Meinungen und Äußerungen, Themen und Gegenstände zerstreute. Und noch selten haben Referenten und Diskutanten, Zuhörer und Moderatoren so heftig und viel miteinander geredet - aber aneinander vorbei. Gadamer hätte mit Sicherheit keine Freude daran gehabt. Spätestens nach der ersten Runde hätte er ratlos und kopfschüttelnd den Saal verlassen.

So gesehen wurde der Kongress, unerwartet, selbst zum Testfall für die Behauptung, öffentliche Diskurse zerfielen aufgrund der Pluralität der Medien und Kommunikationsweisen in diverse, nicht mehr gegenseitig zu vermittelnde Fachsprachen. Das fing schon damit an, dass die Veranstalter die "Kunden" der Politik, die Bevölkerung nämlich, gar nicht erst dabei haben wollten. Einladungen wurden von den Veranstaltern ganz gezielt verschickt, an Intellektuelle, Institutsleiter und Medienvertreter. Man wollte offenbar unter sich bleiben, ein Elitetreffen veranstalten. Den Außenkontakt sollte der Regierungskanal Phoenix herstellen, der dann aber plötzlich keine Lust mehr an einer Direktübertragung des Treffens zeigte.

Das ging weiter damit, dass zwar über 450 VIPs aus Politik, Wissenschaft und Medien ihr Erscheinen angekündigt hatten, aber nur ungefähr ein Viertel davon dann auch tatsächlich Interesse an dieser Veranstaltung zeigten. Vermutlich hatte die erste Ankündigung, Habermas und Sloterdijk, Glotz und Beck, Kluge und Bolz auftreten zu lassen mehr Euphorie ausgelöst und Zusagen eingebracht als es dann tatsächlich waren, nachdem bekannt wurde, dass diese den Veranstaltern einen Korb gegeben hatten und man sich mit der denkerischen Nachhut zufrieden geben musste. Und das fand schließlich dadurch seinen Abschluss, dass Politiker der staatstragenden Parteien und führende Vertreter aus Print und TV offensichtlich gar kein Interesse an einer eingehenden Diskussion und näheren Klärung dieser Lage hatten.

Zum anderen zeigten sie sich aber auch nicht mit der Materie vertraut. Mal artikulierten sie ihr bloßes Unbehagen an Vorträgen oder brüsteten sich ihres medialen Nichtwissens wie Guido Westerwelle oder Kulturminister Michael Naumann, der im Übrigen nicht nur mit wüsten Schimpftiraden gegenüber einigen Referenten unangenehm auffiel, sondern die Zuhörer obendrein auch noch mit der Weisheit überraschte, dass er eine halbe Stunde brauche, bis er ins Netz käme. Oder es wurde auf Seiten der Medienpraktiker gemauert, was das Zeug hielt. Wie in den Zeitungs-, Fernseh- und Radioredaktionen Themen, Ereignisse oder Events fabriziert, wie Stimmungen für oder gegen etwas oder jemanden erzeugt und Meinungen, Kritiken und Kommentare lanciert werden, von diesen Kämpfen in den Redaktionsteams erfuhr der Zuhörer gar nichts.

Für Politik steht immer noch das Fernsehen im Zentrum

Dafür präsentierten sich Medienmacher wie etwa der Staatssekretär Uwe-Karsten Heye oder der ARD-Fernsehmann Jürgen Engert öffentlich als aufrechte Bürger, die in ihrer journalistischen Arbeit sich immer schon den Werten der Aufklärung, der Wahrheit und des Humanismus verpflichtet fühlten. Wer hätte daran auch zweifeln wollen. Unaufrichtigkeit - welch altmodisches Wort in mediatisierten Welten - , mangelnde Neugierde und Unwilligkeit gegenüber dem Neuen und Unbekannten prägten deshalb weitgehend die Debatten und Diskussionen, die sich zu großen Teilen auf dem Niveau von Talkshows vom Format "Sabine Christiansen" bewegten. Und damit schien so mancher Politiker die Veranstaltung auch verwechselt zu haben.

Daher war es schon erschreckend zu sehen, wie überrascht, aber auch naiv und uninformiert ein großer Teil der Politikergilde den veränderten Medienrealitäten gegenübertritt. Ihr Wahrnehmungshorizont und Wissensstand beschränkt sich allerhöchstens auf die Ebene "Fernsehen". Für dieses Medium zeigen sie Interesse, darin kennen sie sich einigermaßen aus. Immerhin wissen sie, was man tun muss, um dort gut rüberzukommen; sie wissen, wie man gestikulieren und rhetorisch glänzen muss, ohne etwas zu sagen; und sie wissen inzwischen, welche Kameraeinstellung sie vorm Screen vorteilhaft erscheinen lässt oder welche Parteitagsregie bewirkt, dass draußen vor den Screens der Eindruck einer Partei einig Vaterland entsteht. Von den verschlungen Weiten und Tiefen des Webs, den Möglichkeiten, Bedingungen und Grenzen der Netzkommunikation haben sie, so mein Eindruck, allenfalls nur so viel Ahnung, als sie wissen, dass es sich heutzutage ziemt, eine Homepage, eine www.Adresse zu haben oder ein .de am Schluss eines Events, einer Veranstaltung oder einer Performance zu hinterlassen.

Dennoch war die Veranstaltung, was immer die Kritik auch an ihr bemängeln mag, alles andere als ein Unglück. Wann gab es schon mal die Gelegenheit, den einen oder anderen kleinen Kaiser nackt und das auf offener Bühne zu erleben? Für Politiker, die es gewohnt sind, von Termin zu Termin zu hetzen, mal da mal dort ein Statement abzugeben, ohne recht zu wissen worüber, macht es eben keinen wirklichen Unterschied, auf welcher Bühne sie agieren oder in welches Spiel sie sich verirrt haben. Performance und Selbstdarstellung sind überall; und informiertes und rhetorisches Nichtwissen wird ständig nachgefragt.

Den Vogel diesbezüglich schoss mit Sicherheit Heiner Geißler, der Harald Juhnke der CDU, ab. Während die Vorzeigelinke der SPD, Andrea Nahles, die Parteiausschusssitzung über die bevorstehende Osterweiterung der EU auf das Podium ausdehnte, wusste das wandelnde Talkshowdenkmal zwar charmant über Gott und die Welt zu parlieren, aber nicht, worum es auf dieser Tagung eigentlich ging. Nachdem er ein paar Anekdoten zu Helmut Kohl von sich gegeben, seine kämpferische Konkurrentin mit Nachsicht getadelt und die "zerstreuten Öffentlichkeiten" urplötzlich zu "zerstörten" befördert hatte, verließ er die Diskussionsrunde vorzeitig, wortreich gestikulierend und winkend mit der Begründung, er habe nun noch einen anderen Termin zu erfüllen.

Und so schleppte sich das Ganze immer weiter, von Runde zu Runde, von Diskussion zu Diskussion, von Kaffeepause zu Kaffeepause, ohne dass am Ende weder der Moderator, noch die vorbeischauenden Diskutanten aus Politik oder Medien oder die mal kommenden und mal gehenden Referenten wussten, worüber eigentlich parliert wurde oder sie parlieren sollten.

Soll Gerhard Schröder zu Stefan Raab in die Sendung?

Dabei war der Kongress vom Veranstalter an sich recht gut vorbereitet worden. Sowohl inhaltlich als auch personell. Sieht man mal davon ab, dass das Thema "zerstreute Öffentlichkeiten" anno 2000 doch ziemlich altväterlich daherkam. Als ob es eine ausgiebige Diskussion nicht schon seit mindestens zehn Jahren darüber gibt. In sieben Runden wollte man sich der Thematik annähern. Man wollte sich über die Selektionsweisen der Medien austauschen und die Politik des Fernsehens untersuchen; man wollte über die Sprachferne der Hardcore-Wissenschaften diskutieren und den Formeln der Medienkritik zu Leibe rücken; und man wollte erfahren, was sich im Internet tut, das heißt: wie die Rechte der Bürger und Kunden, die öffentlichen und privaten Räume vor ihrer Kommerzialisierung durch Firmen und dem Zugriff durch diverse Cyberlords geschützt werden können und wie wohl die Zukunft der Demokratie unter digitalen Bedingungen ausschauen würde und sich gestalten könnte. Alles in allem hochaktuelle Themen.

Zugegeben, die Referenten mühten sich, bis auf wenige Ausnahmen, auch redlich, den vorgegebenen Themen etwas abzuringen. Die Produktpalette umfasste tatsächlich alles, was der Mediendiskurs derzeit aufzubieten vermag. Luhmann war da, Carl Schmitt auch und ebenso die Kittler-Schule. Von Engeln und medialen Apokalypsen, von Weltstaatfantasien und der Rolle der NGOs war die Rede, und über die neuesten Hypes "koscherer" Netzgemeinschaften, über Lifestyle und Moral in der Spaßgesellschaft und Containerkultur à la Big Brother wurde ausgiebig berichtet.

Doch damit fanden die Referenten kaum Ansprechpartner. Zu heterogen und gegensätzlich waren die Auffassungen und Meinungen, auch unter den geladenen Referenten. Stattdessen erörterte man durchaus ernsthaft und nicht nur spaßeshalber die Frage, ob Gerhard Schröder nun wirklich zu Stefan Raab in die Sendung gehen und sich dort eine Flasche Bier genehmigen sollte; oder die schärfere Variante, ob er nicht lieber zu den freiwillig Eingeschlossenen nach Köln fahren, um vor Ort zusammen mit den Bewohnern über die Auswirkungen der Ökosteuer diskutieren sollte. Auch wenn Heye solche Ansinnen brüsk von sich wies, gewann man insgesamt doch den Eindruck, dass dies alles nur eine Frage der Zeit und der Entwicklung einer nächsten Generation sein würde, bis die Politiker auch noch über diese Hürde springen werden.

Ein Fehler der Veranstalter war es gewiss, nur Theoretiker und keine Medienpraktiker zum Vortrag zu laden. Die Frage wäre aber gewesen, ob ein verantwortlicher Redakteur und Medienmacher wirklich die Chuzpe gehabt hätte, Klartext zu sprechen wie kürzlich der ZDF-Nachrichten-Ancorman Niemetz in einem Interview für die Wochenzeitung Die Zeit das gemacht hatte, als er seinem Heimatsender Verflachung und Boulevardisierung von Nachrichten attestierte. Tenor: "Mainz wie es sinkt und lacht." Immerhin wären aber genügend Leute anwesend gewesen, die den Zuhörern einen Blick hinter die Oberflächen und Kulissen der Prints und Screens hätten bieten können. Andererseits hätten die Referenten sich aber auch mehr bemühen können, sich aus den luftigen Höhen ihrer Hochleistungssemantik herabzubegeben und es Politikern wie Praktikern leichter zu machen, dem zu folgen, was sie zum Thema zu sagen hatten.

Auftrag erfüllt: Öffentlichkeit tot

Misst man die Veranstaltung an dem, wie sie subventioniert worden ist, nämlich an der Viertelmillion Deutschmark, die von der Deutschen Telekom, der Volkswagen AG und der Bundesregierung aufgebracht wurde, um Wissenschaftler, Medienleute und Politiker zufrieden zu stellen, dann war das Ergebnis nicht bloß mager, sondern das Thema dieser Tagung verschenkt und in den Sand gesetzt.

Misst man sie hingegen an den Aussagen des Soziologen Niklas Luhmann, dann kam man sagen: Auftrag erfüllt, das Modell einer sich über die öffentlichen Angelegenheiten selbstverständigende Öffentlichkeit ist tot. Noch niemals zuvor wurde sein Bild einer funktionell ausdifferenzierten Gesellschaft, deren soziale Teilsysteme wie Inseln auf einem unbefahrenem Meer schwimmen und immer weiter auseinanderdriften, auf einer Tagung so konkret wie in Berlin. Luhmanns World at its best möchte man dem Veranstalter zurufen, die er da unbeabsichtigt kreiert hatte. Allein darüber wird er sich aber kaum freuen.

Immerhin schienen wenigstens die hübschen Empfangsdamen einer Berliner Eventfirma vom hochmobilen Nichtverstehen der Tagungsteilnehmer nichts zu spüren. Immer freundlich lächelnd folgten sie stoisch dem ständigen Kommen und Gehen der VIPs. Wer sich mit den Referaten und Diskussionen nicht anfreunden wollte oder sich über das fortgesetzte Palaver auf dem Podium innerlich erregte, der konnte sich zumindest am Aussehen dieser äußerst korrekt gekleideten Hostessen erfreuen oder ihnen zuzwinkern. Da ist Herrn Burkhard Müller-Ullrich, dem Kommentator der Tageszeitung Die Welt sicherlich zuzustimmen.