ISIS Files: Wenn Journalisten "plündern"

Zerstörungen im Krieg gegen den IS in Mosul, 2017. Foto: Tasnim News/ CC BY-SA 4.0

Dürfen sich Journalisten in Kriegsländern der sogenannten Dritten Welt beliebig jedweden Materials bedienen?

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Im vergangenen Monat veröffentlichte die New York Times in sensationeller Manier die sogenannten "ISIS Files" über die inneren Strukturen des IS in Irak und in Syrien. Der behandelte Datensatz besteht aus mehr als 15.000 Seiten von internen Dokumenten, die dem IS zugeordnet werden.

Viele dieser Dokumente sind Geburtsurkunden, Gerichtsentscheidungen, Vermerke bezüglich Landdispute und allerlei Ähnliches, das den bürokratischen Alltag im Schatten der Schreckensherrschaft verdeutlichen soll. Dass diese Dokumente es in die Büroräume der Times nach New York geschafft haben, hat sich nun allerdings zu einer Kontroverse entwickelt.

Alles mitgenommen

Rukmini Callimachi, die verantwortliche Journalistin, die die ganze Geschichte in Gang gebracht hat, tat nämlich folgendes: Sie reiste innerhalb eines Jahres mehrmals in den Irak und begab sich in jene Gebiete, in denen zum damaligen Zeitpunkt Kämpfe gegen den IS stattfanden.

Kurz nachdem irakische Sicherheitskräfte Infrastrukturen unter ihre Kontrolle brachten und IS-Kämpfer eliminierten, ging Callimachi, ausgerüstet mit mehreren Müllsäcken, in die betroffenen Gebäude und nahm alles mit, was sie in die Hände bekam - hauptsächlich Dokumente und Festplatten.

All dies wurde in die USA gebracht und gemeinsam mit weiteren Journalisten und Übersetzern ausgewertet. Sowohl Callimachi als auch die New York Times rühmten sich nach der Veröffentlichung der "ISIS Files" und erfuhren weitreichende mediale Beachtung. Die Journalistin gilt seit jeher als ausgewiesene IS-Expertin und betreibt einen vor Kurzem gestarteten Podcast namens Caliphate, der sich weiterhin auf die Dokumente fokussiert.

"Plünderung!"

Obwohl Callimachi für ihre Arbeit in vielerlei Hinsicht zelebriert wird, gibt es auch Kritik, zum Teil sogar sehr heftige. Der irakische Literat Sinan Antoon wirft der Journalistin die Plünderung irakischen Gutes vor. Denn obwohl die ergatterten Dokumente dem IS zuzuordnen sind, ändert dies laut Antoon nichts an der Tatsache, dass sie den Irakern zustehen und dementsprechend aufgearbeitet werden müssen.

"Die Dokumente sind essentiell für die Geschichte des Landes und seiner Zukunft, und sie gehören den Irakern", schreibt Antoon in einem Meinungsbeitrag. Außerdem betont er, dass die Entnahme der Dokumente nicht mit dem Völkerrecht vereinbar sei.

Die Erbeutung von Kulturgütern, auf die Antoon ebenfalls anspielt, hat in den letzten Jahrhunderten zahlreich stattgefunden. Es ist kein Geheimnis, dass zahlreiche Schätze aus Südamerika, Afrika und Asien weiterhin in vielen westlichen Museen ausgestellt sind, obwohl sie von Kolonialisten gestohlen und erbeutet wurden.

Der Irak hat diese Erfahrung erst vor wenigen Jahren abermals gemacht, als die US-geführte Invasion im Jahr 2003 stattfand. Viele Kulturgüter gingen damals verloren - vor den Augen der amerikanischen Besatzer. Die USA selbst beschlagnahmten Millionen von Dokumente und verschifften sie in heimische Archive.

Sinan Antoon ist allerdings nicht der einzige Kritiker der New York Times. Mittlerweile hat auch die investigative Medienplattform The Intercept einen ausführlichen Beitrag veröffentlicht, in dem sie sich der Sache widmet.

In dem Beitrag wird unter anderem betont, dass in den letzten Jahren immer wieder Dokumente des IS von Journalisten und Analysten ausgewertet wurden. Callimachi ist allerdings die erste Journalistin, die einen derartig großen Datensatz einfach entnommen und außer Landes gebracht hat.

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