Im Lichte des Verborgenen

Ein- und Mehrfamilienhäuser der Münchner Peripherie. Bild: TP

Urbanes Wohnen: Widersprüche, vermeintliche Patentrezepte und reale Erfordernisse

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Ludwig Wittgenstein hat einmal postuliert: "Sie glauben, die Philosophie sei ein schwieriges Geschäft, aber ich kann Ihnen sagen: Verglichen mit den Schwierigkeiten, die in der Architektur stecken, ist das gar nichts." Der Mann hat gewusst, wovon er sprach, schließlich war er irgendwie beides - Philosoph und Architekt. Das mit dem Bauen - in seinem Verhältnis zur Umwelt - ist tatsächlich so einfach nicht. Insbesondere das urbane Wohnen erweist sich als höchst komplizierte Angelegenheit mit unübersehbaren Wechselwirkungen. Es gibt diesbezüglich nicht nur "eine" Sichtweise und nicht nur "eine" richtige Entwicklung. Nicht alles, was möglich ist, ist auch realistisch. Nicht alles, was man wahrnimmt, ist unhinterfragbar. Und nicht alles was machbar ist, ist auch wünschenswert.

Wenn heute vielerorts die Renaissance des innerstädtischen Wohnens beschworen wird, dann offenbart sich darin ebenfalls ein gewisser Zwiespalt. Einerseits lässt sich tatsächlich ein zahlenmäßiger Anstieg der Bevölkerung in einer Reihe deutscher Großstädte belegen. Andererseits ist die Formel von der neuen Attraktivität der Städte vorerst bloß eine Hypothese.

Erst aus der längerfristigen Analyse werden vollständige Bewertungen möglich. So konnten die deutschen Großstädte, vermeintlich Träger der Reurbanisierung, unlängst erst ihre Verluste an Bevölkerung und Beschäftigung ausgleichen, die sie seit 1980 erfahren haben. Trendwende ist etwas anderes. Die räumliche Ausdehnung der Kernstädte erweist sich als ein die Stadtentwicklung in Deutschland seit Jahrzehnten dominierender Trend, der auch in der jüngeren Vergangenheit ungebrochen anhält. Hingegen stellen die publizistisch gefeierten Stadtrückkehrer - einkommensstärkere Haushalte mit der Bereitschaft zur Eigentumsbildung - nach wie vor keine feste statistische Größe dar.

Eine Renaissance des innerstädtischen Wohnens auf breiter Front zu sehen, wäre wohl verfrüht. Zutreffender könnte man davon sprechen, dass der Trend zur Suburbanisierung schwächer geworden ist. Auch die räumlich differenzierte Betrachtung zeigt, dass eine neue Konjunktur des Stadtwohnens sich bislang nur an ausgewiesenen Orten zeigt. Insbesondere die Universitätsstädte und Städte in erfolgreichen Wirtschaftsregionen weisen ein deutliches Bevölkerungswachstum auf, vor allem bei der jungen Bevölkerung, die einen Wohnstandort nach ihrer jeweiligen Ausbildungsperspektive wählt. Aber auch eine Rückkehr mancher Suburbaniten in die Städte und eine mit der zunehmenden "Überalterung" der Wohnungsnachfrager verbundene Stadtaffinität von Senioren lässt sich ausmachen. In schwächer strukturierten Räumen hingegen erreichen die Leerstandsquoten in den Zentren inzwischen Werte weit über dem städtischen Durchschnitt. Und nach wie vor gibt es eine erhebliche Randwanderung von jungen Familien aus Städten ins Umland.

Also statistisch gesehen ein recht indifferentes Bild. Insofern schweben wir in der Gefahr, dass die Wahrnehmung von einer "Renaissance der Städte" - oder wahlweise: von der Rückbesinnung auf urbane Lebensformen und -räume - lediglich eine konstruierte ist. Ideologiekritisch wäre danach zu fragen, wie sich matter and meaning zueinander verhalten, also der Gegenstand der Stadtentwicklung an sich und die ihm zugewiesene (Be-)Deutung im Kontext übergreifender Interpretationen. Dem nachzugehen würde hier indes zu weit führen. Freilich ist man gut beraten, aus einigen Trends und empirischen Belegen kein wishfull thinking zu machen. Zumal es eine weitere Besonderheit gibt, die einen verunsichern könnte: In Deutschland haben wir eine ganze Reihe von Großstädten, deren Wohnungsbestände weit überwiegend aus Ein- und Zweifamilienhäusern bestehen - beispielsweise in Ingolstadt zu 83,3%, in Aachen zu 65,9% oder in Bonn zu 68,1%. Die geringe Verdichtung mag zwar häufig eine Folge von Eingemeindungen sein. Dennoch aber wirft dies die Frage auf, warum Menschen in der Stadt leben (wollen) und zugleich eine Kopie des "Ländlichen" bevorzugen: Was bedeuten eigentlich Urbanität und "städtisches Leben" unter solchen Bedingungen?

Wie auch immer: Die meisten Menschen sind auf der Suche nach bestimmten Lebensqualitäten - Wohnraumgröße, unmittelbarer Gartenbezug, Spielmöglichkeiten in "sicherer Nähe" usw. -, und sie richten ihr Verhalten nicht zuletzt danach, wo sie dieses Angebot - mit für sie tragbaren Konditionen - bekommen. Die meisten Wohnungssuchenden müssen sich in der Regel den Verhältnissen anpassen und in teureren Städten entweder ihre Ansprüche an den Wohnraum (Größe, Lage, Qualität) herunterschrauben oder eine höhere Mietbelastungsquote in Kauf nehmen. Oder nach draußen ziehen.

Der Markt folgt der ökonomischen Verdichtungslogik nicht

In diesem Zusammenhang wird nun - landauf, landab - die Forderung nach höherer Dichte laut; vor allem aus die Fachwelt der Architekten und Planer, der Wohnungswirtschaft usw. Allerdings ist Dichte ein relativer, zudem nicht unproblematischer Parameter. Zwar ist dieser Begriff im Städtebau seit jeher von zentraler Bedeutung. Aber über viele Jahrzehnte hinweg war der Begriff eher von einer Negativsicht geprägt. Beispielsweise wurden in Deutschland im Baugesetzbuch und der Baunutzungsverordnung (die entscheidenden stadtplanerischen Grundlagen) keineswegs Mindestdichten zum Erreichen von gesellschaftlichem Fortschritt etabliert, sondern Höchstwerte, die der Allgemeinheit gesundheitliches Wohl (Licht! Luft! Sonne!) garantieren und dem architektonischen Wildwuchs etwa des sprichwörtlichen Manchester-Kapitalismus vorbauen sollten. Diese Ambivalenz wurde auch nicht überwunden, als man in den 1970er Jahren das Leitbild "Urbanität durch Dichte" formulierte. Das war lediglich ein metaphorischen Höhepunkt in der Diskursgeschichte, während planungsrechtlich relativ niedrige Dichtewerten zementiert blieben.

Erwähnenswert ist zudem, dass in nicht wenigen Fachdisziplinen die Dichteforschung irgendwann zum Ergebnis geführt hat, nicht weiter über "Dichte" zu forschen. Dies kann in der Bevölkerungslehre Anfang der 1950er Jahre, in der Stadtsoziologie in den 1970er, später auch in der Geographie nachgewiesen werden. Demgegenüber ist die Dichte im Städtebau zu einem "magischen Begriff" (Häußermann 2007) geworden - vermutlich nicht zuletzt deshalb, weil sie ganz in der Nähe des Diskurses über die "europäische Stadt" wie auch zur Forderung nach einer "Stadt der kurzen Wege" angesiedelt ist.

Doch nach Jahrzehnten einer eher kommerziellen Stadtproduktion zeigt sich, dass der Markt die ökonomische Verdichtungslogik offenkundig nicht mitträgt. Wie der österreichische Stadtforscher Johannes Fiedler einmal ausgeführt hat: Nachgefragt werden bestimmte Bautypologien (der Büroturm, der Office-Park, das Einfamilienhaus, der Golfklub) und diese haben ihre spezifischen Dichten. Wenn ein Developer ein verdichtetes Einfamilienhaus, einen verdichteten Golfplatz oder ein verdünntes Urban Entertainment Center baut, wird er Schwierigkeiten bei der Vermarktung haben. Dichte ist also zuerst einmal eine Frage der Typologie. In der Debatte geht es freilich weniger um die tatsächlich produzierte Dichte in den Städten selbst als vielmehr um den appellativen Gebrauch eines Schlagwortes. Das rechte Maß ist bislang nicht in Sicht, auch wenn sich Dichtewerte, Dichtemodelle und Dichteberechnungen wieder einmal eine gewisse Konjunktur erfreuen.

Verdichtung in München-Neuperlach. Bild: TP

Möglicherweise helfen letztlich weder die Beschwörung "urbaner Lebensform" noch die Forderung nach "Dichte" weiter. Wenn städtische Vielfalt und Lebendigkeit befördert werden sollen, dann braucht es an erster Stelle eine gewisse Kleinteiligkeit. Genau die aber spielt in den Strategien der Immobilienwirtschaft keine oder doch nur eine geringe Rolle. Mehr noch: Kleinteiligkeit wird von Investoren zumeist als kontraproduktiv wahrgenommen. Und dieser Trend ist nur schwer zu durchbrechen. Betriebswirtschaftlich handelt es sich um die Nutzung positiver Skaleneffekte, um Strategien der Kostenminderung, die bei der Projektierung größerer Gebäudekomplexe zu erzielen sind. Diese Mechanismen bilden sich in der Struktur und im Bild der Städte ab.

Das Problem liegt in der "Anlage" - jenem baulichen Format, das Gebäude, Freiraum und Erschließung gleichsam zu einer Betriebseinheit zusammenfasst. Hier blühen Monokulturen aller Art, hier wird Homogenität zur Beschränkung. Kleinteilig strukturierte Gebiete hingegen, von öffentlichen Räumen durchzogen, sind im Unterschied dazu entwicklungsfähig. In einer Stadt, die über eine feine Körnung und ein feinmaschiges öffentliches Wegenetz verfügt, ist für ständige Veränderung gesorgt: Es entstehen kulturelle und ökonomische Konzentrationen aller Art; sie wandern, verändern sich und verschwinden, während an einem anderen Ort etwas auftaucht, von dem wir noch gar nicht wissen konnten.

Das Urbane ist nicht immer das Besondere. Eher im Gegenteil. Das Bedürfnis nach Identifikation und Bewahrung artikuliert sich auch in unspektakulären Alltagssituationen - etwa jener älteren Dame, die die Baumscheibe vor ihrem Mietshaus wöchentlich zweimal wässert. Solche Identifikationen eröffnen die Chance, die Städte, die mitunter zweckentfremdet und entsprechend heruntergekommen sind, im besten Sinne des Wortes zu revitalisieren: nicht als touristische Imitationen ihrer selbst, nicht als Verwertungsmaschinerie des Immobilienkapitals, sondern als adäquat ausgestattete Wohnorte und anziehender Brennpunkte städtischen Lebens.