Im Reverse-Modus durch die Weltgeschichte

Was der Untergang des Abendlandes, ein Sack Reis in China und die geopolitische Ästhetik miteinander zu tun haben - zur Renaissance der Geopolitik in den Kulturwissenschaften

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Deutsche Superhelden mit Superwaffen, größenwahnsinnige Wissenschaftler, Marsmenschen, die sich mit Asiaten verbünden, koloniale Aufstände, Städte unter Wasser, riesige Weltverschwörungen und apokalyptische Szenarien - "Geopolitical Fiction" nennt man jene populäre Literatur, in der schon kurz nach 1900 Science Fiction, Abenteuerroman, und die damalige Modewissenschaft der Geopolitik miteinander verschmelzen. Jetzt wird dieses vergessene Genre durch ein Berliner Forschungsprojekt wiederentdeckt. Die Gedanken dieser Trivialromane sind oft eng, die Räume sind dafür überaus weit: Deutsch denken heißt groß denken in diesen Büchern, die spätestens nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg seit 1918 zumeist der radikalen völkischen Rechten zuzuordnen sind. Alles ist möglich in diesen wild spekulierenden Werken, Hauptsache es geht gegen die siegreichen Alliierten. Auf fiktionaler Ebene wird hier eine zweite Politik - neben der realen - installiert, und der Weltkrieg rückwirkend gewonnen. Ab Mitte der 30er Jahre lässt der Boom nach - aus den Raum-Phantasien der "Zukunftsromane" wird im Zuge der NS-Pläne zu einer Neuordnung und Kolonisierung Osteuropas, ja Amerikas ein Sachbuchthema.

Frankreich 2033. Professor Jules Perossier und sein deutscher Mitarbeiter Georg Mundele entdecken gemeinsam, dass der Asteroid "AC 2033 Eugénie" im Begriff ist, in die Umlaufbahn der Erde einzutreten. In genau 46 Tagen wird er in Frankreich einschlagen, und eine schreckliche Katastrophe herbeiführen. Die einzige Rettung: Ein "Lichtdruckflugzeug", das der deutsche Ingenieur und Freund von Mundele, Uwe Tönnies aber überhaupt erst noch konstruieren muss. Nach einigen Verwicklungen durch die Eifersucht Perossiers treffen die drei und ein Freund Mundeles namens Forest de la Fourcade in der ostpreußischen Forschungsstelle Neutief ein, wo Tönnies unter größten Sicherheitsvorkehrungen arbeitet. Inzwischen dringen Nachrichten über die drohende Gefahr an die Öffentlichkeit. Um einen Zusammenbruch der Ordnung zu vermeiden, wird in Frankreich die Meldung gestreut, der Asteroid sei nur eine Erfindung, während gleichzeitig die Evakuierung der Regierung vorbereitet wird. Ein Testflug des "Lichtdruckflugzeugs" ergibt, dass die nervenaufreibende Tätigkeit im Weltall offenbar nur unter Drogen durchgehalten werden kann, sodass unsere Helden einen weiteren, nun überaus fröhlichen Testflug unter Meskalineinfluss absolvieren. Während den Franzosen weiterhin von ihrer Obrigkeit die Wahrheit verschwiegen wird, rüstet England zu einer Militäraktion, um zu verhindern, dass der Asteroid auf britisches Territorium gelenkt wird. Der sympathische englische Kommandant, ein Freund Tönnies', verhindert jedoch durch seine Bauernschläue den sofortigen Angriff. Während die unruhige französische Bevölkerung von Schwarzen aus dem Senegal in Schach gehalten wird, gelingt unseren Helden die Ablenkung des Asteroiden auf Grönland. Als alle gemeinsam dessen Absturz dort beobachten, stirbt Perossier; sein Körper wird von der englischen Flotte nach Frankreich überführt und dort prunkvoll bestattet.

"Gefahr aus dem Weltall" heißt dieser etwas wirre, aber actionreiche Roman von Rudolf Daumann, erschienen noch 1939, wenige Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Das Buch ist eines der letzten Beispiele für ein vergessenes Genre der deutschen Literatur, die "Geopolitical Fiction". Zwei junge Kulturwissenschaftler der Berliner Humboldt-Universität entdecken es nun mit einem selbstkonzipierten Forschungsprojekt neu. Auf einer eigenen Internetseite stellen die Initiatoren Patrick Ramponi und Andy Hahnemann erste Forschungsergebnisse vor. Weiteres Material und ein Sammelband in Buchform folgen demnächst. "Geopolitical Fiction" ist eine eigene Begriffsbildung der Forscher:

Unser Anliegen war es, eine Definition zu finden, die zwischen den Begriffsbildungen der Germanisten liegt. Ausgehend vom Thema des Raumes, der Geopolitik und der globalen Szenarien haben wir uns diesen Begriff der 'Geopolitical Fiction' einfallen lassen.

Es sind wilde Geschichten, die in diesen Büchern stehen. Riesige Weltverschwörungen werden darin aufgedeckt. Mit Wunderwaffen wird gegen kommunistische Agenten gekämpft, die die Völker der Dritten Welt gegen Europa aufhetzen, oder gegen größenwahnsinnige Wissenschaftler, oder gegen Marsmenschen, die sich mit Asiaten verbünden. Die Gedanken dieser Trivialromane sind oft eng, die Räume sind dafür überaus weit: Es gibt Reisen nach Tibet und in die Antarktis, nach Afrika und Asien, mit dem U-Boot tief unten ins Meer und mit Mondraketen hoch hinaus in den Weltraum.

In einer apokalyptisch dramatisierten Welt wimmelt es darin nur so von heroischen Führerpersönlichkeiten, wahnsinnigen Technokraten, listigen Spionen, Verschwörern und mächtigen Finanzmagnaten. Beliebte Orte der Handlung sind die neuralgischen Punkte der modernen Zivilisation: die Börse, Fabriken, gigantische Baustellen, Bürokratien, militärische Institutionen und die Parlamente. Verhandelt wird - wie sonst nur in zeitgenössischen EU-Debatten - nichts Geringeres als das Schicksal der abendländischen Kultur: Wird Europa untergehen? Die technischen Mittel sind Sonnenenergie und Lichtgeneratoren, oder gleich "teleenergetische Konzentrationen" - die sich zumeist in deutschen Händen befinden. Überhaupt sind die Deutschen in diesen Büchern oft geniale Wissenschaftler, findige Ingenieure, und mutige Kämpfer für das Recht - manchmal allerdings auch Terroristen, die einen Partisanenkampf gegen die Besatzungsmächte aus dem Westen führen.

Geopolitik und die Dynamisierung des Raumes

Vor 80 Jahren, kurz nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, boomte die Geopolitical Fiction in Deutschland. In sogenannten "technischen Zukunftsromanen" trafen sich Science-Fiction-Abenteuer, wie man sie schon vom Franzosen Jules Verne oder vom Engländer H.G. Wells kannte, mit dem ersten technisch-medialen Globalisierungsschub und der Entdeckung des Raumes durch die Kolonialherrschaft der Europäer. Das Fehlen eigener Kolonien kompensierten die Deutschen im Kaiserreich mit um so bunteren, exotischeren und radikaleren Phantasien.

Es war die Zeit, in der sich im imperialistischen Staat des Wilhelminismus auch in der Wissenschaft ein eigenes Genre entwickelte: Die Ende des 19.Jahrhunderts aus der Kriegswissenschaft und der Nationalökonomie entstandene neue Wissenschaft der Kulturgeographie führte bereits geschichtliche Bewegungen auf geographische Konstellationen zurück. Daraus entstand die "Geopolitik" als Begriff und Wissenschaft. Entscheidender Stichwortgeber wurde der Ex-General Karl Haushofer, der einen "Kreis für Geopolitik" bildete und die "Zeitschrift für Geopolitik" herausgab, die sich programmatisch (und ideologisch tendenziös) dem Denken über globale Räume gewidmet hat, und als der Schwerpunkt eines nun folgenden akademischen Popularisierungsdiskurses begriffen werden kann. Geschichtliche Bewegung wird in der Geopolitik auf die Raumkonstellation zurückgeführt, auf Geographie, Klima, Völkerkunde. Dieser Raum wird schicksalsträchtig aufgeladen, und zum Heros der Geschichte stilisiert. Ab 1918 waren Geopolitiker um Popularisierung ihrer Thesen bemüht." erklären Hahnemann/Ramponi. "Man versuchte, wegzukommen vom etwas trockenen akademischen Stil der Politischen Geographie, und das Fach zu politisieren." Das Thema wurde hybrid, diente als Schnittstelle diverser Disziplinen. "Der dynamisierte Raum wäre also das Stichwort."

Der neue Blick der Geopolitik, die Wahrnehmung scheinbar starrer Räume als weltpolitische Gestaltungsoberfläche, die damit oft verbundene Dämonisierung des Raumes - sichtbar im Leiden an der "deutschen Mittellage", die für den Zweifrontenkampf im Ersten Weltkrieg, für Rohstoffprobleme und damit für die Kriegsniederlage verantwortlich gemacht wurde; oder der beliebte Gegensatz von "Land und Meer" (so die spätere Formel Carl Schmitts), oft verbunden mit der Unterstellung, einer prinzipiellen Überlegenheit der Seemächte; schließlich die Ängste eines "Volk ohne Raum" vor Enge, Überbevölkerung und Masseneinwanderung, die in das Phantasma einer Notwendigkeit, neuen "Lebensraum" zu erobern, mündeten -, wirkten in diverse Wissenschafts-Diskurse und die populäre Kultur der Weimarer Republik. Deutlich sichtbar ist das am Boom jener Romane, die Hahnemann/Ramponi unter dem Begriff "Geopolitical Fiction" subsummieren. Das Wort lehnt sich an den Begriff der Science-Fiction an.

Es ging uns darum, uns zumindest als Arbeitshypothese die Aufgabe zu stellen, ein Genre zu entdecken, dass quer zu anderen Genre-Bestimmungen liegt, wie der Utopie, dem technischen Zukunftsroman, und der Science-Fiction, dem Abenteuerroman, und diese mit der Wahrnehmungsweise der Geopolitik verbindet.

"Die deutsche Phantastik ist ganz klar rechtslastig"

Ähnliches gab es in anderen Ländern zwar auch. In Deutschland entstand aber eine ganz spezifische Form der Geopolitical Fiction, weil Deutschland sich historisch in einer besonderen Situation gesehen hat. Populär konnten diese Romane werden, weil sie sich dezidiert gegen die politischen Bedingungen des Versailler Vertrag und der Nachkriegsordnung richten. In vielen dieser Bücher geht es darum, dass Deutschland seine Kolonien zurückgewinnt, dass die verlorenen Gebiete im Osten und im Westen wiedergewonnen werden, dass ein neuer Führer auftaucht, der Deutschland eint und gegen die Westmächte führt: "Ganz oft wird die Konstellation des Weltkriegs noch einmal durchgespielt, in einer Art fiktionaler Revision", so Hahnemann. "Die deutsche Phantastik ist ganz klar rechtslastig." Mit ihr einher geht überdies der "ganz normale" rechte Antisemitismus, verbunden mit romantischem Antikapitalismus, eine Haltung, die sich gegen eine bestimmte Form von radikaler Modernität sperrt, aber wiederum gar nicht technikfeindlich ist - oft als "reaktionärer Modernismus" (Jeffrey Herf) bezeichnet.

Meist waren es triviale Werke von heute vergessenen Verfassern, aber auch bekannte Autoren schrieben Texte, die man dem Genre zuordnen kann. Etwa Alfred Döblin, Hans Dominik - der in den 50ern als Vater der deutschen Science Fiction betrachtet wird - oder 1927 Kurt Schwitters, in dessen Stück "Zusammenstoß" ein Astronom entdeckt, dass ein anderer Planet, der "grüne Globus", im Begriff ist, mit der Erde zu kollidieren. Der Chef der Ordnungspolizei ordnet den Belagerungszustand für Berlin an. Einzige Rettung für die Erde: Der Planet muss von seinem derzeitigen Aufschlagsort, dem Potsdamer Platz, auf das Tempelhofer Feld umgeleitet werden.

Nicht immer waren die Geschichten allerdings so niedlich und unpolitisch wie in diesem Beispiel. Im Gegenteil: In vielen findet man erste Träume von einer globalisierten Welt, und - besonders in den Jahren nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg - eine utopische Politik der Wunschvorstellungen. Etwa in "Fu, der Gebieter der Welt", dem wirren Roman von Ferdinand Grauthoff, der unter dem Pseudonym "Seestern" schrieb und dessen Auflagen immerhin in die Hunderttausende gingen. Dort reist ein deutscher Ingenieur nach China, und untersucht wie ein Detektiv das mysteriöse Verschwinden eines Frachtschiffs. Schnell findet er heraus, dass dieses von einer mächtigen Geheimorganisation gekapert wurde, deren Chef ein Chinese ist, und sich Fu nennt. Der Ingenieur trifft Fu, und verbündet sich schnell mit ihm, um dem von Frankreich besetzten, von den Westmächten eingekreisten Deutschland zu helfen. Mit Hilfe von Strahlenwunderwaffen züchtigt Fu die Allierten und erzwingt die Zurücknahme des Versailler Vertrags.

Narzisstische Träume von Nuova Germanica

Oder in Joseph Delmonts "Die Stadt unter dem Meere" von 1925, einem Produkt, an dem sich das politische Unbewußte des Verfassers in Reinform zeigt: Darin entdeckt ein deutsches U-Boot während des Ersten Weltkriegs im Mittelmeer eine "Riesenfelsenhöhle". Nach der deutschen Kapitulation lässt man dort das Kaiserreich fortexistieren, finanziell unterstützt durch einige 1918 nach Venezuela ausgewanderte Junker. Nach einiger Zeit fahren die U-Boote wieder mit schwarz-weiß-roter Flagge und Superwaffen durchs Mittelmeer - globales Chaos ist in Windeseile die Folge. Die Weltkatastrophe beginnt mit einem gewaltigen Börsencrash, dann entsteht Panik und Massenflucht auf dem ganzen Erdball, überall erheben sich ethnische Gruppen gegen ihre korrupten Staatsführungen, es droht die Einführung von Militärdiktaturen und die Kolonialvölker rebellieren gegen die Metropolen. Um die Situation in ihrem Interesse zu beruhigen, verschickt das U-Boot ein prodeutsches Ultimatum an alle Regierungen der Welt. Bis das "alte große Reich" wiedererrichtet kann, zieht man sich zunächst einmal nach Argentinien zurück, wo ein "Nuova Germanica" entsteht.

Derlei narzisstische Tagträume zeigen die Geopolitical Fiction als Spielplatz revanchistischer Ideen und imperialer Lebensträume. Die Geschichten, die nun erzählt werden, handeln von der Gefahr kontinentaler Kriegsführung, dem "Endkampf" der verschiedenen "Rassen" um die globale Vorherrschaft, von weltweiter Rohstoffproblematik, und immer wieder von den unbegrenzten Möglichkeiten der modernen Technologie. Unübersehbar sind hier die Wechselwirkungen zwischen Literatur und Wissenschaft. Manche Ideenkonstrukte von Künstlern bringen Wissenschaftler erst auf bestimmte Gedanken. Zugleich übt umgekehrt die Fiktion das Publikum ein. Man gewöhnt sich daran, Grenzen einzuebnen, in bestimmten Dimensionen zu denken, und sich sachlich und faktisch überhaupt zu erlauben manches zu denken. Und es dann auch zu tun. So wurden Kriegsführung und Eroberungskrieg, die im Osten praktizierte Biopolitik der Nazis in manchen dieser Texte bereits imaginär durchgespielt. Aus solcher Fiktion wurden ab Mitte der 30er Jahre dann Sachbücher.

Besonders bemerkenswert: der Umgang mit der "Rassenfrage" in jenen Romanen. Es wird in diesen Romanen permanent differenziert, distinguiert, abgegrenzt, wieder eingegrenzt. Angesichts des späteren massenmörderischen Rassismus der Nazis fällt auf, dass die Rolle der europäischen Kolonien, besonders der Völker Asiens relativ ambivalent dargestellt wird. Einerseits ist ihre Darstellung rassisch codiert. Die Kolonien sind der Hort der Bedrohung, es ist die Rede von der "Gelben Gefahr", die Idee der Horden aus dem fernen Osten, die Europa überrennen, ist ein weit verbreiteter Topos, zudem semantisch oft in Zusammenhang mit Seuchen gestellt. Andererseits beschreiben viele der revanchistischen Romane eine positive Revolte gegen die Zivilisation. Immer wieder wird das Bündnis des "Kulturvolks" Deutschland mit den Naturvölkern gegen die Mächte der westlichen Zivilisation dargestellt. So kommt es zu Allianzen - Deutsche mit Japanern, Indern oder Arabern gegen Großbritannien und Frankreich, gegen Amerika, gegen "jüdischen" Kapitalismus -, die in ihrer Vorwegnahme späterer Konstellationen schon präfaschistisch sind, in den Begriffen der damaligen Zeit zum Bündnis "zwischen Technik und Barbarei" gegen Zivilisation. Deutschland braucht das "frische exotische Blut" der Kolonien, um damit das ganz alte Europa zu retten.

So prallt die apokalyptische Vision eines ängstlich befürchteten großen Aufstands, der das europäische Mächtesystem vollends zu Bruch gehen lassen und Europa nachhaltig zu einem provinziellen Status verdammen würde, auf die Idee der reinigenden Katastrophe, des schöpferischen Chaos, das eine schlechte Ordnung sprengt. Die Kolonien und ihre Völker stehen exakt für diese Aussicht. Oft findet eine klammheimliche Identifikation der Deutschen mit den unterdrückten Kolonialvölkern statt. Denn in seinem Selbstbild erschien sich Deutschland nach dem Versailler Vertrag selbst als kolonisiert durch eine feindlich gesinnte Weltwirtschaft und die Kolonialmächte. Der Rassismus wird so ins Positive gewendet, in einen Selbsthass der europäischen Kultur, und es kam in mehreren Romanen zu einer Identifikation mit Chinesen, Japanern, sogar mit den Indianern. Denn die Indianer waren im Blick der Deutschen die unterdrückte Rasse par excellence, gleichfalls ein durch Amerikanismus und Moderne kolonisiertes Naturvolk. Diese Analogie wird noch weitergeführt: Auch die Indianer waren ein "Volk ohne Raum", ohne Jagdgründe.

Entscheidend für beides ist eine Sicht auf die Welt als einer Welt, die revidiert werden muss. Einerseits ist Politik durch Raum-Koordinaten determiniert. Zugleich ist Raum gestaltbar, werden Grenzen flüssig. Der Mensch, das Volk, die Rasse muss etwas mit den neuen Möglichkeiten machen. Diese Aporie macht das Genre für Fiktion und Popularisierung extrem interessant", so Ramponi.

Wenn in China ein Sack Reis umfällt...

Was dieses Genre nun nicht nur historisch interessant, sondern auch aktuell macht, ist dass hier in populärer Form erstmals in Deutschland die Welt als vernetzte begriffen wird. Der globale Raum wird entdeckt als Spielfeld für Erzählungen, und eine erste Ahnung von dem, was wir heute als Globalisierung kennen, findet sich in vielen Büchern. "Es ist diese Auffassung", so Ramponi, "die heute im Alltagsdiskurs der Globalisierung zur Banalität geworden ist: Alles hängt mit allem zusammen. Es ist eben nicht egal, ob in China ein Sack Reis umfällt."

Damit wird Geopolitical Fiction zum idealen und programmatischen Untersuchungsobjekt einer kulturwissenschaftlichen Forschung zur Globalisierung, der es darum geht, Mentalitäten und Wahrnehmungsmuster herauszupräparieren. Erkennen lassen sich hier vor allem emotionale Muster, Gefahren und Ängste, Versprechen und Hoffnungen, die im Spiel waren, wenn es um so etwas wie Kolonialismus, wie Europa, wie Weltwirtschaft und globale Technik ging. Die Leitfrage ist: Wie wurde versucht, eine globale Welt zu verstehen, zu ordnen? Wie wurde versucht, Komplexität zu reduzieren?

Da tut sich ein ganzer Corpus von Quellen auf, der von der herkömmlichen geschichtswissenschaftlichen Forschung - die eben eher an den "harten Fakten" interessiert ist - nicht wirklich zur Kenntnis genommen wird. Gerade deshalb ist das Quellenmaterial interessant, weil es massenhaft produziert und massenhaft zur Kenntnis genommen wurde.

Die Wiederentdeckung der "Geopolitical Fiction" historisiert scheinbar selbstverständliche Wahrnehmungsmuster der Gegenwart, und liefert überfällige empirische Basisarbeit. Zugleich scheint sie perfekt zu einem welthistorischen Moment zu passen, in dem die Erde nicht mehr klar nach Blöcken gegliedert werden kann, Grenzen flüssig werden. So fügt sie sich einerseits in die seit 1989 beobachtbare Renaissance des Raumes in den Kulturwissenschaften, wie andererseits in das Wiederauftauchen der Geopolitik, eines Denken in informellen Herrschaftsräumen, transnationalen Staatenbildungen und raumdynamischen Formeln wie dem "Clash of Civilisations" (Samuel Huntington), dem "Empire" (Hardt/Negri) und der "geopolitischen Ästhetik" (Fredric Jameson).