"In Afghanistan sind politische Lösungen nötig"

Kommende Woche entscheidet der Bundestag über Verlängerung und Ausweitung das deutschen ISAF-Mandats. Ein Gespräch mit Winfried Nachtwei, dem verteidigungspolitischen Sprecher der Grünen, der gerade Afghanistan besucht hat

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Die Entscheidung der Bundesregierung war vorhersehbar: CDU und SPD haben sich nicht nur für eine Verlängerung des Bundeswehrmandats für Afghanistan ausgesprochen. Die deutschen Truppen am Hindukusch sollen zudem von derzeit maximal 3500 auf 4500 Soldaten verstärkt werden ("Der Westen wird den Krieg nicht gewinnen"). Zugleich häufen sich die Meldungen über Rückschläge des Besatzungsregimes. Die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung verschlechtert sich, die Rebellenorganisationen bekommen Zulauf und werden - was für die Besatzer verheerend ist - von der Zivilbevölkerung unterstützt.

Diese Widersprüche im laufenden Afghanistan-Krieg haben auch in Deutschland eine Debatte über Sinn und Zweck des Kampfeinsatzes angestoßen. Während die Parteien der großen Koalition geschlossen hinter dem Kriegseinsatz stehen, kommt von der Opposition harsche Kritik. In der FDP regt sich Widerstand und die Linke plädiert gar für einen sofortigen Rückzug aus Afghanistan. Die Grünen suchen den Mittelweg. Sie sprechen sich für eine Fortsetzung der ISAF-Mission und eine Stärkung des zivilen Engagements aus.

Telepolis sprach mit Winfried Nachtwei, dem sicherheitspolitischen Sprecher der Grünen im Bundestag.

Die deutschen Soldaten haben das Gefühl, eine Sisyphusarbeit zu verrichten"

SPD und CDU haben sich vor einigen Tagen erwartungsgemäß für die Verlängerung der deutschen Beteiligung an der ISAF-Truppe in Afghanistan ausgesprochen. Zugleich soll die Obergrenze der Bundeswehr um tausend Mann auf 4500 Soldaten erhöht werden. Ist damit ein Erfolg des internationalen Besatzungsregimes wahrscheinlicher?

Winfried Nachtwei: Keineswegs. Es ist seit langem bekannt und eigentlich auch Konsens in der Debatte, dass Stabilität und Aufbau in Afghanistan auf dem militärischen Weg nicht zu erreichen sind. Umstritten ist sogar, ob Militär diesen Wiederaufbau auch nur absichern kann. Zugleich halte ich eine Fortsetzung des deutschen Engagements - auch nach Besuchen vor Ort - für unbedingt notwendig. Selbst die Erhöhung der Präsenz ist in Anbetracht der Ausbildungsunterstützung und der Wahlen im kommenden Jahr plausibel. Bei diesem militärischen Engagement muss man aber zweierlei beachten: Das Wesentliche geschieht im politisch-zivilen Bereich. Und wäre es tatsächlich ein Besatzungsregime, dann hätte es nach aller Erfahrung gerade in Afghanistan keinerlei Aussicht auf Erfolg.

Sie erwähnen ihren jüngsten Aufenthalt in Afghanistan. Welchen Eindruck hatten Sie denn von der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage in dem Land?

Winfried Nachtwei: Gerade im Vergleich über die Jahre ist einiges an Fortschritten zu beobachten. Diese Fortschritte bleiben zugleich weit hinter dem zurück, was notwendig ist. Sie entsprechen nicht den Erwartungen der Bevölkerung und werden zunehmen durch die Verschlechterung der Sicherheitslage gefährdet.

Nach Ihrem jüngsten Aufenthalt in Afghanistan berichteten Sie zudem von einer deutlich schlechteren Stimmung unter den deutschen Soldaten. Was beeinträchtigt die Stimmung?

Winfried Nachtwei: Die Soldaten bekommen, gerade wenn sie außerhalb der Stützpunkte im Einsatz sind, die Verschlechterung der Sicherheitslage direkt mit. Die Aufständischen selbst bekommen sie nicht zu packen. Und wenn Kämpfer durch die afghanische Nationalpolizei gefasst werden, kommen sie oft schnell wieder auf freien Fuß, Verurteilungen sind selten. Die deutschen Soldaten haben in dieser Situation das Gefühl, eine Sisyphusarbeit zu verrichten. Es reicht daher nicht aus, in Berlin sicherheitspolitische Ziele zu benennen. Wenn man vor Ort Leib und Leben riskiert, sind diese politischen Zielstellungen abstrakt. Wenn man mit den Soldaten spricht, trifft man deswegen immer wieder auf Unverständnis. Sie verstehen den Sinn ihrer Arbeit aus dem Alltag heraus nicht. Anders ist das bei Armeeangehörigen, die im zivil-militärischen Bereich arbeiten.

Hierzulande herrschen trotzdem die Erfolgsmeldungen vor. Aus Berlin hieß es unlängst, Deutschland habe in Afghanistan 22.000 Polizisten ausgebildet. Bernhard Gertz, der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, ist solchen Darstellungen entschieden entgegengetreten. Nach seinen Angaben sind nur "einige hundert" afghanische Polizisten ausgebildet worden. Werden wir von der Bundesregierung hinters Licht geführt?

Winfried Nachtwei: Das ist eine altbekannte Vorgehensweise der Bundesregierung, wenn es um Afghanistan geht: Positive Teile der Wirklichkeit werden beschönigend verallgemeinert. Die Zahl der ausgebildeten Polizisten ist ein Beispiel dafür. Hier werden sehr unterschiedliche Ausbildungsmaßnahmen vom dreijährigen Lehrgang bis zur zweiwöchigen Weiterbildungsmaßnahme in einen Topf geworfen. Außerdem kann niemand sagen, wie viele dieser Polizisten im Dienst geblieben oder anderweitig "verschwunden" sind. Insofern ist es eine krasse Beschönigung, von 22.000 ausgebildeten Polizisten zu sprechen.

Operation Enduring Freedom mit dem Primat der militärischen Gegnerbekämpfung muss eingestellt werden

Bleiben wir bei der Lage in Afghanistan. Sie fordern einen "entschiedenen Kampf gegen die Drogenbarone". Wenn man nun westliche Militäranalysen liest, fällt rasch auf, dass diese Drogenbarone und Warlords mit ihren Privatarmeen oft als letzte Garanten staatlicher Ordnung in einem sonst gescheiterten und unkontrollierbaren Staat gesehen werden. Zeigt das nicht das Dilemma Afghanistans im achten Jahr der Besatzung auf?

Winfried Nachtwei: Natürlich ist das ein krasser Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Einerseits sieht man in Afghanistan in Kommandeuren der Mudschaheddin, die oft im Drogengeschäft mitmischen, Machtträger, um die man nicht herum kommt. Besonders auf US-amerikanischer Seite sind solche Gestalten hofiert und unterstützt worden, so dass sie ihren Einfluss ausbauen konnten. Wer militärisch gegen diese Machthaber vorginge, würde eine Drogen-Volksfront schaffen und die bewaffneten Konflikte verschärfen. Stattdessen muss man die Regierung darin bestärken, diese Leute im Land zur Verantwortung zu ziehen. Da hat Präsident Hamid Karsai in seinem eigenen Umfeld selbst viel Arbeit.

Herr Nachtwei, nennen Sie mir drei Schritte zu Frieden und Stabilität in Afghanistan.

Winfried Nachtwei: An erster Stelle steht eine ehrliche Bilanzierung der nationalen und internationalen Afghanistan-Politik. Das schließt einen offenen Umgang mit den eigenen Fehlern ein. Ich könnte da auch eigene nennen.

; Machen Sie das doch bitte.

Winfried Nachtwei: Auch ich habe die Aufgaben in Afghanistan völlig unterschätzt. Denn selbst im Rahmen der Vereinten Nationen ist dieser Einsatz in seiner Komplexität einmalig.

Der zweite notwendige Schritt nach der Bilanzierung ist eine Klärung des strategischen Dissenses in der NATO durch die Bundesregierung. Seit Beginn des Einsatzes stehen sich zwei Ansichten gegenüber: das Primat der militärischen Gegnerbekämpfung auf der einen, das UN-Aufbaumandat und seine Absicherung auf der anderen Seite. Diese beiden Strategien passen nicht zusammen. Deswegen reicht es nicht, nur den deutschen Beitrag für die US-geführte Operation Enduring Freedom zu kündigen. OEF selbst muss eingestellt werden - und ISAF vor allem im Süden und Osten auf das ursprüngliche Unterstützungsmandat zurückgeführt werden. Und drittens müssen politische Lösungen einen neuen Stellenwert erhalten. Dazu gehören vor allem regionale Mechanismen. Staaten wie Pakistan, Indien oder Iran müssen einbezogen und innenpolitisch müssen Verhandlungen mit den Aufständischen geführt werden. Und dafür gibt es in jüngster Zeit ja auch Hinweise.

Herr Nachtwei, wie werden Sie bei der Entscheidung über die Verlängerung des Bundeswehrmandats für Afghanistan im Bundestag kommende Woche stimmen?

Winfried Nachtwei: Ich werde mich meiner Stimme enthalten. Das ist in solchen Fragen keine schöne Variante. Aber ein Nein käme als Votum für einen Sofortabzug, den ich für unverantwortlich halte, nicht in Frage. Auf der anderen Seite kritisiere ich die massiven politischen Versäumnisse der Bundesregierung, ihre Halbherzigkeit und Feigheit vorm großen Verbündeten. Wenn diese Fehler nicht bald behoben werden, ist ein Scheitern in Afghanistan programmiert.