In drei bis vier Jahren werden wir ein anderes Land vorfinden

Der Sprecher der "Allianz der Demokratie für Afghanistan" nach vierwöchiger Afghanistan-Reise im Telepolis-Interview

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Rangin Dadfar Spanta, Sprecher der Allianz der Demokratie für Afghanistan, besuchte im März nach vielen illegalen Reisen in seine Heimat erstmals wieder offiziell das Land. Der 48-Jährige musste 1982 aus Afghanistan fliehen und lebt seit 20 Jahren in Aachen. Der Politikwissenschaftler plädierte im November in Telepolis dafür, die Rolle der UNO am Hindukusch "enorm" zu stärken. Sie solle versuchen "mit Friedenstruppen zivile Strukturen für eine Übergangsphase aufzubauen" (Die Rolle der UNO sollte enorm gestärkt werden). Michael Klarmann fragte nach, wie sich das Leben in Afghanistan nach der Vertreibung der Taliban aus der Macht verändert hat.

Heute sind internationale Schutztruppen sowie kämpfende Verbände der USA und weiterer Nato-Staaten in Afghanistan im Einsatz. Hat die "Übergangsphase" begonnen?

Rangin Dadfar Spanta: Ja, aber nicht so, wie ich sie damals gefordert habe. Die Friedenstruppen sorgen in Kabul für Ruhe und Ordnung. Dennoch kommen Raubüberfälle, Plünderungen und Beschaffungskriminalität vor. Es gibt noch sehr viele bewaffnete Menschen und organistisierte Banden. Es ist aber nicht so schlimm wie zwischen 1992 und 1996 zu Zeiten der Mudschaheddin. Dennoch gibt es Terror und Mord, der von der Regierung ausgeht. Zum Beispiel hat der Geheimdienst Afghanistans den Minister für Luftfahrt und Tourismus ermordet. Dafür gibt es Beweise, aber die Mörder sind nicht, wie es immer heißt, im Gefängnis. Sie arbeiten beim Geheimdienst.

Sie haben Ihre Geburtsstadt Herat und zudem Kabul besucht. Hat sich das Leben der Bevölkerung verändert?

Rangin Dadfar Spanta: Das Leben in Kabul und in anderen Städten ist relativ sicher geworden. Was fehlt, sind eine funktionierende Verwaltung, staatliche Institutionen und deren koordinierte Zusammenarbeit. In Afghanistan ist heute zudem vieles paradox. Einerseits herrscht in den Städten ein enormes Befreiungsgefühl, die Menschen sind sehr glücklich, wollen feiern und die Mädchen zur Schule gehen. Andererseits denken viele Entscheidungsträger noch so wie zu Zeiten der Taliban. Zudem leiden die Menschen unter verinnerlichten Verhaltensweisen. So würden die Männer sich gerne den Bart abrasieren, trotzdem tragen viele noch Bärte; die absolute Mehrheit der städtischen Frauen will sich nicht total verschleiern, und dennoch tut sie es. Andererseits organisieren sich Frauen und Männer in Initiativen und artikulieren sich offen und kritisch.

Hat mittlerweile eine Demilitarisierung stattgefunden?

Rangin Dadfar Spanta: Eine Entwaffnung und Auflösung der Privatarmeen hat außerhalb von Kabul nicht stattgefunden. Gerade in den Städten in Südafghanistan gibt es noch Widerstände von Teilen der Taliban. Ihre Führungspersonen und Soldaten wurden andererseits in Städten wie Kandahar oder Hirmand wieder in die Armee integriert. Entscheidungsträger und Generäle der Taliban bewegen sich in diesen Regionen frei und geduldet von der internationalen Schutztruppe der "Antiterrorallianz". Auch Verbände der Nordallianz und ehemalige Mudschaheddin-Gruppen sollen in die nationale Armee integriert werden. So beherrschen die alten bewaffneten Gruppierungen weiter ihre Regionen.

Gilt in Afghanistan noch die Scharia?

Rangin Dadfar Spanta: Offiziell nicht. Alle neuen Gesetze sollen sich nach dem Grundgesetz von 1963 orientieren, das nach dem Modell eines modernen Rechtsstaates verfasst war. Aber die lokalen Machthaber halten sich nicht daran. Zwar soll es nicht mehr vorkommen, dass Hände abgehackt werden oder es zu Steinigungen kommt. Aber tagtäglich gibt es körperliche Züchtigung wie Stockhiebe.

Im Juni konstituiert sich die Loya Jirga, die Versammlung der Stammesbevollmächtigten. Zur Afghanistan-Konferenz auf dem Bonner Petersberg waren offiziell keine Demokraten Ihres Landes eingeladen. Nehmen nun Vertreter Ihres Bündnisses teil?

Rangin Dadfar Spanta: Man hat mir versichert, dass zu den 1.000 bis 1.400 Teilnehmern der Loya Jirga rund 200 Frauen gehören, darunter auch Frauenrechtskämpferinnen. Mir wurde auch gesagt, dass die oberste Planungskommission der Loya Jirga ein großes Interesse daran hat, dass die demokratischen Kräfte teilnehmen sollen. Von den afghanischen Immigranten und Flüchtlingen in Deutschland werden zwei Vertreter teilnehmen, ob darunter Demokraten sind, wissen wir noch nicht.

Erreichen eigentlich die humanitäre Hilfe und die internationale Wirtschaftshilfe für den Wiederaufbau ihre Ziele?

Rangin Dadfar Spanta: Ich war immer ein Verfechter von Nichtregierungsorganisationen (NGO). Es gibt internationale Hilfsorganisationen wie Cap Anamur, die gute Arbeit in Afghanistan leisten. Aber die absolute Mehrheit der NGOs, die humanitäre Hilfe leisten, lebt sehr verschwenderisch und nur ein Bruchteil der Hilfe erreicht die Bedürftigen. Es ist traurig, wenn 80 Prozent des Etats für Autos, Luxus, Verwaltung, Versicherungen und Gehälter der NGO-Mitarbeiter aus Europa und Nordamerika verpulvert werden. Ich betrachte die Arbeit der NGOs in Afghanistan sehr, sehr skeptisch.

Wie schätzen Sie die Zukunft des Landes ein?

Rangin Dadfar Spanta: Ich glaube, wir müssen mit Rückschlägen im Demokratisierungsprozess und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen lokalen Machthaber rechnen. Auch die Partisanenkämpfe der Al Qaida und die Einsätze der US-Soldaten im Süden des Landes werden weitergehen. Insgesamt aber sehe ich den jetzigen Prozess trotz aller Kritik positiv. In drei bis vier Jahren werden wir ein anderes Land vorfinden als heute.