Institutionalisiertes Misstrauen gegen Flüchtlinge

Warum Menschenrechtsorganisationen das deutsche Asylverfahren kritisieren

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Seit der Verabschiedung der EG-Richtlinie 83/2004 im Herbst vergangenen Jahres und dem kurze Zeit später endlich rechtsverbindlichen Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes scheint die juristische Lage für Asylsuchende in Deutschland weitgehend geklärt zu sein. Die Praxis der Asylverfahren ist dagegen nach wie vor heftig umstritten. In einem „Memorandum zur derzeitigen Situation des deutschen Asylverfahrens“, das von renommierten Menschenrechts- und Hilfsorganisationen wie amnesty international, der Arbeiterwohlfahrt, dem Deutschen Caritasverband oder Pro Asyl herausgegeben und am Donnerstag in Berlin vorgestellt wurde, weisen die Verfasser darauf hin, dass die Anerkennungsquote im Verwaltungsverfahren für Asylberechtigte 2004 lediglich 1,5 Prozent und für Konventionsflüchtlinge nur 1,8 Prozent betrug. 2001 lag sie noch bei 21,2 Prozent, wobei allerdings die Vielzahl anerkannter Flüchtlinge aus Afghanistan berücksichtigt werden muss.

Wichtiger als die nackten Zahlen sind freilich die näheren Umstände. Und die zielen nach Einschätzung der Autoren fast ausschließlich auf die Ermittlung von Gründen, die in letzter Konsequenz zu einer Abschiebung der Flüchtlinge führen können. Dabei orientiere sich die Befragung nicht an den „verfassungsrechtlich gebotenen Prinzipien von Unvoreingenommenheit“, sondern setzte auf dem Weg über die obligatorische Reisewegbefragung auf „standardisierte Handlungsanleitungen, die zur Abstumpfung und Gleichgültigkeit bei den Einzelentscheidern führen.“ Diese Haltung falle auf fruchtbaren Boden, weil Deutschland sich jahrzehntelang gegen den Geist der Genfer Flüchtlingskonvention gewehrt und schon die Bezeichnung Flüchtling „ausschließlich nach deutschen, stark von Abwehrhaltung und Angst vor Flüchtlingen geprägten Abgrenzungsbegriffen“ definiert habe.

An dieser Einstellung lässt sich kurzfristig wenig ändern, sie wirkt sich nach Meinung der Verfasser aber eben gerade jetzt verhängnisvoll auf die praktische Durchführung von Asylverfahren aus. Denn diese können in aller Regel nicht mit Papieren, Dokumenten und anderen jederzeit nachvollziehbaren „Beweisen“ abgesichert werden, sondern sind auf die Menschenkenntnis der Entscheider und also auf die Grauzone gegenseitigen Vertrauens und persönlicher Glaubwürdigkeit angewiesen.

Die sich verdichtenden Vorbehalte gegen Asylsuchende und Flüchtlinge machen deshalb die subjektive Statusentscheidung zu einer höchst voraussetzungsvollen Verwaltungsentscheidung, ohne dass die Vorbehalte bewusst, geschweige denn zum Gegenstand eines gesellschaftlichen Diskurses werden. Es liegt auf der Hand, dass in einer gesellschaftlichen Situation, in der der gute Glaube an legitime Fluchtgründe abhanden gekommen ist, die Entscheidung über das Asylbegehren jedoch guten Glauben voraussetzt, kaum noch positive Statusentscheidungen getroffen werden. Auszug Memorandum

Stattdessen konstatieren die Verfasser schwere Verfahrensfehler, die in der Folge unvollständiger Befragungen zur Ermittlung „verzerrter Lebenswirklichkeiten“ führen. Darüber hinaus kritisieren sie die regelmäßige Verletzung der Vorhaltepflicht und das Fehlen eines effektiven gerichtlichen Kontrollsystems. Mit Blick auf das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge befürchten sie außerdem eine Konzentration auf die neuen integrationsrechtlichen Vorgaben bei gleichzeitiger Vernachlässigung des traditionellen Aufgabenbereichs, „sodass sich die festgestellten strukturellen Defizite in der Ermittlungspraxis ohne zureichende Gegenvorkehrungen verfestigt haben.“

"Beim Flüchtlingsschutz handelt es sich schließlich um ein Grundrecht"

Worauf stützt sich die harsche Kritik der Menschenrechtsorganisationen? Telepolis fragte Wolfgang Grenz, den Leiter der Abteilung „Länder und Asyl“ von amnesty international.

Herr Grenz, der Tonfall des Memorandums zielt sehr ins Abstrakte und Prinzipielle. Worauf stützen sich Ihre Vorwürfe konkret?

Wolfgang Grenz: Die Verfasser des Memorandums sind seit vielen Jahren in der Flüchtlingsarbeit aktiv – als Anwälte, als Richter oder als Verbände. Wir haben die Beobachtungen, die wir mitteilen, also selbst gemacht. Dass der Flüchtlingsschutz beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge immer mehr zur Seite gedrängt wird, weil man sich dort vor allem um die neuen Integrations- und Migrationsaufgaben kümmert, stellen wir seit geraumer Zeit fest.

Beschränken sich die Defizite auf das deutsche Asylverfahren oder betreffen sie auch immer noch das hiesige Asylrecht?

Wolfgang Grenz: Auf der rechtlichen Seite gab es deutliche Verbesserungen, die von uns auch nicht in Abrede gestellt werden. Das betrifft beispielsweise die Anerkennung nicht-staatlicher und geschlechtsspezifisch Verfolgter, die nun Bestandteil des Zuwanderungsgesetzes ist, nachdem bis Ende 2004 nur dann jemand als Flüchtling anerkannt wurde, wenn er vom Staat verfolgt wurde. Die entscheidenden Mängel gibt es im Asylverfahren, wenn Widersprüche nicht aufgeklärt oder die Flüchtlinge mit einem institutionalisierten Misstrauen konfrontiert werden.

Welche Verbesserungsvorschläge haben Sie in der aktuellen Situation?

Wolfgang Grenz: Wir fordern mit dem Hohen Flüchtlingskommissar, dass im Zweifel generös für die Flüchtlinge entschieden wird. Es ist vor allem wichtig, dass die Verfolgungsgeschichten genau aufgeklärt werden. Den einzelnen Lebensläufen wird derzeit kaum ernsthaft und bis in die Tiefe nachgegangen, und die Gerichte haben in aller Regel auch kein Interesse daran. Außerdem muss der Flüchtlingsschutz einen höheren Stellenwert bekommen. Es geht schließlich um ein Grundrecht, und deshalb ist es beispielsweise nicht akzeptabel, wenn das Bundesamt in den letzten Jahren in diesem Bereich überhaupt keine Schulungen mehr anbietet.

Wie stellt sich Deutschland – hinsichtlich der Praxis seines Asylverfahrens – im internationalen Vergleich dar?

Wolfgang Grenz: Das lässt sich so allgemein kaum sagen. In einigen Ländern wird gründlicher geprüft – in anderen nicht. Deutschland ist da weder unter positiven noch unter negativen Aspekten ein Vorreiter. In materieller Hinsicht hatte Deutschland gegenüber den internationalen Schutzstandards Defizite, die weitgehend durch das Zuwanderungsgesetz beseitigt worden sind. Es ist noch zu fordern, dass neben Artikel 16a des Grundgesetzes auch die Genfer Flüchtlingskonvention Grundlage der Flüchtlingsanerkennung wird.

Spielt die jüngere deutsche Geschichte nicht auch in diesem Bereich eine zentrale Rolle?

Wolfgang Grenz: Doch, selbstverständlich. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben sich aus guten Gründen und vor allem auch aus persönlicher Erfahrung für den damaligen Artikel 16/2 entschieden. Daraus ergibt sich eine historische Tradition und natürlich auch eine Verpflichtung. Allerdings hat die Genfer Konvention aus den Ereignissen Konsequenzen gezogen, die über Deutschland hinausreichen, und wir haben sicher nichts dagegen, wenn nationale Regelungen in europäischen oder weltweiten Lösungen aufgehen, soweit die international anerkannten Standards des Flüchtlingsschutzes erfüllt werden.

Leider gibt es kein Gremium, das die Bestimmungen der Konvention verbindlich durchsetzen könnte. Der Hohe Flüchtlingskommissar teilt den Regierungen seine Auslegung der Konvention mit, seine Auffassung ist für die Regierungen aber nicht bindend, und in Konfliktfällen wird die Auslegung des UNHCR nicht befolgt.

Wie könnte sich ein möglicher – und ja wohl auch wahrscheinlicher – Regierungswechsel in Berlin auf die Lage von Asylsuchenden in Deutschland auswirken?

Wolfgang Grenz: Eigentlich hatten wir uns diesen Veröffentlichungszeitpunkt ausgesucht, weil gerade keine Wahlen stattfinden. Wir können ihn nun nicht mehr verschieben, da die Bilanz gezogen werden muss und der Aussagewert sonst verloren ginge. Trotzdem lege ich Wert auf die Feststellung: Das Memorandum ist nicht als Abrechnung mit Rot-Grün in der Asylpolitik zu verstehen. Das ist nicht unser Thema, und die Zustände, die wir beschreiben, haben sich in der Tat über viele Jahre entwickelt.

Wenn es in Berlin zu einem Regierungswechsel kommt, ist davon auszugehen, dass die Situation für Flüchtlinge schlechter wird. Am Zuwanderungsgesetz selbst kann es Änderungen geben. Die CDU/CSU-Fraktion hat gerade erst wieder einen Antrag in den Bundestag eingebracht, der die Beseitigung von Abschiebungshindernissen fordert. Das kann nur als Angriff auf den Flüchtlingsschutz interpretiert werden.

Vieles hängt jedoch von der Zusammensetzung der neuen Regierung ab, denn die FDP hat durch Beiträge im Bundestag mehrfach signalisiert, dass sie den Flüchtlingsschutz auf einem bestimmten Niveau halten will. Wir werden unsere Arbeit in jedem Fall fortsetzen und uns selbstverständlich auch mit einer anderen Regierung kritisch auseinandersetzen. Vielleicht gibt es in diesem Fall ja sogar noch Überraschungen.

Welche halten Sie denn für realistisch?

Wolfgang Grenz: In Wahlkampfzeiten wird mit diesem Thema leider viel Stimmung gegen Asylsuchende gemacht. Wenn sich die Wogen wieder geglättet haben, könnte ich mir vorstellen, dass auch die CDU/CSU, wenn sie auf eine Koalition mit der FDP angewiesen ist, langfristig an einer europäischen Lösung interessiert wäre und sich zum Beispiel an der europäischen Richtlinie zum Flüchtlingsbegriff orientieren würde. Das würde jedenfalls vieles vereinfachen.