Integration ist nicht an Sprachkenntnissen messbar

"Es ist eine völlig willkürliche Annahme, dass die Loyalität zu einem Land mit der Kenntnis von dessen Sprache verbunden ist" - Integration, Identifikation und Islamfeindlichkeit. Ein Gespräch mit Jörg Becker

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Als „Beitrag zur Integration“ forderte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan erneut türkische Gymnasien in Deutschland - vor Angela Merkels Reise nach Ankara Ende März (siehe Deutsch-türkische Kontroversen). Deren Replik folgte umgehend: Integration in Deutschland heiße, Deutsch zu erlernen. Mit Telepolis spricht Jörg Becker, Professor für Politikwissenschaft an den Universitäten Marburg und Innsbruck, über Sprache und die Flucht vor ihr.

Herr Professor Becker, was halten Sie von Erdogans Forderung nach türkischen Gymnasien in Deutschland?

Jörg Becker: Ich bin zwar gegen Privatschulen jeglicher Art, da Bildung meines Erachtens ein öffentliches kostenloses Gut ist und somit nicht privatisierbar sein sollte. Doch die deutsche Verfassung sieht anderes vor. Laut ihrem wichtigen Gleichheitsgrundsatz darf jeder eine Privatschule eröffnen. Es spricht also nichts gegen ein türkisches Gymnasum.

Auch sollte man generell über den Stellenwert dieser Sprache an den Gymnasien nachdenken. Ich erinnere an das Europäische Jahr der Sprachen 2001, das für das Miteinander von Sprachen und die damit verknüpfte interkulturelle Vielsprachigkeit plädierte. Wäre es nicht tatsächlich sinnvoll, Türkisch auch im Hinblick auf spätere deutsche Experten im In- und Ausland zu unterrichten? Ein Feedback zur türkischen Sprache in Deutschland wagte aber schon damals niemand zu geben. Es ist ein politisch heißes Eisen.

Weshalb ist das Eisen so heiß? Doch wohl kaum, weil es bei tatsächlich vielen Türken bzw. Deutsch-Türken mit dem Deutschen hapert .

Jörg Becker: Die Forderung, Türken in Deutschland müssen Deutsch lernen, ist berechtigt, wenn sie pragmatisch und im Hinblick auf ihre Chancen auf dem inländischen Arbeitsmarkt daher kommt.

Das Problem aber ist, dass die Forderung meist hochgradig ideologisch daher kommt – und zwar vor dem Hintergund eines zunehmenden Rassismus gegen Ausländer im Allgmeinen und gegen Muslime im Besonderen. Wenn ein Thilo Sarrazin mit seinen Aussagen einen kleinbürgerlichen Rassismus in der SPD hoffähig macht...

... zur Rekapitulation: der Berliner ex-Finanzsenator hatte in der Kulturzeitschrift „Lettre International“ im vergangenen Jahr unter anderem behauptet, die Türken würden „Deutschland genauso erobern, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate.“ Und: „Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert“.

Jörg Becker:... die Medien regten sich einige Tage darüber auf, um dann dazu überzugehen, dass er ja Recht und nur die falsche Sprache gewählt habe. Nun hat er sogar das Parteiausschlussverfahren in Berlin überstanden. Dabei ist es doch eine historische Unverschämtheit, wenn der gewachsene Internationalismus einer sozialdemokratischen Partei heruntersinkt auf das rassistische Niveau eines Sarrazin. Im selben Atemzug verbreiten Medien wie „stern“ und „Der Spiegel“ mit reisserischen Titeln – ich erinnere an die Spiegel-Titel von 2001 „Der religiöse Wahn. Die Rückkehr des Mittelalters“ oder von 2007 „Mekka Deutschland – Die stille Islamisierung“ – Ausländer- und Islamfeindlichkeit.

„Migranten flüchten in die Medien ihres Ursprungslandes“

Vor diesem Hintergrund, so Ihre These, verwundere es nicht, wenn viele Migranten sich in die Medien und damit in die Sprache ihrer Herkunftsländer flüchten.

Jörg Becker: Es ist bekannt, dass ethnische Minderheiten die identifikatorische gegenüber der eher informatorischen Mediennutzung der Mehrheitsgesellschaft bevorzugen. Das gilt auch für die türkischen Migranten in Deutschland. Zwar existieren keine fundierten Befunde darüber, in welchem Maße sie türkische Zeitungen lesen, und welche sie lesen. Insgesamt aber kann man davon ausgehen, dass die Zeitungslektüre eher unwichtig ist. Maßgeblich ist vor allem das türkische Fernsehen. So untersucht das deutsch-türkische Marktforschungsunternehmen Data 4U seit 15 Jahren die Reichweiten türkischer Fernsehsender in Deutschland und verfügt über echte Zeitreihen.

Das Ergebnis: ungefähr ein Drittel aller Migranten sieht prioritär türkisches Fernsehen – und das altersunabhängig. Geschuldet ist das vor allem dem Emotionsfaktor „Musik“, den das TV anbietet. In ihm fühlen sie sich wohl, angesprochen, aufgehoben. Eine zutiefst verständliche Abwehrreaktion auf das rassistische Klima, das ihnen hier begegnet und das auch bewirkt, dass sie ihre eigene Kultur oft verklären.

Zugleich darf man nicht ausser Acht lassen, in welchem Zeitalter wir leben. Globalisierung und Internet ermöglichen eine permanente, nie da gewesene Mobilität zwischen Ländern und Kulturen. Für viele, die in der türkischen Sprache verhaftet sind, fehlt auch dadurch der Anreiz, überhaupt Deutsch zu erlernen. Viele mögen dies als schlimm bewerten, aber man kann die Globalisierung nicht zurück drehen und in die Argumentation einer Nationalstaatlichkeit des 19. Jahrhunderts zurückfallen.

Zugleich erklärte die Integrationsbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion, Aydan Özoguz, unlängst im ZDF, dass viele türkische Migranten hierzulande gar nicht mehr so sehr im Türkischen verwurzelt seien, sondern zum Deutschen, zumindest zu einer Mixtur aus Deutsch und Türkisch, gefunden hätten.

Jörg Becker: Es ist äusserst schwierig zu beurteilen, was sie in Deutschland sprechen, da keine repräsentative Untersuchung vorliegt und sie methodisch auch schwer durchführbar wäre. Die dazu nötigen standardisierten Messinstrumente existieren nicht. Was neuartige „Soziolekte“, wie Mischungen aus Deutsch und Türkisch, betrifft, so muss man auch sehen, dass sie eine eigene Identität bedienen. Damit wären wir wieder bei dem Zusammenhang zwischen „Muttersprache“ und Identifikation.

Willkürliche Annahmen

Bedeutet dies, auf den simplen Nenner gebracht: Ohne Identifikation, keine Sprache?

Jörg Becker: Ich wäre sehr vorsichtig damit, wie Integration zu messen ist. Meines Erachtens lässt sie sich nicht an einem formal hohen oder niedrigen Bildungsstand messen. Wenn Integration die Identifikation mit bzw. die Loyalität zu einem Land bedeutet, dann erscheint es mir als völlig willkürliche Annahme, dies anhand der Fähigkeit zu messen, ob jemand die Sprache dieses Landes spricht. Man bedenke: allein in Indien existieren weit über 100 Sprachen. 22 davon sind in einem Verfassungszusatz gelistet, wodurch sie in der Amtssprachenkommission vertreten sind. Ich bin somit auch gegen den Vorstoss der CDU, Deutsch als Amtssprache im Grundgesetz zu verankern. Das halte ich für eine Attacke à la Roland Koch im feinen Gewand.

Sie selbst haben vor rund sechs Jahren eine Studie über die Fernsehnutzung deutsch-türkischer Migranten im nordrheinwestfälischen Herne durchgeführtt, in der Sie deren Integrationsfähigkeit prüften. Welche Integrationsindikatoren zogen Sie heran?

Jörg Becker: Indikatoren wie: „Wie viele deutsche Freunde hast du?“ oder „Geht ihr auch mit deutschen Mädchen aus?“ usf. In genau diesen Punkten schlossen diejenigen, die häufig bis ausschließlich türkisches TV sehen, gut ab. Empirisch gesehen deutet also nichts darauf hin, dass Migranten, die in der eigenen Sprache verhaftet sind, integrationsfeindlich sind.

Im Gegenteil. Die Doppelstrategie hilft ihnen. Sie entspannen sich, fühlen sich wohl in ihrer eigenen Sprache und schöpfen daraus die Kraft, hierzulande Integration zu leisten. Anders gesagt: ihre eigene Sprache macht sie rund. Ich möchte auch auf die Schlussfolgerungen einiger Linguisten verweisen, die besagen, dass nur derjenige, der die eigene Muttersprache beherrscht, auch den Transfer in eine andere schafft. Wenn dies zutrifft, dann müssen die Türken, um Deutsch gut zu erlernen, sogar in ihrer Muttersprache verhaftet bleiben.