Internet & Politik

Auf dem Weg zu einer elektronischen Demokratie? - Ein wichtiges Buch und ein grundlegender Essay von Claus Leggewie

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Im Frühjahr 1996 fand in München eine der ersten großen Veranstaltungen zum Thema Internet und Politik statt, die von der Burda Akademie Zum Dritten Jahrtausend veranstaltet wurde. Telepolis hat damals in Form eines Specials über diese Veranstaltung berichtet. Jetzt ist das Buch mit den Vorträgen im Bollmann Verlag erschienen, ergänzt durch weitere vertiefende Beiträge - eine wichtige Publikation für alle, die neben dem Kommerz und dem damit einhergehenden Neoliberalismus ein politisches Interesse an den Chancen haben, die das Internet möglicherweise für eine demokratische Praxis bietet.

Link zum Bollmann Verlag

Claus Leggewie, zusammen mit Christa Maar, Herausgeber des Buches und Mitinitiator der Veranstaltung, hat einen einführenden, die Themen und Probleme einer Demokratisierung des Netzes herausstellenden Text geschrieben, den Telepolis auszugsweise veröffentlicht.

Das Telepolis-Special Internet & Politik

Bereits von Telepolis veröffentlichte Texte aus dem Buch:

Laßt die Inhalte für sich selbst streiten. Esther Dyson im Gespräch mit Claus Leggewie.

Benjamin Barber: Wie demokratisch ist das Internet?

Ein Telepolis-Gespräch mit Claus Leggewie: Zivilisierung des Cyberspace

Niels Werber: Ungeahnte Einigkeit.. Die Rolle des Internet in der deutschen Parteipolitik.

Im Zuge der Veranstaltung entstand die sogenannte Münchner Erklärung, in der Politiker und Bürger dazu aufgerufen wurden, "gemeinsam das Internet zu zivilisieren und die Informationsgesellschaft aktiv mitzugestalten." Auch wenn seitdem viele Gesetze zur Regulierung des Internet verabschiedet wurden, steht das Internet als Marktplatz im Vordergrund. Politiker und Parteien nutzen es zwar mehr zur Selbstdarstellung, aber eine Zivilisierung scheitert bislang hierzulande noch immer an der Passivität der Bürger, die offenbar auch gelassen hinnehmen, daß Verbote und Überwachung zunehmen. Insofern ist eine Initiative, wie sie die "Münchner Erklärung" darstellt, noch immer wichtig und hat nichts an Aktualität verloren.

Claus Leggewie

Demokratie auf der Datenautobahn - Wie weit geht die Zivilisierung des Cyberspace?

Internet und Politik - ein Problemaufriß

Im Januar 2000 kann schon alles vorbei sein. Der "Super-GAU" der Informationsgesellschaft träte ein, wenn die Computer an der Wende zum neuen Jahrtausend auf "1900" zurückschalten und ein heilloses Chaos ausbrechen würde. Ein solches Fin de siËcle ist zwar unwahrscheinlich, aber eine heilsam nüchterne Perspektive auf die Dummheit der Technologie und die künftige Entwicklung des Netzes. Schon heute klagen viele Nutzer, regelmäßige wie gelegentliche, über Staus auf dem "Information Superhighway", der auch viele andere Versprechen nicht gehalten hat.

Doch vermutlich wird das Internet, wenn auch nicht in den derzeit prognostizierten Raten, weiter expandieren, und bereits in der nächsten Dekade dürften noch erheblich mehr Menschen einen wachsenden Teil ihrer Arbeits- und Freizeit "im Netz" verbringen. Arbeit, Aus- und Weiterbildung werden sie genau wie Warenbestellungen, Geldüberweisungen und Behördenverkehr telematisch erledigen und sich nicht zuletzt auch via Internet unterhalten, das heißt privat korrespondieren und amüsieren. Der PC ist tot, es lebe das Internet, heißt die Parole, und dabei werden TV und Computer vermutlich zusammenwachsen.

Es liegt nahe, daß dann auch Staatsbürger politische Informationen aus dem Netz beziehen und ihre Rechte und Pflichten digital ausüben werden - von der Lektüre der "Tageszeitung" bis zum "Gang" zur Wahlurne. Der gesamte politische Prozeß, von der primären Information über die Modalitäten der Meinungs- und Willensbildung bis zur kollektiven Entscheidung, ist von den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien affiziert. Ob das "gut" oder "schlecht" für die liberale Demokratie sei, ist bereits die falsche Frage, die bislang zu ebenso euphorischen wie apokalyptischen Prognosen geführt hat. Weder wird dank des Internet ein "neues athenisches Zeitalter" anbrechen noch wird an ihm die repräsentative Demokratie zugrundegehen.

In Sachen "elektronische Demokratie" war zu viel von neuer Technik und zu wenig von Demokratie die Rede. Verfechter wie Verächter des Internet taten so, als nutze oder schade eine neue Technologie "der" Demokratie per se. Andere wiederum argumentierten, als sei der demokratische Prozeß von den jeweils vorherrschenden Medien gar nicht betroffen. Technikdeterminismus und -indifferenz werden durch schlichte historische Evidenz widerlegt: Unverkennbar hat sich politische Meinungs- und Willensbildung unter der Ägide audio-visueller Medien, vor allem des Fernsehens, nachhaltig verändert - genau wie zuvor schon durch die Erfindung des Telephons. Doch ebenso gewiß sind gute und schlechte Seiten der Massendemokratie nicht dem Fernsehen allein zuzuschreiben - oder auch nur hauptsächlich diesem. Das Internet ist ein neues Multimedium, dessen Innovation ironischerweise "nur" in der Zusammenfassung aller bekannten Kommunikationsformate besteht - von der mündlichen Konversation bis zur Satellitenkommunikation in tendenziell jedem Winkel der Erde -, die es zu einem Monomedium zusammenfaßt und dabei herkömmliche Sender-Empfänger-Hierarchien verändert. Diese Umstellung von Breitband- auf Netzwerkkommunikation kommt einer Revolution gleich.

Zur vollen Entfaltung kam sie jedoch erst als Folge der politischen Revolution von 1989, die eine "Zivilisierung des Cyberspace" (Miller) ermöglichte. Die aus vorrangig militärischen Zwecken entstandene Geheimtechnologie wurde zur zivilen Nutzung freigegeben, als kein "Reich des Bösen" mehr im Wege stand. Die amerikanische Rechnerkapazität wurde nicht verschrottet, sondern in die Kanäle der Bewußtseinsindustrie konvertiert. Vor der Ausdehnung des World Wide Web war das Netz eher von autonomen Newsgroups und Diskussionsforen charakterisiert, die sich auf die Verbreitung von Nachrichten konzentrierten, welche in den konventionellen Medien unterblieben oder zu kurz kamen. Das heutige Design des Internet sieht bereits anders aus: Mittlerweile wuchsen Computertechnologie und Unterhaltungselektronik zusammen, womit zugleich die kulturelle und die ökonomische Sphäre verschmolzen, und Unternehmen nicht nur zu Marktführern, sondern auch zu politischen Machthabern aufstiegen. Damit sind Ordnungsmuster entstanden, die eher zur Zentralisierung und Schließung der neuen Medien führen, wie man an "intelligenten Agenten" und Hyperlink-Strukturen im WWW bereits erkennen kann. Der Traum der Pioniere und Hacker von der undomestizierbaren Anarchie der Netze dauerte nicht lange.

Jede Anwendung von Technik setzt soziale und politisch-administrative Interventionen voraus, also Organisationen, die Netze zugänglich machen, unterhalten und verwalten, und sie zeitigt institutionelle Folgen, die nur teilweise beabsichtigt sind. In jedem Fall beeinflußt der "Eigensinn" der Computernetze die altbekannten Kommunikationsmedien Geld und Macht. Technische Protokolle und soziale Verhaltenskodizes remodellieren Eigentumsverhältnisse, Entscheidungsprozesse und die Verteilung strategischen Wissens, das heißt den Geldverkehr der Märkte und das Wissenssystem genauso wie den politischen Machtkampf. Dabei geht es weniger um Eigentumstitel und materielle Ressourcen. Wenn die zu Tode gedroschene Formel überhaupt einen Sinn haben soll, dann ist die Wissens- oder Informationsgesellschaft als eine zu definieren, in der Reichtum, Macht und Ansehen, also soziale Struktur und Differenz, nicht mehr über "altmodische" Formen der Stoffumwandlung erzeugt werden, sondern über symbolische Zeichensetzung und Imagination.

Die (ebenso sinnentleerte) Metapher der Datenautobahn rückt die Entwicklung des Internet technikgeschichtlich ins Licht der großen Eisenbahn- und Autobahnnetze und verweist auf die Dynamik früherer Transport- und Kommunikationsrevolutionen in der Geschichte der Industrialisierung. Während Eisen- und Autobahnen (und in der Verlängerung Fluglinien) jedoch wirkliche Räume hergestellt haben, duplizieren elektronische Netze diese im 19.und 20.Jahrhundert geschaffenen (trans-) kontinentalen Geographien und relativieren sie ebenso wie die Zeitzonen des Globus, also den Stoff, aus dem (internationale) Politik gemacht war. Raumbezogene mikro- und makrosoziale Gruppen und Gemeinschaften werden "virtuell", geometrische oder mechanische Bestimmungen des Raumes - vorgestellt als ein mit materiellen Dingen angefüllter Container - werden abgelöst durch die Realität einer körperlosen Matrix. Annähernde Gleichzeitigkeit und Weltpräsenz kommen kosmopolitischen Utopien nahe, die Rede von der "Weltgesellschaft" ist keine bloße Metapher mehr.

Immer wenn neue Informationsmedien aufkamen, nahm die Debatte kultur- und politikpessimistische Züge an. Auch das Internet hat Kassandras und falsche Propheten auf den Plan gerufen, und die postmoderne Kulturkritik hat ein pseudo-philosophisches Niveau erreicht, das dem Gegenstand kaum angemessen ist. Doch dürfte in bezug auf die "elektronische Demokratie" die Zeit der übertriebenen Hoffnungen und Befürchtungen vorüber sein - die empirische, wirklichkeitsbezogene Analyse hat eingesetzt. Bei der Bewertung von möglichen Effekten und Potentialen computervermittelter Kommunikation muß man stets vom gegenwärtigen Zustand demokratischer Gemeinwesen ausgehen, in welche die neuen Multimedia-Anwendungen hineinwirken, statt deren aktuelle Defizite auf die neuen Medien zu projizieren und Idealbilder der gegebenen demokratischen Kommunikation mit Zerrbildern künftiger Medien zu konfrontieren. Das meiste, was als verheerende Folge des Internet der Politik prognostiziert worden ist (elektronischer Populismus, Informationsüberschwemmung, Ende der Öffentlichkeit, Erosion staatlicher Souveränität, Schwächung des Repräsentationsprinzips und dergleichen), all jenes trifft man bereits unter den Bedingungen herkömmlicher politischer Kommunikation an. Und wer (fälschlicherweise!) Beteiligungsschwäche und mangelnden Gemeinsinn der "Netizens" rügt, sollte die Partizipationsdefizite der real existierenden Zuschauerdemokratie und das Vordringen populistischer Stimmungsmache heute nicht verschweigen.

Dieser Vorrang der wirklichen Demokratie vor der virtuellen Technologie gilt auch für die Szenarien künftiger Entwicklung. Multimedia kann man im politischen Betrieb repräsentativer Massendemokratien so oder so einsetzen, und buchstäblich niemand - weder die Hardware- und Software-Produzenten noch die großen Telekommunikations- und Medienkonzerne noch die politischen Eliten oder einzelne Bürger und Bürgerinitiativen - vermag sie in eine bestimmte Richtung zu steuern. Man sollte von einer Vielzahl von checks and balances und einer komplexen Wechselwirkung der einzelnen Akteure ausgehen und eine Vielzahl nicht-intendierter Wirkungen privater und staatlicher Steuerungsversuche einkalkulieren. Die Richtung des Internet ist noch offen, aber alle "Experimente", die diverse Akteure im und mit dem Internet anstellen, haben präjudizierende, vielleicht irreversible Wirkung. Insofern fragt sich, wie weit der begonnene Zivilisierungsprozeß gedeihen kann - ob er sich mit der kommerziellen Anwendung schließt oder der res publica und autonomen Bürgerkommunikation öffnet.

Das Internet ist originär nicht zu politischen Zwecken erfunden, erprobt und entwickelt worden, auch wenn Newsgroups, Usenet und ähnliche Experimente der "Framers" in diese Richtung zielten. Politische Materien und öffentliche Angelegenheiten werden im Internet noch stärker um die knappe "Ressource Aufmerksamkeit" buhlen müssen, und die heutige Wirklichkeit des Internet läßt sich in dem nüchternen Satz resümieren: "Das Netz ist unpolitisch" (Rilling 1997). Das Netz ist alles mögliche, aber bestimmt kein zoon politikon. Wie in anderen Phasen kapitalistischer Entwicklung auch, ergeben sich die Wirkungen der neuen Medien eher en passant, also als Neben- und Folgewirkungen. Doch sollte man die politischen "Sternstunden des Internet" nicht vergessen: Studenten in Belgrad (und, weniger spektakulär, ein Jahr später auch in Gießen, Marburg und so weiter) organisierten ihren Protest digital, und auch die Zapatistas in Mexiko und andere Oppositionsbewegungen nutzen die Resistenz der Netze gegen zentrale Aufsicht und Kontrolle. Es mag als gutes, wenn auch nicht hinreichendes Omen für die Demokratie im nächsten Jahrhundert angesehen werden, daß Diktatoren und autoritäre Regime das Internet nicht mögen.

Mittlerweile haben auch klassische institutionelle Akteure - Regierungen, Parlamente, Parteien, Interessenverbände, Nicht-Regierungs-Organisationen, gemeinnützige Vereine und Stiftungen - Informationen "ins Netz gelegt", und sie bieten dabei gelegentlich Rückkanäle an. In dieser Interaktivität besteht die Differenz zu den herkömmlichen Kommunikationsformaten wie Zeitungen und Rundfunk- bzw. Fernsehsendungen. Gatekeeper und Meinungsführer sind damit leichter zu umgehen, womit die bekannten "intermediären Instanzen" tendenziell an Bedeutung verlieren.

Der Durchbruch der neuen Medien, im Zusammenhang mit der Globalisierung im allgemeinen, bietet Gelegenheit, so gut wie alle Fragen des Politischen neu zu überdenken. Bisher werden die Effekte des Internet meist negativ apostrophiert:

  1. die Entgrenzung der verfaßten Form der politischen Gemeinschaft, des Nationalstaates, und sein Autoritäts- und Kontrollverlust im Verhältnis zur globalen Ökonomie;
  2. die Zerfaserung des öffentlichen Raumes in unverbundene Teilöffentlichkeiten;
  3. der Repräsentationsverlust politischer Eliten in den Netzwerkstrukturen.

Weniger besorgt und neutraler formuliert kann man vermuten, daß erstens neue Regulierungsformen auf transnationaler Ebene (nicht nur auf dem Gebiet der Telekommunikation, sondern auch der Sozial-, Wirtschafts- und Menschenrechtspolitik) entstehen werden, zweitens ein weiterer "Strukturwandel der Öffentlichkeit" bevorsteht, und drittens eine größere Autonomie der Bürgerschaft gegenüber der politischen Klasse zu erwarten ist. In jedem Fall kann man bereits sagen, daß computervermittelte Kommunikation Politik voraussetzt, verändert und herausfordert. "Politik" hat dabei viele Facetten, die im Englischen in den Begriffen policy, politics und polity eingefangen sind.

Policy, politics und polity

In unserem Fall sind policies vor allem staatliche Interventionen, welche die neuen Medien mit Gesetzgebung, staatlicher Finanzierung und persuasiven Mitteln zu gestalten suchen, was die Telekommunikationspolitik im engeren Sinne betrifft, aber auch Wirtschafts- und Industriepolitik, Bildungspolitik, Sozialpolitik und andere Politikbereiche einschließt. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß politisch-administrative Apparate, welche die Computer-Medien steuern, sich ihrer zunehmend selbst bedienen, was die ironische Pointe dieser Steuerung darstellt. Politik für (oder gegen) das Netz tendiert mit anderen Worten fast automatisch zur vernetzten Politik, die zunehmend inter-, supra- und transnationale Dimension bekommt.

Politics bezeichnet den Prozeß der Artikulation und Aggregation von Interessen durch politische Akteure und den darüber ausgetragenen Konflikt. Hier spielen Regierungen, politische Parteien, Interessenverbände und die Medien selbst eine Rolle, aber auch gesellschaftliche Akteure, die sich unabhängig davon artikulieren. In diesem Fall muß man sowohl die vertikale Interaktion zwischen politischen Eliten und dem Volk (top-down) im Auge behalten wie die "Aufwärtskommunikation" (bottom-up) und die horizontale Kommunikation von Bürgern untereinander, die aus der Sicht institutioneller Eliten oft als "vorpolitischer Raum" verkannt wird, aber als "Subpolitik" immensen Einfluß auf das politische Geschehen hat.

Gewissermaßen über diese Fragen der Staatsintervention und des Interessenkonflikts tritt der polity-Aspekt, die politische Verfassung von Wissensgesellschaften oder "elektronischen Demokratien". Das betrifft Art und Qualität der politischen Regime und vermutliche Wirkungen digitaler Technologien auf die Fundamente der repräsentativen Demokratie, die seit 1989, in unterschiedlicher Ausprägung und Intensität, zur unangefochtenen Standardform der Weltgesellschaft geworden ist, zugleich aber unter dem Verlust ihrer "internen und externen Effizienz" leidet. Legitimität und Effektivität politischen Handels werden in Zweifel gezogen.

Unter diesen drei Aspekten soll politische Kommunikation im Internet im folgenden ausführlicher behandelt werden, wobei die empirische Basis für Beschreibung und Analyse schmal ist: Wer wann was zu welchem (politischen oder anderen) Zweck im Internet tut, bleibt nach bisherigem Wissen die große Unbekannte. Das Gros der Erfahrungen entstammt den Vereinigten Staaten, wo mit Netz-Politik, top-down wie bottom-up, am längsten experimentiert worden ist. Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht nur ein technologischer Nachzügler, sondern vor allem netzpolitisch ein Entwicklungsland, was der Verfassung ihrer civic culture nach 1945 und der "partizipatorischen Revolution" der 60er und 70er Jahre zuwiderläuft.

Inwiefern amerikanische Beispiele, die durch das Präsidialsystem und dezentrale Graswurzel-Initiativen sowie eine insgesamt weniger etatistische Kultur geprägt sind, auf Europa übertragbar sind, ist fraglich (Kleinsteuber/Hagen 1997). Doch haben die politischen Kulturen Westeuropas vor allem nach 1945 - zum Besseren wie zum Schlechteren - einen Prozeß der "Amerikanisierung" durchlaufen - Fernsehwahlkämpfe zählen genauso dazu wie Bürgerinitiativen. Insofern verdienen vor allem solche Netz-Experimente eine kritische Würdigung, welche die interaktive Qualität computervermittelter Kommunikation in den Vordergrund rücken und unter dem ausdrücklichen Anspruch des citizen empowerment stehen. Dies ist eine nur schwer ins Deutsche übersetzbare normative Vorgabe "starker Demokratie" (Barber 1984), die demokratiepolitisch unabweisbar erscheint, wenn man nicht allein auf die Befähigung der politischen Eliten in der "Führerdemokratie" (Max Weber) fixiert ist. ...

Übertriebene Hoffnungen und grundlose Befürchtungen

Das Fazit fällt angesichts der anfänglichen Euphorie nüchtern und vor allem, was Norm und Desiderat des citizen empowerment anbetrifft, ambivalent aus: Die virtuelle Gesellschaft, die mit dem Vordringen computervermittelter Kommunikationstechnologien entsteht, wird auch den politischen Prozeß verändern, und zwar auf allen Ebenen, von der Grundinformation über die Meinungs- und Willensbildung bis zur kollektiv bindenden Mehrheitsentscheidung. Das Internet ist nicht für ihn geschaffen worden, sondern als Markt- und Spielplatz. Der Bürger fährt auf der Datenautobahn mit, aber bislang nur auf der Kriechspur. Business und Entertainment haben ihn überholt und bestimmen die Verkehrsordnung. Politische Materien bilden im Netz nur eine kleine Nische, wobei der größte Teil noch aus Expertenkommunikation innerhalb der politischen Klasse, also unter Ministerialbürokratien, Parteien und Journalisten, besteht - mehr Intranet als Bürgerforum. Die wohl unausweichliche Transformation des Internet vom Pull- zum Push-Medium kann horizontale Bürgerkommunikation und ihre Rückkoppelung in die Zentren politischer, ökonomischer und kultureller Macht weiter marginalisieren.

Große Hoffnungen auf einen qualitativen Sprung von der Zuschauer- in die Beteiligungsdemokratie waren übertrieben; oft wurden sie auch nur geweckt, um das fortbestehende Oligopol der traditionellen Top-Agenturen der Meinungs- und Willensbildung zu kaschieren. Das Internet wird zum Angebotsmarkt, dessen Gestaltung wesentlich den großen Telekommunikations- und Medienkonzernen überlassen bleibt, weil die Forderung nach informationeller Grundversorgung vernachlässigt wurde. Diese Einäugigkeit war der größte Fehler der bisherigen Technologiepolitik, die sich zu stark der Wirtschaftsförderung und Sicherheitspolitik widmet und - zum eigenen Schaden - das demokratische Potential ignoriert.

Nur dank einer "List der Vernunft" kann der Igel den Hasen einholen. Gut informierte, deliberationsfähige und beteiligungswillige Bürger werden mehr Raum im Cyberspace bekommen, wenn sich das Internet, ähnlich wie das Fernsehen seit den 50er Jahren, zum Massenmedium entwickelt, und wenn sie die niemals ganz zu verschließenden Spielräume zugleich als Netizens artikulieren. Politische Öffentlichkeiten waren stets Angelegenheit einer Minderheit von Aktivbürgern und wurden nur erweitert unter dem Druck sozialer Bewegungen. Das technische Potential der Netze liegt bereit, um einen eventuellen Beteiligungsschub von unten zu fördern und die Repolitisierung des Internet einzuleiten. Geschieht dies nicht, liegen faszinierende Möglichkeiten größerer Beteiligung, intelligenter politischer Kommunikation und direkter Demokratie brach.

Ebenso übertrieben wie die Hoffnungen waren auch die Befürchtungen bezüglich der systemsprengenden Wirkung der neuen Risikotechnologien. Weder beeinträchtigen sie als solche die Regulierungsfunktion staatlicher Institutionen, noch bewirken sie automatisch die Zerfaserung der politischen Öffentlichkeit, und erst recht nicht führt ausgerechnet der im Netz praktizierte Anspruch auf mehr Mitwirkung zur Aushöhlung der repräsentativen Demokratie. Diese Institutionen stehen seit langem unter einem Druck, der vor allem durch Globalisierung der Kapitalmärkte ausgelöst worden ist und in Reaktion darauf populistischer und autoritärer Politik Vorschub leistet.

Man schlage folglich nicht den Sack, wenn man den Esel meint - das Medium ist nicht die Botschaft. Das Internet ist vielmehr, so oder so, ein Medium der "realexistierenden" Weltgesellschaft, und insofern unter günstigen Umständen geeignet, neue, netzwerkartige Regulierungsmuster zu generieren, wie sie im Telekommunikationsmarkt exemplarisch (und ausgesprochen verbesserungsfähig!) entwickelt wurden. Besser als jedes andere Medium ist es geeignet, lokale Öffentlichkeiten zu verdichten und grenzüberschreitende Arenen der Meinungsbildung herzustellen, und so kann es schließlich dazu dienen, den politischen Prozeß insgesamt wieder mit größerer Legitimität auszustatten. Bürger gelten im Netz weitgehend als Störenfriede. Das sollten sie sich nicht zweimal sagen lassen.