Internet auf Chinesisch?

800.000 Menschen gleichzeitig bei einem Online-Spiel

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Vor drei Jahren, als die IT-Seifenblase platzte, vertrat der chinesische Internetexperte Fang Xingdong eine marktorientierte Auffassung: Die 'Seifenblase' - d.h. der gleich einer 'Seifenblase' krisenhaft zerplatzende Boom mit seiner ungeheuren Kapitalvernichtung - ist ihm zufolge eine Antriebskraft. Das Internet an sich, sagt er, sei aber keine Seifenblase - oder wenigstens keine normale Seifenblase. "Der Kern oder die Grundlage für die Internetentwicklung ist nicht die Technologie, ja nicht einmal das Kapital, sondern es sind die Nutzer." Nach dieser Theorie gebe es in China nicht zu viel, sondern zu wenig Seifenblasen.

Screenshot "Soroman Online"

Der rasante Zuwachs der chinesischen Internetnutzer scheint in gewisser Hinsicht sein Seifenblasen-Prinzip zu bestätigen. Allerdings ist die mobilisierende Antriebskraft - wie es mindestens im Moment aussieht - nicht dieselbe, die man sich seinerzeit vorgestellt hat. Online-Spiele, als immer größer werdende 'schillernde Seifenblasen', sind heute "in". Hier handelt es sich ja auch letztendlich in der Tat um ein gesellschaftliches Phänomen, bei dem die Nutzer eine Schlüsselrolle übernehmen. Sie sind Spieler (gamer; player) in Spielen (games) ohne Ende.

Eine Legende nach der anderen

Im April 2003 hatte www.ourgame.com (auch bekannt als "Lianzhong Shijie" = massenverbündende Welt), ein wichtiger Anbieter von Online-Spielen, bereits eine Besucherzahl von 350.000 Menschen gleichzeitig im Netz, und dies jeden Tag in der Spitzenzeit. Der Anbieter verfügt über eine Klientel von inzwischen mehr als 70 Millionen registrierten Usern, darunter 700.000 Mitgliedern. Denkt man dabei noch an die rasante Zunahme der chinesischen Internetnutzer allgemein und an den Prozentsatz der Spieler speziell, so muss man die Zahl mit Sicherheit andauernd nach oben korrigieren. "Online-Spiele sind heute bereits eine Haupttendenz des Vergnügungssektors und stark in Mode", sagt Li Lin, der 'Generalinspekteur' von "Lianzhong". Bei www.chinagames.net oder bei www.343game.com, aber auch bei vielen anderen Anbietern von Online-Spiel-Welten, wimmelt es ebenfalls von Besuchern.

Screenshot "1000 Jahre"

Die chinesische Internetkultur ist vor allem eine Jugendkultur. War in der Anfangsphase das Internet eindeutig eine exklusive Domäne der intellektuellen Elite, so ist es inzwischen in hohem Grad zu einer Angelegenheit der Jungen, Schönen und Reichen in den Küstenregionen und Metropolen des Landes geworden. Das Internet wird sowohl von den Usern als auch von einer großen und wachsenden Zahl von Nonusern als Fixpunkt und Zentrum eines erstrebenswerten Lifestyle erachtet. Eng mit der Jugendkultur und dem sich durchsetzenden e-Lifestyle zusammenhängend funktioniert das Internet - in übertriebener Weise? - als Unterhaltungsmedium. Natürlich wird das Internet nicht nur in China als Unterhaltungsmedium betrachtet, aber erst in China hat es dadurch eine andere Dimension bekommen.

Seit dem Börsensturz des Nasdaq im April 2000 ist es dabei vergleichsweise schwer geworden, Investitionen für das Internet zu mobilisieren. Insofern halten viele es geradezu für eine Legende, dass der Shanghaier Provider Shengda Wangluo (chinesisch: Großartiges Netz) am 4. März 2003 von der Softbank eine Investition in Höhe von 40 Millionen US$ erhielt. Es ist schließlich die größte private Finanzierung (keine Effektenanlage), die das chinesische Internet je gekannt hat. Softbank gibt sich optimistisch und hofft, mit dieser Offensive auf einen hundertprozentigen Wertzuwachs bei dem derart angelegten Risikokapital innerhalb von drei bis fünf Jahren, denn die chinesische, auf Online-Spiele spezialisierte Branche ist als Markt ein riesiger und wachsender 'Kuchen'.

Dass die Softbank nun Shengda 'aufrüstet', ist sicher auch auf den legendären Erfolg dieses Shanghaier "Neureichen" zurückzuführen: Mit 300.000 US $ hat Shengda (gegründet im November 1999) die Nutzungsrechte für das Online-Spiel "The Legend of Mir2" von dem koreanischen Entwickler "Wemade" und dem Unternehmen "Actoz Soft" erworben - bei 30%er Gewinnbeteiligung des koreanischen Herstellers. Mit der Legende seines Erfolgs machte Shengda dann auf einmal in China Furore und wurde gleichzeitig zu einem Anbieter von Online-Spielen erster Klasse und zur Nummer Eins auf diesem Feld in China. Bis Ende Januar 2003 hatte "The Legend" bereits 70 Millionen registrierte Nutzer.

Mit anderen Worten: jeder zwanzigste Chinese ist ein "Legend-Spieler"; das Spiel kommt sogar noch weit besser an, wie die Zahl von gleichzeitig 500.000 Menschen im Netz zeigt, die sich der "Legende von Mir 2" hingeben (die höchste Zahl von Menschen, die gleichzeitig in China "The Legend" besuchten, lag bislang bei 800.000). Nicht nur Shengda allein profitierte von diesem Spiel: Die Gesellschaft Shanghai Telekom verdiente im Jahr 2002 allein an dem Teil der Shengda-Klientel, der über das Telefonnetz ins Internet geht, 400 Millionen Yuan (das sind ca. 45 Millionen Euro)!

Screenshot "Legend II"

Nach einem halben Jahr juristischen Streits zwischen Shengda (als Distributor) und den koreanischen Herstellern wurde Anfang 2003 der Kooperationsvertrag gekündigt. Für "The Legend III" hat Wemade einen anderen Distributor in China gefunden. Es hat aber nicht lange gedauert, bis schließlich eine von Shengda selbst entwickelte neue "Legenden-Welt" entstand. Bekannt wurde dies am 8. April diesen Jahres - ein Datum, das auf Chinesisch ausgesprochen ein Homophon von "Reichtum erwerben ohne Ende" ist. Seitdem werden die 70 Millionen bei Shengda registrierten Legend-Gamer in die neue chinesische "Legenden-Welt" eingeweiht und dazu aufgerufen, in der Testphase an der so genannten "Erneuerungsbewegung" der "Legenden-Welt" teilzunehmen. Gefragt sind Kreativität und phantasievolle Anregung der Nutzer. Selbst der Name des neuen Online-Spiels, das am 28. Juli starten soll, entstand aus der Gamer-Gemeinde heraus.

Selbst im Schlaf verdient man Millionen

Seit ein paar Jahren hat die auf digitales Entertainment spezialisierte Branche dank Online-Spielen in der Tat einen unerhörten Aufschwung in China erlebt. Im Jahr 2000 verzeichnete in China die digitale Entertainment-Branche nur einen Produktionswert von ca. 300 Millionen Yuan. Im Jahr 2003 wird voraussichtlich der Produktionswert allein von Online-Spielen 2 Milliarden Yuan betragen (100 Yuan entsprechen derzeit ca. 11 Euro).

Nach der Einschätzung von Wang Ning, dem Leiter der Abteilung für Online-Spiele bei Sina.com, beschäftigten sich 80%-90% der chinesischen Internetfirmen im Jahr 2002 mit den Angeboten von Online-Spielen. Während 2001 von ihnen insgesamt nur 6 Online-Spiele angeboten wurden, stieg die Zahl solcher Online-Spiele im Jahr 2002 auf 60 bis 80; zur Zeit hat man im Internet einen Zugriff auf ca. 110 derartige Spiele für chinesischsprachige Nutzer. Die Zahl der Anbieter dieser Spiele vervielfachte sich gleichzeitig von nur 6 im Jahr 2001 auf ca. 80 im Moment.

Netzwerkspiele sind das Produkt, das weltweit am besten Investitionen anlockt. In dieser Branche verdient man selbst im Schlaf Millionen.

Ding Lei, Chef von Netease.com

Dies sagt Ding natürlich nicht von ungefähr: Anfang 2002 war Netease wegen des stark gefallenen und inzwischen äußerst niedrigen Kurswertes schon kurz davor, von der entscheidenden Börse - dem Nasdaq - aus dem Handel genommen zu werden. Ein Jahr später ist aber, vergleicht man die drei im Nasdaq notierten chinesischen Megaportale, der Kurswert von Netease am meisten gestiegen, was vor allem zwei Angeboten - dem SMS-Service und dem Angebot von Online-Spielen - zu verdanken ist. Der 4. Quartalsbericht 2002 von Netease verzeichnet einen Gewinn von 233 Millionen Yuan für das ganze Jahr, das sind 721,8% mehr als 2001; und die Einnahme durch SMS und Online-Spiele ist 1303% höher als die im Vorjahr!

Die Nummer Eins der kommerziellen Provider in China, Sina.com, hat sich da scheinbar ein wenig verspätet, schwört jedoch inzwischen - auch dank reichlicher Kapitalrücklagen - Stein und Bein, dass es der Gesellschaft gelingen wird, innerhalb von 2 oder 3 Jahren ihren Marktanteil in der Online-Spiele-Industrie zu vervielfachen und als einer der zwei Marktführer genannt zu werden.

Der Trend hin zum Online-Gaming hat inzwischen das chinesische Internet umgekrempelt. Sohu.com hat vor kurzem angekündigt, in die Welt der Online-Spiele vorzurücken und als Distributor des koreanischen Unternehmens WIZGATE in China das 3D Online-Spiel "Ritter Online" [englisch: Knight Online anzubieten. Zhang Chaoyang, der Boss von Sohu, erwartet dank Sohus Online-Spiel-Angeboten einen Gewinn von fünf Millionen US$ pro Jahr (das wären dann immerhin 10% der Gesamteinnahmen).

Screenshot "Legenden-Welt"

Das chinesische Internet habe damit - nach einer langen Reise in die Kapitalvernichtung - endlich mit dem Setzen auf SMS + Online-Spiele ein neues, äußerst erfolgreiches Modell der Gewinnmaximierung gefunden, so die Branchenexperten. Mit anderen Worten: Parallel zum weltweit heftigen Konkurrenzkampf zwischen Sony, Nintendo und Microsoft in der Spiele-Industrie ist nun ein ebenso unerbittlicher Kampf um die Vorherrschaft auf dem lukrativen Markt für Online-Spiele (und Spielekonsolen) in China entbrannt.

Auf dem chinesischen Markt sind im Moment ca. 90% der Online-Spiele südkoreanische Produkte. Im allgemeinen müssen die chinesischen Spiele-Distributoren neben den hohen Kosten der Vertragsschließung, die sie tragen, eine weitere Kröte schlucken: zwischen 25% und 35% ihres Geschäftserlöses gehen an den jeweiligen koreanischen Hersteller. Auch angesichts der trotz allem sehr hohen Profite wollen nun die chinesischen Akteure nicht mehr lange mit auswärtigen Partnern den Kuchen teilen und sind gerade eifrig dabei, selbst geeignete Software zu schreiben und eigene Produkte zu entwickeln. Auf einem Markt wie dem chinesischen, wo Raubkopien von Software überall zu finden sind, erscheint die Produkterschließung von Spielangeboten, die man nur online - gegen- und miteinander -spielen kann, ein sicherer und rentabler Weg zum Profit zu sein.

"Lieber nicht schlafen, nicht essen, nur online spielen"

Nach einer neuen Statistik des Internet Network Information Center (CNNIC-Bericht: 1/2003) sind 82,1 % der chinesischen Internetnutzer unter 35 Jahre alt. 10,2% gehören zur Altersgruppe zwischen 31-35; 17,0% zu jener zwischen 25-30; 37,3% zu der zwischen 18-24; 17,6% sind unter 18 Jahre alt. In der Rubrik 'Beruf der User' sind Schüler sowie Studenten mit 23% dabei die größte Gruppe.

Gerade die große Zahl der jungen Nutzer und deren Konsumorientierung machen den chinesischen Markt für Investoren immer attraktiver. Man sieht darin ein enormes Potenzial für eine schnelle Entwicklung des Spielekonsolen-Marktes in China. Einer Untersuchung der University of California/Los Angeles (UCLA) zufolge sind es eher die Neulinge oder aber User, die seit weniger als drei Jahren das Internet nutzen, welche vor allem dem Online-Spielen zugeneigt sind. Wenn diese Beobachtung verallgemeinerbar ist, kann man sich das zu erwartende Szenario für China erst richtig vorstellen: 85% der chinesischen Internetnutzer blicken auf eine Interneterfahrung (bzw. Internetnutzung) von weniger als drei Jahren zurück. Die größte Gamer-Gemeinde bilden dabei fraglos die Jugendlichen unter 18 Jahren. Nach einer neuen Umfrage nutzen in Peking inzwischen bereits 81,3% der Schüler das Internet.

Die idealsten virtuellen "Kongfu-Arenen" oder virtuellen militärischen "Schlachtfelder" sind dabei ohne Zweifel jene unzähligen Internetcafés, in denen fast alle - und vor allem die jungen Kunden - sich einzig und allein mit Online-Spielen hingeben.

Ohne interaktive Online-Spiele würde ein Internet-Café wie ein Mensch ohne Herzen sein.

Ein Besitzer eines Internetcafés in einem Interview.

"Interaktives Online-Spielen ist sehr aufregend", erklärte gleichzeitig ein Schüler: "Das können wir nur im Internetcafé machen. Es ist viel interessanter, hier zusammen zu spielen als allein: zu Hause, vor dem Computer. Außerdem ist das hier ein richtiger Wettkampf: Mal sehen, wer besser ist. Übrigens lassen die Eltern zu Hause normalerweise das ununterbrochene Online-Spielen meist gar nicht zu." Ein anderer fügte hinzu: "Es ist einfach geil! Lieber nicht schlafen, nicht essen, nur online spielen."

Hier scheint sich der Satz zu bestätigen: Die Nachfrage bestimmt das Angebot. Allerdings fällt dabei unter den Tisch, wer diese Jugend konditioniert - was also in ihnen das Bedürfnis nach Spielen (ökonomisch betrachtet: die Nachfrage) produziert.

Am ersten Tag des Ritter-Online-Wettbewerbs in Sichuan (Mai 2003)

Es wird inzwischen nicht selten von einer vom digitalen Entertainment geprägten Lebensweise gesprochen; vielleicht eine überzogene Behauptung. Aber dass es heutzutage in China oft gleichzeitig Hunderttausende von Spielern einer Spielkonsole gibt, ist eine Tatsache. Dies ist nicht nur auf die Lust des Menschen am Spiel oder auf das Bedürfnis der Kommunikation mit Anderen zurückzuführen. Wesentliche Triebfeder bei diesen Spielern ist sicher auch der Wunsch, die den Spielen innewohnende Herausforderung zu bewältigen (Agnes Varda hat dies sehr schön am Beispiel ihres kleinen Protagonisten in dem Film 'Kungfu Master' gezeigt) sowie die stets aufs Neue nach Befriedigung verlangende Sucht nach jenem euphorischen "Erfolgsgefühl", wenn man ein Spiel "gemeistert" hat. Vielleicht ist sogar Eitelkeit im Spiel.

Viele Online-Spiele auf dem heutigen chinesischen Markt geben dem Gamer angeblich viele "kreative" Möglichkeiten, wodurch der Mensch der "künstlichen Intelligenz der Spiele" ein Schnippchen schlagen soll. Handelt es sich aber in einem Gruppenspiel vielleicht sogar um die "eigene Würde"? Das meinte zumindest enthusiastischer Spieler, der unter anderem sagte: "Ich will im Netz das eigene Ich finden. Es geht um Anerkennung." Wer weiß. Es gibt inzwischen in der Tat viele Online-Gaming-Wettbewerbe in China. Leider kann das Online-Spielvergnügen auch andere Folge haben, wie uns die authentische Geschichte eines Herrn Shen zeigt, der Lehrer in einer Mittelschule war und wegen obsessivem Online-Spielen entlassen wurde:

"Das war vor zwei Jahren. Damals arbeitete ich in einer Mittelschule. Das monatliche Einkommen war ca. 1000 Yuan. Eines Tages habe ich bei www.ourgame.com ein Computerppiel 'runtergeladen. Das wurde dann zur Sucht. Danach habe ich mich immer mehr dem Online-Spielen hingegeben. Sehr oft spielte ich die ganze Nacht hindurch, verließ beim Morgengrauen das Büro und stand erst bei Sonnenuntergang auf. Zwar haben wir im Büro Verbindung zum Internet, aber das ist gebührenpflichtig. So ging ich über's Telefonnetz ins Internet, weil das Telefon mich nichts kostete. Im ersten Monat waren die fälligen Telefongebühren unseres Büros schon etwas über 700 Yuan, im zweiten Monat sogar 1300 Yuan. So passierte, was passieren musste: Ich wurde auf einmal in der ganzen Schule berühmt! Aber ich schwöre, ich war bestimmt nicht der einzige, der im Büro Online-Spiele spielte."

Weigui Fang ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des medienwissenschaftlich-sinologischen Forschungsprojekts "Das Internet in China" an der Universität Trier.