Israel-Iran-Konflikt und die Rolle der USA: Erwünschte Eskalation?

Der russische Präsident Putin und der Oberste Führer des Iran, Ayatollah Ali Khamenei

Gegner der USA: Der russische Präsident Putin und der Oberste Führer des Iran, Ayatollah Ali Khamenei. Foto (2016): english.khamenei.ir / CC BY 4.0 Deed

Zur Aktualität eines Brookings-Institution-Papers von 2009: Warum Iran die regelbasierte Weltordnung und Rüstungsinteressen bedroht. Ein Debatten-Beitrag.

Auge um Auge. Während die Gewalt im Nahen Osten zusehends eskaliert, weckt ein kürzlich wieder aufgetauchtes Dokument des prestigeträchtigen US-Thinktanks Brookings Institute Zweifel an der Beteuerung der Vereinigten Staaten, einen Flächenbrand in der Region verhindern zu wollen.

Zeitgenössische Publikationen und die auffälligen Parallelen zur aktuellen Lage scheinen vielmehr ein ungebrochenes Interesse an einem Regime Change in Teheran zu offenbaren.

Nukleare Drohgebärden

Nach dem Luftangriff vom 1. April auf die iranische Botschaft in Damaskus und dem "Vergeltungsschlag" des Iran vom 13. April sah sich die Regierung von Benjamin Netanjahu am vergangenen Freitag zu einer weiteren militärischen Erwiderung gezwungen.

Die April-Attacken sind bei Weitem nicht die ersten im jahrzehntelangen Konflikt zwischen Israel und dem Iran. Erst im vergangenen Dezember wurde in Damaskus ein hochrangiger Berater der Islamischen Revolutionsgarden (IRGC) von einem israelischen Luftangriff getötet, woraufhin der Iran im Januar Raketen auf eine angebliche Mossad-Spionagebasis im Irak abfeuerte.

Und doch drohte Israels Angriff auf die Region Isfahan, wo sich nicht nur ein iranischer Militärstützpunkt, sondern auch zwei Kernkraftanlagen befinden, die Eskalationsspirale noch eine Runde weiterzudrehen.

Das iranische Militär hatte zuvor Darstellungen als "psychologische Kriegsführung" zurückgewiesen, wonach beim Angriff vom 1. April auch die Kernkraftanlage in der israelischen Region Dimona beschädigt worden sei.

Ein solcher Vorfall hätte einen Gegenschlag Israels auf nukleare Ziele im Iran zur Folge haben können. Die Revolutionsgarden hatten zuvor angekündigt, auf einen solchen Gegenschlag mit einer Abweichung von der Atom-Doktrin zu reagieren, die die Nutzung von Kernkraft bisher auf den zivilen Einsatz beschränkt.

Niemand kann wollen, dass es so weit kommt. Oder?

Zwischen Propaganda und Realpolitik

Vor wenigen Tagen ist im Internet ein Dokument aufgetaucht, dass zumindest Zweifel an der De-Eskalations-Rhetorik der USA aufkommen lässt. Aufgegriffen wurde es von einer Publikation, die ihrerseits ebenfalls als zweifelhaft gilt: das Online-Magazin New Eastern Outlook (NEO).

Herausgeber des Magazins, auf dessen Website der Autor mit deutscher IP nicht zugreifen konnte, ist das Institut für Orientstudien der Russischen Akademie der Wissenschaften.

Die US-Regierung stuft das Online-Magazin als "pseudo-akademisches" Propaganda-Outlet ein, das vom russischen Geheimdienst SVR betrieben wird. Auch das Anti-Desinformationsportal von Nato und EU, EUvsDisinfo, unterhält ein Archiv zu NEO.

Das vorausgeschickt, sind Leserinnen und Leser eingeladen, sich selbst ein Bild von den Informationen im Brookings-Paper zu machen.

Brookings Institution: "Welcher Weg führt nach Persien?"

Das 170-seitige Dokument des Center for Middle East Policy (CMEP) an der Brookings Institution entwirft unter dem Titel "Which Path To Persia" verschiedene Strategien, wie die USA eine Konfrontation mit dem Feindesstaat Iran zu ihren Gunsten entscheiden könnten.

Die insgesamt neun Strategien werden unter den Rubriken "Diplomatische Optionen", "Regime Change", "Militärische Optionen" und "Containment" gefasst.

Außenpolitische US-Thinktanks und deren mediale Ableger reden noch heute einem solchen Regime Change ganz offen das Wort, versprechen sich allerdings von "subtileren" Strategien den größeren Erfolg.

Neben einer – für sich genommen bereits problematischen – Unterstützung von Volksaufständen oder der Finanzierung oppositioneller (militärischer) Gruppen werden in der CMEP-Analyse aber auch taktische Vereinbarungen ("engagement") als Strategien erwogen, um "das iranische Regime zu überzeugen, Verhaltensweisen aufzugeben, die die Vereinigten Staaten als bedrohlich empfinden".

Im Zentrum dieser Überlegungen steht eine bilaterale Übereinkunft zur Anreicherung radioaktiver Substanzen, sprich: ein Atomabkommen.

Was bemerkenswert ist: Derlei taktische Annäherungen erfüllen den Autoren zufolge ihren Zweck auch dann, wenn die USA überhaupt kein Interesse an langfristigen diplomatischen Beziehungen mit dem Iran haben:

Selbst wenn sich die Vereinigten Staaten zu einer umfassenden Invasion entschließen würden, würde die Notwendigkeit, innenpolitische Unterstützung zu gewinnen (und die Hoffnung auf internationale Unterstützung), wahrscheinlich voraussetzen, dass sie dem Iran zunächst ein diplomatisches Angebot machen.

(…)

Der beste Weg, die internationale Ächtung zu minimieren und die Unterstützung zu maximieren (...), besteht darin, nur dann zuzuschlagen, wenn die Überzeugung weit verbreitet ist, dass den Iranern ein hervorragendes Angebot gemacht wurde, (…) das so gut ist, dass nur ein Regime, das entschlossen ist, Atomwaffen zu erwerben, und dies aus den falschen Gründen, es ablehnen würde.

CMEP: Which Path To Persia

All das mag Erinnerungen an den 2015 unter Barack Obama unterzeichneten Joint Comprehensive Plan of Action (JCPOA) und dessen einseitige Aufkündigung unter Donald Trump im Jahr 2018 wecken.

Eine konkrete Empfehlung zu einer Aufkündigung, wie sie NEO behauptet, konnte der Autor im Paper allerdings nicht finden.

Erinnerungen an "unprovozierte Kriege"

Die strategischen Erwägungen von 2009 zeichnen ein Bild davon, wie eine aggressive Außenpolitik in ein Gewand der bloßen Reaktion gekleidet werden kann. Die Ähnlichkeit zu Strategiepapieren, wie sie im Zuge der Ukraine-Krise auch von Telepolis diskutiert wurden, ist auffallend (vgl. Rand Corporation: Overextending and Unbalancing Russia) und umfasst ein völkerrechtlich schwer sanktionierbares Vorgehen: die gezielte, aber verdeckte Provokation:

Es wäre viel besser, wenn die Vereinigten Staaten eine iranische Provokation als Rechtfertigung für die Luftangriffe anführen könnten, bevor sie diese starten.

Natürlich wäre es für die Vereinigten Staaten sehr schwierig, den Iran zu einer solchen Provokation zu veranlassen, ohne dass der Rest der Welt dieses Spiel durchschaut, was es dann untergraben würde. (...)

Eine Methode, die eine gewisse Aussicht auf Erfolg hätte, wäre die Verstärkung der verdeckten Bemühungen um einen Regimewechsel in der Hoffnung, dass Teheran offen oder sogar halboffen Vergeltung üben würde, was dann als unprovozierter Akt iranischer Aggression dargestellt werden könnte.

CMEP: Which Path To Persia

Solche Stellungnahmen rücken auch das Mantra-artig wiederholte Diktum vom "unprovozierten russischen Angriffskrieg" und die Präsenz der Central Intelligence Agency (CIA) in der Ostukraine in ein anderes Licht, wenngleich Völkerrechtsbrüche jedweder Art freilich durch nichts zu rechtfertigen sind.

Die Verbindungen des Strategiepapiers zur CIA werden hier indes nicht willkürlich gezogen. So zählt zu den Förderern der CMEP-Analyse die Smith Richardson Foundation, der eine enge Zusammenarbeit mit der CIA nachgesagt wird. Im Vorwort ist festgehalten, dass die CIA die Publikation auf eine Veröffentlichung vertraulicher Informationen geprüft hat.

Mitautor Kenneth M. Pollack war darüber hinaus als strategischer Berater für den Auslandsgeheimdienst tätig und steht seither im Dienst des American Enterprise Institute, dem wichtigsten Thinktank der US-amerikanischen Neokonservativen, die gemeinhin auch zu den einflussreichsten Gestaltern der Ukraine-Politik zählen.

"Leave it to Bibi"

Das angesichts der aktuellen Entwicklungen wohl brisanteste Szenario trägt den Namen "Leave it to Bibi" und beschreibt die "Erlaubnis oder Ermutigung zu einem israelischen Luftangriff".

Wie bei den amerikanischen Luftangriffen auf den Iran wäre das Ziel dieser Option die Zerstörung wichtiger iranischer Kernkraftanlagen in der Hoffnung, dass dies den Erwerb eigener Atomwaffen durch den Iran erheblich verzögern würde.

In diesem Fall könnte(n) die Vereinigten Staaten die Israelis ermutigen - und vielleicht sogar dabei unterstützen -, die Luftangriffe selbst durchzuführen, in der Erwartung, dass sowohl die internationale Kritik als auch die iranische Vergeltung von den Vereinigten Staaten auf Israel abgelenkt würden.

Die Logik hinter diesem Ansatz besteht darin, dass die Durchführung der Luftangriffe durch Israel (…) einen Ausweg aus dem (…) Dilemma bietet, wonach amerikanische Luftangriffe gegen den Iran (…) jede andere amerikanische Initiative im Nahen Osten untergraben würden - ein Ergebnis, das genau das Gegenteil von dem bewirkt, was eine neue Iran-Politik erreichen soll.

CMEP: Which Path To Persia

Zwar zeigten die USA sich öffentlich durch die mangelnde Absprache mit Israel brüskiert, die dem Angriff in Damaskus am 1. April vorausging, dennoch wirft auch diese Passage einen Schatten auf die US-amerikanische De-Eskalationspolitik.

Braucht Netanjahu "das Monster Iran"?

Auf die Frage, worauf sich das Interesse an einer Intervention und die US-amerikanisch-iranischen Animositäten im Allgemeinen gründen, gibt es viele Antworten.

Während das Oberhaupt der iranischen Theokratie Ali Khameini den Vereinigten Staaten vorwirft, "eine globale Diktatur zu errichten und ihre eigenen Interessen zu fördern, indem sie andere Nationen dominieren und deren Rechte mit Füßen treten" sowie den "zionistischen Imperialismus" Israels zu fördern, sehen sich die USA vom Iran als Sündenbock missbraucht, um dessen autoritär-repressive Innenpolitik zu rechtfertigen.

Eine weniger allgemeine Antwort hat der Autor in einem Artikel des US-Zeitschrift The Nation von 2016 gefunden.

Darin heißt es vom Verfasser Jeff Faux:

Die einzige sinnvolle Antwort ist, dass sie (die Animosität gegenüber dem Iran) eine Unterordnung der US-Politik im Nahen Osten widerspiegelt, (und zwar) unter die Interessen
1) der despotischen Dynastien, die Saudi-Arabien und die Scheichtümer am Golf regieren;
2) der israelischen Regierung, insbesondere unter Premierminister Benjamin Netanjahu;
und 3) der amerikanischen Politiker, Experten, Lobbyisten und Bürokraten der nationalen Sicherheit, deren Karrieren und Bankkonten durch beide gestärkt werden.

Jeff Faux

Faux geht 2016 auch darauf ein, warum es in Israels Interesse liegt, die Konfrontation der USA mit dem Iran zu schüren:

Für Netanjahu ist der Iran das Monster, das er braucht, um seine eigene katastrophale und brutale Politik im Westjordanland und im Gazastreifen zu rechtfertigen und von ihr abzulenken. In den 1980er-Jahren war das Monster der Irak unter Saddam Hussein.

Nach der Zerstörung von Saddams Regime und der Besetzung des Iraks durch die Vereinigten Staaten wurde ein angeblich völkermörderischer und irrationaler Iran zur wichtigsten Schreckenserzählung der israelischen Rechten, die von der politischen Klasse der USA prompt aufgegriffen wurde.

Jeff Faux

Der neue Imperialismus Irans und der Dritte Weltkrieg

In der Debatte um den Konflikt zwischen Iran und Israel entspinnt sich auch hierzulande ein Narrativ, das an die Rahmenerzählung der Ukraine-Krise erinnert.

So veröffentlichte das Handelsblatt erst am vergangenen Freitag einen Artikel mit dem Titel "Das Mullah-Regime: Die neue imperiale Bedrohung".

Narrative der Neocons und AIPAC

Diese Erzählung deckt sich im Wesentlichen mit den Darstellungen der US-amerikanischen Neocons und der Figur des "Revisionismus", wie sie etwa vom Council-on-Foreign-Relations-Magazin Foreign Affairs als Warnsignal für einen Dritten Weltkrieg bemüht wird.

Der US-Politologe John Mearsheimer definiert "Revisionismus" als eine Strategie von Staaten, die "darauf abzielt, das Gleichgewicht der Kräfte durch Frieden oder Krieg zu ihren Gunsten zu verändern oder zu modifizieren".

Dass die Neocons und Vertreter dessen, was Mearsheimer die "Israel-Lobby" nennt, diesen Revisionismus gegenüber der US-Regierung derzeit als direkte Bedrohung der sogenannten regelbasierten Weltordnung unter Leitung der USA ins Feld führen, wurde erst vor Kurzem in einer Anhörung vor dem US-Kongress deutlich.

Gehört wurde Dana Stroul vom Washington Institute for Near East Policy, das vom American Israel Public Affairs Committee (AIPAC) gegründet wurde – laut Mearsheimer ein "Teil des Kerns" der "Israel-Lobby". Stroul trägt dem US-Kongress am 17. April zum Thema Iran-Russland Folgendes vor:

Russland und Iran unterzeichneten 2001, also lange vor der Invasion in der Ukraine, ein strategisches Abkommen mit einer Laufzeit von zwanzig Jahren. Kürzlich schlossen die beiden Länder eine Absichtserklärung zur Aktualisierung dieses Abkommens.

Heute tragen die nichtmilitärischen Aspekte dieser Beziehung Früchte: Russland ist der größte ausländische Investor im Iran; Moskau nutzt die Islamische Republik als Lagerstätte für russisches Öl; es bestehen direkte Verbindungen zwischen den Bankensystemen der beiden Länder; staatliche Energieunternehmen schließen Vereinbarungen zur Erschließung der iranischen Erdöl- und Erdgasfelder ab; und beide Länder arbeiten an der Modernisierung der Infrastruktur und der Intensivierung des Handels.

Das Risiko besteht darin, dass diese sich vertiefenden Energie-, Handels-, Infrastruktur- und Verteidigungsbeziehungen die Widerstandsfähigkeit des Irans, Russlands, Chinas und anderer - ein- und mehrseitig - stärken, um die regelbasierte internationale Ordnung herauszufordern und umzugestalten. Die Vereinigten Staaten profitieren von dieser Ordnung.

Dana Stroul

Wasser auf die Mühlen Strolls dürfte die kürzlich von iranischer Seite mit Genugtuung geäußerte Einschätzung sein, dass der angeblich doch nicht so folgenlose Angriff auf Israel die "Unverwundbarkeit" des Staates offengelegt habe, auf der er seine Dominanz in der Region aufgebaut habe.

Die Achse Iran-Russland

Besonders interessant ist, dass Stroul die Vertreter der US-Regierung offenbar mit dem Argument überzeugen will, dass die Achse Iran-Russland nicht nur die politische Hegemonie der USA bedroht, sondern auch die US-Vormachtstellung auf dem Rüstungsmarkt:

Die militärische Zusammenarbeit zwischen Russland und dem Iran und der Austausch von Verteidigungstechnologie stellt eine Herausforderung für die Sicherheit von Verteidigungsgütern US-amerikanischer Herkunft dar, die an Partner in aller Welt geliefert werden.

(...)

Russland und der Iran nutzen die Ukraine und den Nahen Osten gemeinsam als Laboratorien auf dem Schlachtfeld, um ihre Waffen zu verbessern und Techniken zu entwickeln, mit denen sie die Verteidigungssysteme der USA und ihrer Verbündeten überwinden und Offensivfähigkeiten ausschalten können.

Dana Stroul

Das inzwischen in Israel verbotene und unverstellt Islam-freundliche Nachrichtenmedium Al Jazeera behauptete 2015, dass weniger ein Interesse an den Bodenschätzen des Landes mit den viertgrößten Erdöl-Reserven den entscheidenden Ausschlag für das anhaltende Konfliktgebaren der USA gegeben habe, sondern die kontinuierliche Aufrüstung, die damit verbunden ist:

Seit 2002 hat das US-Verteidigungsministerium rund 100 Milliarden Dollar für die Raketenabwehr ausgegeben, von denen der größte Teil direkt an die wichtigsten verbündeten Militärfirmen geht. Dieser Geldsegen beruht weitgehend auf der Annahme, dass der Iran die USA und ihre Verbündeten mit ballistischen Raketen bedrohen will.

Doch für die US-Rüstungsindustrie steht ein noch größerer Geldsegen auf dem Spiel. Saudi-Arabien und andere Golfregime, die der Anti-Iran-Allianz angehören, haben jahrelang viel Geld in die Kassen der Rüstungsunternehmen des Pentagons gespült.

Ein 2010 erstmals angekündigter Deal mit Saudi-Arabien über Kampfflugzeuge und Raketenabwehrtechnologie sollte über zwei Jahrzehnte 100 bis 150 Milliarden Dollar an Beschaffungs- und Dienstleistungsverträgen einbringen.

Und dieser Tsunami von Geld aus der Golfregion hängt davon ab, dass der Iran als militärische Bedrohung für die gesamte Region identifiziert wird.

Al Jazeera

Ob diese Einschätzung so zutrifft, vermag der Autor an dieser Stelle nicht abschließend zu beurteilen.

Vielleicht ist die Entscheidung kundigeren Lesern vorbehalten.