Ist das Kunst, oder kann das weg?

Seite 2: Neue Speicher setzen sich durch

Die Möglichkeit, Wissensbestände unabhängig von ihrer mentalen Präsenz bei lebendigen Zeitgenossen zu bewahren und nahezu beliebig vermehren zu können, ist der wohl entscheidende Vorteil der Verwendung von Speichermedien gegenüber einer Wissensorganisation, die auf oralem Transfer beruht.

Allen Vorbehalten gegenüber dem fixierten Logos seit Platon zum Trotz hat die medienbasierte Aufbewahrung als externalisierte Erinnerung mit ihren Möglichkeiten der Wiederaneignung den Siegeszug angetreten. In den letzten fünf Jahrhunderten war es das gedruckte Buch, das zum Erfolgsmodell für das Ineinander von Materialität und Idealität wurde.

Michael Hagner hat in einer Monografie, die ganz der Sache des Buches gewidmet ist, prunkvolle Würdigungsformeln für dieses Medium gefunden: Was als "Leitgestirn des Wissens" und "Leitmedium des Geistes" über lange Zeit unschätzbare zivilisatorische Dienste erwiesen habe3, scheint nunmehr jedoch an das Ende seiner dominanten Rolle gekommen.

Die Praxis der planmäßigen Verschränkung von Sinn und Sinnlichkeit bediente sich die längste Zeit vergleichsweise robuster Träger wie Stein, Ton, Holz, Pergament, Papyrus, Metall oder Papier.

Seit kaum mehr als einem Jahrhundert etabliert ein dynamischer Ergänzungs- und Ersetzungsprozess fortwährend Neue Medien und Aufbewahrungsformen, die sich besonders durch ihre Speicherkapazitäten von den alten Verfahren absetzen: Langspielplatten, Mikrofilme, Lochkarten, CDs, Magnetbänder, Festplattenlaufwerke und elektronische Halbleiterspeicher – um nur die geläufigsten Beispiele zu nennen – wurden zu den Gedächtnissen der technischen Zivilisation.

Doch die Steigerung der Aufnahmefähigkeit hat ihren Preis. Die jeweiligen Mitteilungen, nun in maschinenlesbarer Kodierung verfasst, sind menschlichen Lesern nicht mehr ohne Weiteres zugänglich. Es bedarf zusätzlicher technischer Vermittlung durch mechanische oder elektronische Geräte, um Inhalte in eine für Menschen verständliche physische Form zu transferieren.

Die vergleichsweise überschaubare Konstellation aus Beschreibstoff, Mitteilung und Rezipient ist einem komplizierten, für den Einzelnen kaum noch durchschaubaren Funktionskomplex gewichen.

Stumme Speicher und Tendenz zur Fragilität

Aus dieser Abhängigkeit, und vor dem Hintergrund einer raschen technischen Entwicklung, ergibt sich ein Problem für die Aufbewahrung. Denn die für einen Informationsträger passenden Lesegeräte sind womöglich bereits nach wenigen Jahren nicht mehr gebräuchlich und aus der technischen Infrastruktur verschwunden, weil das Medium nunmehr überholt ist.

Zwischen uns und den verstummten Speichern liegen dann Aneignungshürden, nur noch überwindbar mit Hilfe von Dachbodenfunden und Exponaten aus dem Technikmuseum. Diese Schwierigkeit besteht auch prospektiv. Man darf skeptisch sein, ob für die Dekodierung der gegenwärtig erhobenen, produzierten und eingelagerten Informationen in Zukunft noch die erforderliche Technik zur Verfügung stehen wird.

Regelmäßige Kopieraktionen auf jeweils aktuelle Trägermedien sind schon aufgrund der Menge der insgesamt zu vervielfältigenden Inhalte allenfalls eine Verlegenheitsstrategie für ausgewählte Fälle.

Ein weiteres Problem besteht in der Fragilität der Speichermedien selbst. Wartet die steinerne Inschrift mit einer mittleren Überlieferungsdauer von etwa 10.000 Jahren auf, verliert Pergament seine Speicherfähigkeit nach durchschnittlich 1.000 Jahren, die Filmrolle nach 100, und die Vinylplatte mag ihre Tongebilde – abhängig von Nutzung, Qualität und Lagerung – nach rund 50 Jahren auf ewig preisgeben. Als besonders kurzlebig erweisen sich die Datenträger des "digitalen Zeitalters".

Nicht nur unsere Rechner-Festplatten mit ihrer hochpräzisen Mechanik, auch die in zahllosen Kontexten installierten Speicherkarten sind allenfalls einige Jahrzehnte haltbar und bedrohen ihre Daten zudem durch die Möglichkeit von Löschungen.

Die Bemühungen, sämtliche Inhalte durch wiederkehrende Reproduktion auf fabrikneue Träger über jene Lebenszyklen hinaus zu retten, stößt ebenfalls auf das Problem, dass kaum jemand willens oder gar in der Lage wäre, für ein solches Unterfangen dauerhaft die erforderlichen Ressourcen aufzubringen.

Suche nach neuen Lösungen

Wenn auch die Anfertigung von Kopien in ihrer Bedeutung für das, was man das "kulturelle Gedächtnis" nennt, kaum zu überschätzen ist, hat dieses Prinzip nunmehr aufgehört, allgemein praktikable Lösungen für das Erhaltungsproblem zu bieten. Die Suche nach Materialien für neue Aufbewahrungsmöglichkeiten wird also fortgesetzt.

Im Experimentalstadium befinden sich etwa Speicher, die auf molekularer oder atomarer Ebene arbeiten und den hohen Anforderungen vor allem an Lebensdauer und Aufnahmekapazität genügen sollen. Das archivarische Personal wird ergänzt um völlig neue Typen: Bioinformatiker wollen sich synthetisch hergestellter DNA als Speichermedium bedienen, um mithilfe der Lebensbausteine Informationen zu verschlüsseln und über Jahrtausende zu sichern.

Der Begriff der "Erbinformation" wäre damit nicht länger von bloß biologischem Gehalt. Wenn zukünftig vom "kulturellen Genom" die Rede wäre, würde keine Metapher aufgerufen. Denn das Leben in seiner uns bekannten Form und die geschichtliche Welt des Menschen würden tatsächlich in dem gleichen Medium fortgetragen.

Nun ist auch eine Abfolge von Basen keine Inschrift, kein Buch. Die Bemühungen um ein praktikables Aufbewahrungsverfahren kommen darum auch hier nicht ohne einen grundständigen Optimismus aus: In nahen wie fernen Zukünften werden potenzielle Rezipienten über die nötige Lesetechnik und Entschlüsselungskompetenz verfügen müssen, um einen Zugang zu den Hinterlassenschaften bekommen zu können.

Sinnhorizonte und gedankliche Inhalte markieren indes nicht mehr das Zentrum der heutigen Speicherpraxis, denn bewahrt werden zunehmend Vermessungsresultate, aufbereitete Gegebenheiten, "Daten", gewonnen und generiert in nahezu unbeschränkten Zusammenhängen.

Ob Wetterlage, Konsumverhalten, Bewegungsmuster oder Partnerwahl, es sind kaum noch Bereiche der öffentlichen und privaten Sphären denkbar, in denen keine Informationen gewonnen und der global exponentiell wachsenden Datenmenge hinzugefügt werden. Bibliotheken werden weiterhin gebaut, Museen eröffnet, und doch findet ein erheblicher und wachsender Teil der Sicherungspraxis inzwischen nicht mehr in den hergebrachten Institutionen statt.

Aufbewahrung als digitale Datenspeicherung, die fortlaufend vernetzte Infrastrukturen mit Informationen anreichert, ist ein ubiquitärer Vorgang geworden, in zahllosen lokalen Einheiten ebenso wie in Rechenzentren, festungsähnlichen Bauten außerhalb urbaner Räume.

Drohende Gedächtnisverluste

Schon ohne exponentielles Wachstum der zu sichernden Bestände ist Langzeitarchivierung nicht nur ein technisches Problem, sondern auch eine politische und organisatorische Herausforderung.

Vorausgesetzt, die Handhabung aller Schwierigkeiten gelänge, ergäbe sich angesichts der erreichten und prognostizierten Zunahme des weltweiten Aufbewahrungsvolumens jedoch noch ein Hindernis ganz anderer Art: Das Interesse an den Archivalien, das zukünftigen Generationen nicht selten großzügig unterstellt wird, könnte sich als Illusion derer erweisen, denen an der Legitimierung ihrer eigenen Sammelpraxis gelegen ist.

Auch die Annahme, dass zukünftige Lebensweisen die Pflege und den weiteren Ausbau der Speicherkammern überhaupt zulassen, gehört zu den eher selten hinterfragten Voraussetzungen heutiger Aufbewahrungsaktionen.

Allerdings ist auch zu sehen, dass die informationstechnisch gestützte Massendatenspeicherung gar nicht primär auf finale Verwahrung in weit zurückgreifenden Gedächtnisräumen und die Möglichkeit der Aneignung von einst Gedachtem abzielt. Eher geht es um Zusammenführung und Synchronnutzung von Meldungen über gegenwärtige Zustände. Die Fortschrittsidee einer solchen Ingenieurspraxis ist – soweit vorhanden – eine andere.

Das derzeitige Verhältnis von sich verkürzenden Sicherungsperspektiven und immer höheren Aufbewahrungsmengen bietet keine schlechten Voraussetzungen für Amnesien. Von steinzeitlicher Stabilität ist das "digitale Zeitalter" Jahrzehntausende entfernt.

Was in seinen Gangsystemen an Bedeutungsträgern für weit entfernte Tage erhalten bleibt, könnte am Ende mehr dem Zufall unterworfen sein als allen konservatorischen Bemühungen. Unerfindlich, ob die Maler von Lascaux ihre Höhenbilder mit einer Idee von Aufbewahrung schufen.

Höhlenzeichnung in Lascaux. Bild: Codex / CC-BY-SA-4.0

Daran, dass ihre Werke erhalten blieben und im 20. Jahrhundert entdeckt wurden, hatten sie so wenig Anteil wie am weiteren Umgang mit dem Fund. Nach einigen Jahren der Öffnung für Besucher musste der Ort für das allgemeine Publikum jedenfalls wieder geschlossen werden. Die Bilder hatten Schaden genommen, die Wände zu schimmeln begonnen.

Seit 2016 ist ein (analoger) Nachbau weiter Teile der Höhle mit nahezu sämtlichen Bildern und Zeichen zugänglich. Anders als in Frankfurt am Main und Leipzig einigte man sich auf die Nutzung eines Abbildes. Die mikrobiologische Bedrohung des Originals dauert derweil an.