It's not the Nazis, Stupid!

Esther Dyson widersprach auf einem Workshop des Global Internet Projekt den Regulierungsgelüsten der Bundesjustizministerin und äußerte sich zum europäischen Icann-Direktor Müller-Maguhn

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Macht verteilen statt Macht zentrieren, ist die Losung der Netzlady Esther Dyson. Was ihr bei der Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (Icann)) nicht so recht gelang, möchte sie zumindest bei der Regulierung von Netzinhalten verwirklicht sehen. Auf einem Meeting des Global Internet Projects, einem Lobbyverband der Telekommunikations- und Netzindustrie, zog Dyson ein erstes Resümee ihrer Arbeit bei Icann und empörte sich über Zensurbestrebungen des Bundesjustizministerium.

Ein Schar mehr oder weniger ergrauter Männer aus aller Herren Länder tagte die vergangenen drei Tage in Berlin, um über "Sicherheit, Privacy und Zuverlässigkeit des Next Generation Internet" zu beraten. GIP - das steht für Global Internet Project - nennt sich der 1996 von Netscape-Vorstandschef Jim Clarke ins Leben gerufene erlauchte Kreis, zu dem altgediente Manager von Unternehmen wie der Deutschen Bank, der Deutschen Telekom, Fujitsu, IBM, Nokia, Telstra oder WorldCom - vertreten durch niemand Geringeren als den Internet-Daddy Vint Cerf - gehören.

Die selbst ernannten "Führer der Internet-Revolution" hörten sich zwischen Sonntag und Dienstag größtenteils hinter verschlossenen Türen die unterschiedlichsten Standpunkte zur Netzregulierung an. Die extremsten Positionen vertraten dabei mit der Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin und der scheidenden Vorstandsvorsitzenden der Netzverwaltung Icann, Esther Dyson, just zwei Frauen, die sich die Herrschaften jeweils zum Dessert eingeladen hatten und die stellvertretend die deutsche bzw. amerikanische Regulierungskultur auf den Punkt brachten.

Nach dem Abendessen am Montag im Opernpalais nahm Däubler-Gmelin zunächst die GIP-Mitglieder, zu denen sich Gäste aus der gesamten "Netz-Community" wie der Chairman der Internet Engineering Task Force (IETF), Fred Baker, gesellt hatten, ins Gebet. "Wer die großen Chancen des Internets für Wirtschaft, Handel, Kommunikation und Unterhaltung nutzen und ausbauen will, muss sich auch der Verantwortung für die Sicherheit im Internet stellen", ermahnte die Ministerin die beim Espresso sitzenden Entscheider. Der Missbrauch dieses globalen Mediums, forderte sie weiter, "muss gemeinsam bekämpft werden".

Die Macht begrenzen, Informationen zu zensieren

Während auch den aus den USA für den Workshop Angereisten derart von allen Regierungen weltweit mantrahaft vorgetragene Erwartungen nicht unbekannt waren, so dürfte für sie doch die wenig später von Däubler-Gmelin vorgetragene Forderung, Nazi-Seiten weltweit aus dem Netz zu verbannen, überraschend gewesen sein.

Esther Dyson zumindest fühlte sich von den Regulierungsvorstellungen völlig irritiert. Wie sie Dienstag Mittag beim "Arbeitsessen" des GIP während ihres Vortrags sagte, hätten ihr die Äußerungen der deutschen Politikerin die Haare zu Berge stehen lassen. "It's not the Nazis, stupid", entfuhr es der erbitterten und sichtlich aufgebrachten Zensurgegnerin. Wobei mit "stupid" vermutlich nicht direkt die Ministerin gemeint war, sondern Dyson einfach dem amerikanischen Slogan "It's the economy, stupid" eine neue Richtung geben wollte.

Anti-Nazis, so die sich von Mitte November an wieder ganz ihrem Job als Wagniskapitalgeberin widmende Internet-Lady, könnten genauso gefährlich sein wie Nazis. Es gehe schlicht um Macht, und darum, wie diese möglichst dezentralisiert und letztlich unschädlich gemacht werden könnte. Die Lösung der Frage, wie man mit nicht allgemein erwünschten Inhalten im Netz umgehen solle, läge nicht in der Zensur von Informationen, sondern vielmehr darin, "die Macht zu begrenzen, Informationen zu zensieren."

Ganz in der amerikanischen "Free-Speech"-Tradition wies Dyson darauf hin, dass es "besser ist, sich Gegnern argumentativ zu stellen, als sie zum Schweigen zu verurteilen". Letzteres führe nur dazu, dass deren Gedankengut umso verführerischer, weil Geheimnis umwittert, an anderer Stelle wieder auftauche. Die Macht zu verteilen und Individuen die Macht zu geben, ihre eigenen Lösungen zu finden, ist daher Dysons Generalansatz, den sie nicht nur im Umgang mit Neonazis, sondern auch für den Schutz der Privatsphäre oder natürlich auch für die Verwaltung der wichtigen Netzressourcen in Form von Domain-Namen und Servernummern, die die von ihr Jahre lang angeführte Internet Corporation for Assigned Names and Numbers übernommen hat, propagiert.

Das mag sich bezogen auf Icann zunächst wenig glaubhaft anhören, da wohl kaum eine andere Organisation in letzter Zeit heftiger für ihre unkontrollierte Machtausübung und Intransparenz kritisiert wurde als das Netzarchitekturbüro. Doch Icann, versuchte Dyson ihre Zuhörer zu überzeugen, stelle letztlich den Versuch dar, das Internet durch die ganze Netzgemeinde zu verwalten und nicht etwa durch die US-Regierung. Der Gedanke hinter Icann sei, Flaschenhälse bei der Netz-Administration abzubauen und soviel Macht wie möglich an die unterschiedlichsten Parteien und die User selbst zu verteilen.

Der erste Schritt auf diesem Weg sei es gewesen, Wettbewerb für Network Solutions zu schaffen, also für die Firma, die jahrelang allein an der Vergabe von Cyberimmobilien innerhalb der begehrtesten Top Level Domains (TLDs) wie .com oder .org verdiente. Der zweite Schritt sei die nun anstehende Erweiterung des Namensraums um neue übergeordnete TLDs. Endziel sei es, "genug TLDs für alle" zu schaffen. Die vom Icann-Vorstand vorgesehene Kür von fünf bis zehn neuen Domains, die auf dem Programm des Icann-Treffens nächste Woche in Los Angeles steht, sieht Dyson dabei "nur als ersten Test".

Andy Müller-Maguhn ist nicht gefährlich

Die Wahl von fünf Icann-Direktoren durch die Nutzer erwähnte Dyson dagegen nur kurz. Vielleicht taugt das Mitte Oktober zu Ende gegangene Experiment einfach nicht für die These der Machtverteilung, da in der Business-Community nicht alle mit dem Ausgang zufrieden sind und kurz nach der Wahl vier weitere, eigentlich nur für eine Übergangsfrist bestimmte Mitglieder des Icann-Aufsichtsrats kurzerhand ihre Amtszeiten bis 2002 verlängert hatten. Auf jeden Fall versuchte die Chefin der EDventure Holding den versammelten Managern vor allem die Angst vor dem Schreckgespenst Andy Müller-Maguhn zu nehmen, dem Hacker, den die europäischen Surfer zu ihrem Stellvertreter bei Icann gewählt haben (Harter Diskurs und freier Meinungsaustausch statt Filter).

"Das ist keine gefährliche Person", berichtete Dyson von ihrem ersten Treffen mit dem Sprecher des Chaos Computer Clubs vor anderthalb Wochen. "Das ist ein ganz normaler Typ". Allerdings verstehe er noch nicht, wie Icann wirklich funktioniere. "Er glaubt, dass Icann nichts anderes sei als eine Marionette großer Unternehmen", schüttelte Dyson den Kopf über die Ansichten Müller-Maguhns. Sicher ist sich die Netzlady, dass der 29-jährige Hacker bei Icann "einiges lernen wird". Gleichzeitig werde das Board allerdings auch einiges von ihm lernen: "Wir müssen nur sicherstellen, dass beide Seiten aufeinander hören".

Die in Ehren ergrauten Manager und ihre jüngeren Kollegen lauschten andächtig den Worten der Netzprophetin und dankten ihr mit kräftigem Beifall für ihr bisheriges Engagement für die Fortentwicklung des Internets, um dann die Diskussion über Virenautoren, Denial-of-Service-Attacken und Schutzmöglichkeiten wieder aufzunehmen. Einig waren sie sich am Ende (genauso wie am Anfang) des Workshops, dass Regierungen der Versuchung widerstehen müssten, alte Regulierungsmodelle auf das Internet von heute und auf das der nächsten Generation zu übertragen, und Sicherheitsvorkehrungen lieber der Wirtschaft überlassen sollten. Allzu viel Eindruck schien der Auftritt der Bundesjustizministerin da wohl nicht hinterlassen zu haben.