Je weniger Diplomatie, desto mehr Atomkriegsgefahr

Ende der Diplomatie

Es ist Zeit für Friedensgespräche. Der tödliche und zerstörerische Ukraine-Krieg muss beendet werden. Denn er wird immer gefährlicher – für uns alle.

In den vergangenen Jahren ist es zu einem völligen Zusammenbruch der Diplomatie zwischen den USA und Russland und ebenfalls zu einer fast vollständigen Beendigung von diplomatischen Gesprächen zwischen den USA und China gekommen. Europa, das sich hinsichtlich seines Wohlergehens viel zu sehr von den USA abhängig gemacht hat, folgt hier einfach der Washingtoner Linie.

Das Fehlen von Diplomatie fördert eine Dynamik der Eskalation, die zu einem Atomkrieg führen kann. Für den Weltfrieden hat deshalb die Wiederherstellung eines diplomatischen Umgangs der USA mit Russland und China oberste Priorität.

Persönliche Beleidigungen und schockierende Rhetorik

Ein Kennzeichen der derzeitigen Situation sind die unaufhörlichen persönlichen Beleidigungen von Präsident Joe Biden gegenüber seinem russischen und chinesischen Amtskollegen.

Statt sich auf die Politik zu konzentrieren, hat Biden Präsident Wladimir Putin persönlich angegriffen. Kürzlich bezeichnete er Putin als "verrückten Idioten". Im März 2022 erklärte er:

Um Gottes Willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben.

Kurz nach seinem Treffen mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping im vergangenen Herbst nannte Biden diesen einen "Diktator".

Diese krude Personalisierung der komplexen politischen Beziehungen zwischen den Großmächten ist dem Frieden und einer Lösung von Problemen zwischen ihnen nicht zuträglich. Die grobe Rhetorik und das Fehlen ernsthafter Diplomatie haben darüber hinaus die Schleusen für eine schockierender rhetorischer Verantwortungslosigkeit geöffnet.

So twitterte kürzlich der Präsident von Lettland "Russia delenda est" ("Russland muss zerstört werden") und paraphrasierte damit den bekannten lateinischen Ausspruch von Cato dem Älteren, der vor dem Dritten Punischen Krieg zur Zerstörung Karthagos durch Rom aufgerufen hatte.

Mahnende Worte von J.F. Kennedy

Diese gänzlich kindischen Äußerungen liegen alle auf einer Ebene und sollten uns dazu veranlassen, uns die mahnenden Worte von Präsident John F. Kennedy in Erinnerung zu rufen, der sagte, die wichtigste Lehre, die er aus der Kubakrise gezogen habe, sei die unbedingte Notwendigkeit gewesen, eine Demütigung des nuklear bewaffneten Gegners zu vermeiden:

Vor allem müssen die Atommächte, während sie ihre eigenen vitalen Interessen verteidigen, jene Konfrontationen vermeiden, die einen Gegner vor die Wahl stellen, entweder einen demütigenden Rückzug anzutreten oder einen Atomkrieg zu beginnen. Einen solchen Kurs im Atomzeitalter einzuschlagen, wäre nur ein Beweis für den Bankrott unserer Politik – oder für einen kollektiven Todeswunsch für die Welt.

Verhandlungen stehen nicht auf dem US-Programm

Aber es gibt noch ein Problem, das tiefer liegt. Die gesamte US-Außenpolitik basiert derzeit darauf, dass versucht wird, bloß die Motive der Gesprächspartner herauszufinden, anstatt tatsächlich mit ihnen zu verhandeln. Vonseiten der USA wird dazu immer wieder gesagt, dass man der anderen Seite nicht trauen könne, sodass es sich nicht lohne, mit Verhandlungen zu beginnen.

Verhandlungen werden heute als sinnlos, nicht mehr zeitgemäß und als Zeichen der Schwäche angesehen. Uns wird immer wieder erzählt, dass der Brite Neville Chamberlain 1938 versucht habe, mit Hitler zu verhandeln. Hitler habe ihn aber ausgetrickst, und genau das Gleiche würde bei den Verhandlungen heute passieren.

Stattdessen werden immer neue "Hitler" geschaffen

Um das zu verdeutlichen, wird jeder Gegner der USA vorab in den Medien als ein neuer Hitler dargestellt, wie das bei Saddam Hussein, Baschar al-Assad, Wladimir Putin, Xi Jinping und vielen anderen geschehen ist, und deshalb sei jede Verhandlung mit ihnen von vornherein vergebliche Liebesmüh.

Das Problem ist, dass das eine Verharmlosung der Geschichte ist und uns angesichts der heutigen Konflikte an den Rand eines Atomkriegs bringt. Die Welt ist dem nuklearen Armageddon näher als je zuvor – 90 Sekunden vor Mitternacht nach der Weltuntergangsuhr –, weil die nuklearen Supermächte nicht miteinander verhandeln. Und die USA sind tatsächlich der am wenigsten diplomatische aller UN-Mitgliedsstaaten geworden, wenn man die Staaten hinsichtlich der Einhaltung der UN-Charta miteinander vergleicht.

Konflikte sind strategische Dilemmata

Aber Diplomatie ist von entscheidender Bedeutung, denn die meisten Konflikte sind das, was Spieltheoretiker als "strategische Dilemmata" bezeichnen.

Ein strategisches Dilemma ist eine Situation, in der Frieden (oder, allgemeiner, Kooperation) für beide Kontrahenten die bessere Lösung wäre, aber auf beiden Seiten besteht auch ein Anreiz, in einem Friedensabkommen den Gegner zu betrügen und zu übervorteilen.

Während der Kubakrise zum Beispiel war Frieden sowohl für die USA als auch für die Sowjetunion die bessere Wahl als ein Atomkrieg, aber beide Seiten befürchteten, dass die andere Seite täuschen würde, wenn sie einer friedlichen Lösung zustimmte – zum Beispiel mit einem nuklearen Erstschlag.

In solchen Fällen sind Mechanismen zur Einhaltung der getroffenen Abmachungen der Schlüssel zum Frieden. Oder, wie Präsident Ronald Reagan über die Verhandlungen mit dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow gesagt hat und dabei eine alte russische Maxime wiederholte: "Vertraue, aber überprüfe".

Wie Vertrauen aufgebaut werden kann

Es gibt viele Mechanismen, um ein derartiges Vertrauen aufzubauen.

Grundsätzlich können sich die beiden Seiten gegenseitig daran erinnern, dass sie sich in einem "Spiel, das sich wiederholt", befinden, was bedeutet, dass es regelmäßig zu strategischen Dilemmata zwischen ihnen kommen wird.

Wenn eine Seite heute betrügt, tötet das die Chancen für eine zukünftige Zusammenarbeit. Aber es gibt auch viele weitere Mechanismen zur Durchsetzung der getroffenen Abkommen: formelle Verträge, Garantien Dritter, systematische Überwachung, Stufenvereinbarungen und dergleichen.

JFK war zuversichtlich, dass das Abkommen zur Beendigung der Kubakrise, das er im Oktober 1962 mit dem sowjetischen Staatschef Nikita Chruschtschow geschlossen hatte, Bestand haben würde – und das war dann auch so. Später war er zuversichtlich, dass auch der Vertrag über das teilweise Verbot von Atomversuchen, den er im Juli 1963 mit Chruschtschow ausgehandelt hatte, Bestand haben würde – und das war ebenfalls der Fall.

Erfolg eines Abkommens abhängig vom beiderseitigen Interesse

Wie JFK über solche Abkommen gesagt hat, hängt der Erfolg eines Abkommens davon ab, dass dieses in Interesse beider Parteien liegt:

Vereinbarungen dieser Art sind sowohl im Interesse der Sowjetunion als auch in unserem Interesse – und selbst bei den feindlichsten Nationen kann man sich darauf verlassen, dass sie die unter diesen Bedingungen eingegangenen Verpflichtungen akzeptieren und einhalten, aber nur die vertraglichen Verpflichtungen, die in ihrem eigenen Interesse liegen.

Spieltheoretiker beschäftigen sich seit mehr als 70 Jahren mit strategischen Dilemmata. Am bekanntesten ist das Gefangenendilemma. Sie haben wiederholt festgestellt, dass ein wichtiger Weg zur Zusammenarbeit in einem strategischen Dilemma der Dialog ist, auch der unverbindliche Dialog. Die menschliche Interaktion erhöht die Wahrscheinlichkeit einer für beide Seiten vorteilhaften Zusammenarbeit dramatisch.

Hatte Chamberlain Unrecht, als er 1938 in München mit Hitler verhandelte? Nein. Er irrte sich in den Einzelheiten, indem er eine unkluge Vereinbarung traf, die Hitler nicht einhalten wollte, und dann naiv den "Frieden für unsere Zeit" verkündete.

Trotzdem trugen Chamberlains Verhandlungen mit Hitler letztlich zu Hitlers Niederlage bei. Indem das gescheiterte Münchner Abkommen Hitlers Perfidie der Welt deutlich vor Augen führte, ebnete es den Weg für den entschlossenen Winston Churchill, der in Großbritannien an die Macht kam.

Dessen Machtübernahme konnte dann mit einer überzeugenden Begründung und großer öffentlicher Unterstützung in Großbritannien und auch weltweit durchgesetzt werden und führte schließlich zu der britisch-US-sowjetische Allianz, die Hitler besiegt hat.

Echte Verhandlungen über Nato-Erweiterung und gemeinsame Sicherheit erforderlich

Die heute wiederholt vorgebrachte Analogie zu 1938 ist auf jeden Fall grob vereinfachend und in mancher Hinsicht sogar irreführend. Der Krieg in der Ukraine erfordert echte Verhandlungen zwischen den Parteien – Russland, der Ukraine und den USA –, um Themen wie die Nato-Erweiterung und die gegenseitige Sicherheit aller Konfliktparteien anzugehen.

Diese Fragen stellen echte strategische Dilemmata dar, was bedeutet, dass alle Parteien – die USA, Russland und die Ukraine – durch Verhandlungen Vorteile erreichen können, indem sie den Krieg beenden und ein für beide Seiten zufriedenstellendes Ergebnis erzielen.

Ehrlichkeit im Umgang mit der anderen Seite notwendig

Ferner waren es vorwiegend die USA und ihre Verbündeten, die bisher Vereinbarungen gebrochen und Diplomatie verweigert haben. Einige seien hier kurz erwähnt:

• Die USA haben ihre feierlichen Versprechen gegenüber dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow und dem russischen Präsidenten Boris Jelzin gebrochen, dass sich die Nato keinen Zentimeter nach Osten ausdehnen werde.

• Die USA haben Russland getäuscht, indem sie den gewaltsamen Putsch in Kiew unterstützten, der den ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch stürzte.

• Die USA, Deutschland, Frankreich und Großbritannien redeten mit gespaltener Zunge und haben sich geweigert, das Minsk-II-Abkommen zu unterstützen.

• Die USA sind 2002 einseitig aus dem Vertrag über die Abwehr ballistischer Raketen und 2019 aus dem Intermediate Force Agreement ausgestiegen.

• Die USA haben sich geweigert zu verhandeln, als Putin am 15. Dezember 2021 den Entwurf eines russisch-amerikanischen Vertrags über Sicherheitsgarantien vorschlug.

Russland zu Friedensverhandlungen bereit

Tatsächlich gibt es seit Anfang 2022 keine direkte Diplomatie mehr zwischen Biden und Putin. Und als Russland und die Ukraine im März 2022 direkt verhandelt haben, schritten Großbritannien und die USA ein, um ein Abkommen auf der Grundlage der ukrainischen Neutralität zu blockieren.

Im Gegensatz dazu bekräftigte Putin in seinem Interview mit Tucker Carlson im vergangenen Monat die Offenheit Russlands für Verhandlungen und tat dies kürzlich erneut.

Verhandlungen der einzige Ausweg

Aber der Krieg in der Ukraine tobt weiter, mit Hunderttausenden Toten und Zerstörungen im Wert von Hunderten Milliarden US-Dollar. Wir nähern uns dem nuklearen Abgrund und es ist höchste Zeit zu reden und zu verhandeln.

Es wäre zu wünschen, dass sich die Verantwortlichen an die unsterblichen Worte und die Weisheit von JFK in seiner Antrittsrede erinnern: "Let us never negotiate out of fear. But let us never fear to negotiate." (deutsch: "Lasst uns niemals aus Angst verhandeln. Aber wir sollten auch keine Angst haben, zu verhandeln."

Jeffrey Sachs (1954, Detroit, Michigan) ist ein US-amerikanischer Ökonom und Professor. Er promovierte 1980 an der Harvard University in Wirtschaftswissenschaften. Sachs' Karriere ist geprägt von verschiedenen akademischen Positionen sowie Beratertätigkeiten für bedeutende internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen, den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Weltbank. Als Direktor des Center for Sustainable Development an der Columbia University und als Professor setzt er sich intensiv für nachhaltige Entwicklung ein. Besonders bekannt ist Sachs für seine maßgebliche Rolle bei der Entwicklung von Wirtschaftspolitiken in Osteuropa während des Übergangs vom Kommunismus zum Kapitalismus. Er gilt als Verfechter globaler Armutsbekämpfung.

Sachs' Leistungen in der Wirtschaftswissenschaft brachten ihm zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen ein. Sein Werk und sein Einsatz für eine gerechtere Weltwirtschaft haben seinen Einfluss weit über die Grenzen der akademischen Welt hinaus ausgedehnt. In "The Price of Civilization: Reawakening American Virtue and Prosperity" (2011) setzt er sich mit Fragen der US-Gesellschaft und Wirtschaft auseinander.

Telepolis hat von Sachs eine Reihe von Artikeln über Hintergründe, Verlauf und Auswirkungen des Ukraine-Kriegs und des Israel Kriegs veröffentlicht. Ebenso wie John J. Mearsheimer gehört Sachs zu den herausragenden US-Wissenschaftlern, die eine klare realistische und kritische Position gegenüber der verhängnisvollen US-Außenpolitik einnehmen.

Der vorliegende Artikel mit dem Titel "The Urgency of Diplomacy" (deutsch: "Die Dringlichkeit der Diplomatie") erschien am 20. März 2024 auf der US-Website Common Dreams. Er wurde mit Erlaubnis des Autors von Klaus-Dieter Kolenda ins Deutsche übertragen und mit einigen Zwischenüberschriften versehen.

Übersetzer: Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e. V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de