Journalismus: Bekenntnisstrudel statt Wissen

Gute Berichterstattung braucht genaues Hinschauen; dafür fehlen immer mehr die Mittel

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Die Medienwelt entwickelte sich in den letzten Jahren in einem weltweit bisher nicht dagewesenen Umfang. Einerseits war und ist dieses eine Folge des technischen Fortschritts, zum Anderen lag dem die Erkenntnis zugrunde, dass Informationen große Profite auf dem Markt abwerfen, wenn sie verbreitet werden. Die Entdeckung, dass Information ein lukratives Geschäft sein kann, führte in der westlichen Welt zum Zufluss des Großkapitals in die Medien.

In den Führungspositionen der Medienkonzerne wurden und werden Journalisten und Redakteure zunehmend von Geschäftsleuten ersetzt. Diese Entwicklung wird flankiert von einer Konzentration der Medienmacht, hinter der sich natürlich auch politische Tendenzen etablieren, die den ursprünglichen Anspruch der Medien aushöhlen, Informationen zu liefern, in Verbindung mit Wahrheitssuche und der Schärfung des politischen Bewusstseins. Heute steht in den meisten westlichen Medien eine andere Agenda auf dem Programm.

Betrübliche Provinzialisierung

Seit der Entdeckung, dass es sich bei Informationen um eine profitable Ware handelt, wird diese nicht mehr an den ursprünglichen Kriterien von Wahrheit und Lüge gemessen, sondern ordnet sich mehr und mehr den Gesetzten des Marktes unter, dem Streben nach höheren Gewinnen, dem Ziel ein Monopol zu errichten. Das führte dazu, dass die Globalisierung gerade in der Medienwelt, besonders in der Auslandsberichterstattung zu einer betrüblichen Provinzialisierung führt.

Obwohl es heute wahrscheinlich wichtiger ist als zu früheren Zeiten, über den Lauf der Welt, über Kriege und Krisen, deren Ursachen und Folgen zu informieren, wurden die Stellen von Auslandskorrespondenten massiv eingespart. Die Tatsache, dass zu Beginn des Syrien-Konfliktes die Desinformationen und Falschmeldungen eines Snack-Shop Beitreibers aus London, der sich den klingenden Namen Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte gab, von weltweit führenden Medien - darunter dem Sender CNN- ungeprüft verbreitet wurden, ist nur ein Beispiel unter vielen.

Der Bürgerkrieg in Syrien, wie auch der Konflikt in der Ukraine, liefern fast tagtäglich Anschauungsmaterial für diese Entwicklung, welche die Rolle der Medien in der Demokratie als vierte Gewalt gefährdet. Viele Zeitungen und Zeitschriftenwurden inzwischen Opfer dieser Entwicklung. Ihr Geschäftsmodell ist in Bedrängnis geraten, ihre Glaubwürdigkeit befindet sich im Sinkflug. Der deutsche Außenminister Frank Walter Steinmeier mahnte kürzlich in einer Rede:

Ein eigenes Urteil erfordert eigene Erkenntnisse. Wir brauchen Journalisten, die sich Zeit nehmen und in eine Materie tief einsteigen. Dazu gehört auch ein Korrespondentennetz. Ich weiß, das ist teuer, und wahrscheinlich kostet ein erfahrener Korrespondent im Ausland so viel wie drei Nachwuchsleute in der Zentrale. Der "Spiegel" und der "Stern" haben in den vergangenen fünfzehn Jahren die Zahl ihrer Auslandskorrespondenten halbiert, das eine Blatt verkleinert das Büro in Washington, das andere schließt Moskau ganz und so weiter.

Den Mangel an Präsenz und Ortskenntnis kann niemand auf Dauer durch Meinungsstärke ausgleichen. Ich bezweifele, dass sich die Presse selbst und ihren Lesern damit einen Gefallen tut. Korrespondenten vor Ort, die im täglichen Leben die Probleme ihres Gastlandes erspüren, sind auch in Zeiten des Internets nicht zu ersetzen. Es sollten nicht erst Reporter aus Hamburg oder Berlin in ein Land geschickt werden, wenn das Auswärtige Amt einen Krisenstab eingerichtet hat.

Damit hat er zweifelsohne Recht, auch wenn es merkwürdig anmutet, dass ein Spitzenpolitiker sich öffentlich über den Zustand der Medien sorgt, wo doch Kritiker schon von dem Entstehen einer Mediokratie sprechen , also einer ungesunden Vernetzung von Politik und Medien, die zu einer neuen Herrschaftsform führt, die zwar noch etwas mit dem altgriechischen Begriff "Kratie", also Herrschaft, aber nichts mehr mit "Demos", also dem Volk , zu tun hat.

Verblüffendes Unwissen

Die Welt der heutigen Medien hat inzwischen in den westlichen Demokratien eine solche Ausdehnung erfahren, dass sie sich selbstgenügt, ein eigenständiges, in sich geschlossenes Leben führt. Der Konkurrenzkampf innerhalb der Medien beherrscht diese weit stärker, als die Welt um sie herum. Wie eine dichtgedrängte Herde zieht heute eine große Schar von Medienvertretern um die Welt, wenn diese ihre klugen Berichte nicht am heimischen Schreibtisch anfertigen, ohne ihr Weltbild vor Ort in Frage stellen zu lassen.

Dabei ist das Unwissen der Medienvertreter über Ereignisse, von denen sie berichten sollen, oft verblüffend. Es wundert deshalb nicht, dass im syrischen Bürgerkrieg beispielsweise das mediale Bild erstellt wurde, das ganze Volk befinde sich in Aufruhr gegen die Diktatur Assads, ohne die Leser, Zuhörer und Zuschauer über die komplizierte und vielschichtige ethnische Struktur dieses Landes sowie die historischen und geopolitischen Hintergründe ausreichend zu informieren.

Wer spricht denn heute noch beispielsweise von der "Freien Syrischen Armee"? Weshalb wird der unheimliche Aufstieg des Islamischen Staates nicht in Verbindung gebracht mit der militärischen Aufrüstung, welche diese radikal-sunnitische Truppe durch die engen Verbündeten des Westens in der Region, Saudi-Arabien und Katar, zuvor erhalten hatte? Warum wird diese dramatische Entwicklung nicht zum Anlass genommen, die Bündnispolitik des Westens mit Riad und Dohar kritisch zu hinterfragen, statt das Phänomem ISIS ausschließlich als islamistische Horror- und Gruselshow zu inszenieren, welches anscheinend unerwartet vom Himmel fiel.

Wieso übernehmen Journalisten unkritisch die Behauptungen führender westlicher Politiker, die Annexion der Krim stelle einen Bruch des Völkerrechts dar, während die Okkupation Bahrains durch saudische Truppen mit westlichen Waffenlieferungen nach Riad belohnt wird? Statt Hintergrundinformationen wird Gesinnungsjournalismus produziert, den die Publizistin Sabina Lietzmann einst als Mülljournalismus definierte. In seinem Buch "The Image", welches 1962 erschien, stellte derSchriftsteller Daniel. J Boorstin die These auf:

Wir erfahren und sehen die Welt nicht mehr direkt, sondern durch eine verzerrende, falsche, trügerische und deformierende Widerspiegelung in Zeitungen, im Fernsehen, in der Werbung. Die natürliche Welt hat sich entfernt, ist verschwunden, ihren Platz hat die imaginierte Welt eingenommen, die wir beliebig verändern können, je nach unseren Interessen und Wünschen.

In den Bekenntnisstrudel gerissen

Die Zeilen klingen heute, im Internetzeitalter, aktueller als zum Zeitpunkt ihrer Niederschrift vor über einem halben Jahrhundert. Doch noch ist nichts verloren, denn die Medienrevolution ist noch im Gang. Dieses neue, frische Phänomen in der Kulturgeschichte der Welt ist noch zu jung, um wirksame Maßnahmen gegen Fehlentwicklungen wie Manipulationen entwickeln zu können.

Es besteht aber Hoffnung, dass dies zukünftig der Fall sein wird. Je polarisierter die Welt ist, je stärker Bekenntnisse gefordert sind, desto schwerer haben es differenzierte Positionen. Guter Journalismus aber zeichnet sich durch genaues Hinschauen, durch Grautöne und eben nicht durch Schwarz-Weiß-Bilder aus.

Die Gefahr besteht, dass der Journalismus aber zunehmend in diesen Bekenntnisstrudel gerissen wird - und damit bei den Angegriffenen den Wunsch auslöst, die Pressefreiheit zu beschneiden. Was wir also brauchen ist bei allen - Politikern ebenso wie Bürgern, Journalisten ebenso wie Zuschauern und Lesern - die Bereitschaft, genau hinzusehen und sich nicht mit schlichten Bildern zufrieden zu geben. Die stimmen nämlich nie.