Journalismus zum Ukraine-Krieg: Von Nachrichtenerzählern und Moderationsgefreiten

Zu einigen aktuellen Aspekten von Kriegsberichterstattung und Narrativismus

Journalismus mit Blick auf den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der russischen Führung gegen die Ukraine hat auf vielen Ebenen zu tun mit "Storytelling", also mit dem Erzählen von Geschichte(-n). Damit sei hier nicht primär der Aspekt gemeint, inwiefern die vermittelten Informationen der Wahrheit entsprechen. Sondern es sei vor allem der Schwerpunkt gelegt auf einige Seiten dessen, was erzähltheoretisch und -praktisch "Narrativ" und "Narrativität" genannt wird.

"Narrativität" ist auch im Journalismus ein sehr bewährter und wirksamer Kommunikationsmodus. Sein Einsatz hängt mit der "Glaubwürdigkeit" oder besser: Vertrauenswürdigkeit journalistischer Beiträge eng zusammen.

Narrativität beschreibt laut Matthias Aumüller Darstellungen, deren Gegenstand eine zusammenhängende Ereignisfolge ist. Ihr Zusammenhang werde durch eine (oder wenige) Figur(-en) mit menschlichen oder doch menschenähnlichen (anthropomorphen) Eigenschaften begründet.

Oft werde solche Narrativität näher bestimmt durch ein einheitliches, aber nicht unbedingt realistisches Raumzeitkontinuum. Die Ereignisfolge in ihrer Dramaturgie sei üblicherweise durch Kausalität zusätzlich verklammert, also durch das Behaupten von Ursache-Wirkungs-Beziehungen.

Mittels Narrativität kann – gleichsam auf Objektebene – oft eine relativ konkrete Geschichte erzählt werden. Hinsichtlich des aktuellen Krieges zum Beispiel, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj einen heldenhaften Kampf gegen die russischen Invasoren (an-)führe. Solche Heroisierungen scheinen ohne entsprechende mediale Konstruktionen kaum möglich (siehe kritisch hierzu u.a. "Leichensäcke für Supermänner").

In gewisser Weise auf einer Meta-Ebene kann hiervon unterschieden werden, welches "Narrativ" einen umfassenden, oft unausgesprochenen Deutungsrahmen liefert für die jeweiligen Aktualisierungen von einzelnen (Teil-)Geschichten.

Ein "Narrativ" ist laut Duden daher auch eher auf der gesellschaftlichen Makro- oder zumindest Meso-Ebene zu verorten: als verbindende, sinnstiftende Erzählung oder eben Geschichte. Intersubjektiv, wenn nicht sogar "objektiv" wirkt dann das jeweilige Narrativ einer Nation, einer ganzen Kultur oder doch zumindest einer sozialen Gruppierung.

Als entsprechendes "Narrativ" kann im aktuellen Krieg die oft auch implizite Rahmensetzung (pro-)westlicher Eliten vom eigenen Kampf für Demokratie, Freiheit und individuelle Menschenrechte dekonstruiert werden, mit Blick auf die Seite der russischen Führung und deren prorussische Kombattanten deren Narrativ, es gehe gegen Faschismus und Genozid in der Ukraine.

Ich habe um das Jahr 2005 gemeinsam mit Kolleg:innen begonnen, ein kritisches Konzept von "Narrativismus" vor allem mit Blick auf Journalismus in der audiovisuellen Kriegs- und Krisenberichterstattung zu entwickeln (als einen Überblick dazu siehe hier).

Damit Journalist:innen nicht zu sehr "Nachrichtenerzähler" (so der Titel meines Buches von 2009) oder eben, wie es jüngst Friedrich Küppersbusch in der heute show kritisierte, "Moderationsgefreite" werden (müssen), sollten Alternativen in Richtung "nachhaltiger Narrativität" im journalistischen Berufsfeld und damit auch hier zugunsten eines "Konstruktiven Journalismus" selbstkritisch diskutiert werden.

"Narrativismus" als eine kritische Folie habe ich in meiner Studie "Die Nachrichtenerzähler" als induktiv gewonnenen Arbeitsbegriff eingeführt, der theoretische und auch praktisch-normative Verallgemeinerungen zulassen soll. Angemessene Narrativität als eine – allerdings sehr wirksame – Kommunikationsstrategie schlägt anscheinend nicht zuletzt in Krisen- und Kriegszeiten um in "Narrativismus", der im Kern als eine Verselbständigung und Vereinseitigung der Vermittlung bestimmt werden kann.

Deskription und Narration bis hin zum verselbständigten Narrativismus gehen hierbei – und das relativ unabhängig von der Frage der Faktizität des Geschehens – ineinander über. Die psychosozialen Transfers laufen weniger über kognitive Argumentationen als über emotionale Assoziationen.

Es lassen sich Aspekte wie Über-Vereinfachung, Über-Emotionalisierung und Über-Personalisierung beobachten. Ein meist komplexes Mitweltgeschehen wird so tendenziell auf "Schwarz-Weiß-" oder "Gut-Böse-Schemata" reduziert.

Mit der Festlegung auf die eine zentrale Hauptfigur der jeweiligen Geschichte ist oft auch eine gewisse Parteinahme verbunden, zumindest implizit, nicht selten aber sogar explizit.

Für problematisch halte ich diese Tendenz in Bezug auf gelingende gesellschaftliche Kommunikation, sobald solche Storys kaum im Kontext anderer, ergänzender Meldungen und Berichte, kaum im Zusammenhang mit Interviews, Kommentaren, Dokumentationen etc. erscheinen.

Solcherart Narrativismus lässt den klassischen Nachrichtenfaktor "Variation" und das journalistische Qualitätskriterium "Vielfalt" im Sinne von Perspektivwechsel, Objektivierung und Ausbalancierung der Beiträge systematisch unterbelichtet. Das Storytelling in eine Richtung wird überzogen, und somit wird zugleich Anderes in vieler Hinsicht an den Rand gedrängt oder gar verdrängt.

Wie Anschlüsse an andere Diskurse erschwert werden

Mit einer Überhöhung narrativer Darstellungsformen können sich Ideologien im Sinne von "Narrativen" verselbständigen und Abschottungstendenzen in der gesellschaftlichen Kommunikation verstärken, weil Anschlüsse an andere Diskurse erschwert werden.

Hier lässt sich auch von Gefahren autoritärer Schließungen selbst oder gerade in politisch demokratisch verfassten Gesellschaften reden, worauf nicht zuletzt die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot verweist. Das scheint gerade nicht nur die sogenannten "Ränder" des politischen Spektrums zu betreffen, sondern nicht zuletzt die selbst erklärte "Mitte" der Gesellschaft.

Medienkompetenz sollte auch daher Skepsis insbesondere gegenüber dem objektivistischen Schein journalistischer Beiträge einhalten, worauf in Weiterentwicklung der tradierten Nachrichtenwerttheorie u.a. Winfried Schulz verweist: Nachrichtenfaktoren als Muster der Wirklichkeitskonstruktion, als Hilfsmittel der Journalisten sollen notwendige Selektionsentscheidungen erleichtern und damit zugleich journalistische Hypothesen über die Realität ausdrücken. Nachrichtenfaktoren sind demnach vor allem Produktions- und erst dann Wirklichkeitsmerkmale.

Es bleibt hier zu fragen, inwieweit sich ein Nachrichtenfaktor "Narrationspotential" rekonstruieren lässt, der folgende tradierte Nachrichtenfaktoren einbeziehen kann: Eindeutigkeit (Überschaubarkeit), Betroffenheit (als besondere Form von Relevanz), Konsonanz, Personalisierung, Negativismus (bezogen auf Krieg/Krise/Konflikt/Kontroverse) und Visualität.

Im kritischen Aufgreifen von Theorien und Praxen sowohl der Nachrichtenfaktoren und -werte als auch von Boulevard-Kriterien ließen sich in dieser Richtung "Narrationsfaktoren" bestimmen. Je mehr dieser – einander auch überlagernden, also unterscheidbaren, aber kaum voneinander zu trennenden – Faktoren umso ausgeprägter verwendet werden können, desto höher sei der "Narrationswert" der Geschichte und damit die Tendenz, das vor-mediale Geschehen narrativ zu vermitteln. Eine vorläufige Liste solcher Narrationsfaktoren dürfte jedenfalls umfassen und kann mit Blick auf aktuelle Versionen einer "Selenskij-Saga" rekonstruiert werden:

1. Bewegtbildtauglichkeit als Visualisierbarkeit des Geschehens: Es gibt bekannte Personen, die sichtbar etwas machen und (sich) bewegen, anschauliche Orte, eindrucksvolle Naheinstellungen und Totalen, szenische O-Töne (O-Töne in Bewegung, in einem bestimmten Setting) etc. – das Zusammenspiel von Narrativem und Audiovisuellem scheint in der Menschheits- und Mediengeschichte immer wieder Renaissancen zu erfahren.

2. Wiedererkennbares Gesamtmuster durch soziale/raumzeitliche Einordnung in Bezug auf Publikums-Mitwelten ("Es ist der erste Krieg in Europa seit so und so vielen Jahren …").

3. Klare Hauptfigur (hier auch durch bereits bekannte "Darsteller") und – falls nötig – ansprech- und vorzeigbare Nebenfiguren (wie z.B. die Klitschko-Brüder). Dieses Konzept der "zentralen Figur" verweist nicht zuletzt auch auf die klassischen kulturspezifischen Nachrichtenfaktoren der nordwestlichen Welt entsprechend dem Modell von Ruge/Galtung (Eliteperson, Elitenation, Personalisierung und Negativismus).

4. Emotionalität der Gut-Böse-Eindeutigkeit durch deutliche Sympathie bzw. Antipathie für die Hauptfigur bzw. für deren Gegenspieler (die Herausforderung).

5. Überschaubare und am Ende (hoffentlich) auflösbare Herausforderung/Problematik, zusätzlich Spannung durch entsprechende Fallhöhe, zusammengefasst als "hermeneutic code" im Sinne von Roland Barthes und Justin Lewis.

6. Überschaubarer, dramaturgisch folgerichtiger, kausal-chronologischer Handlungsablauf als code of sequence (Roter Faden der Geschichte). Hier im Sinne von: das war die Ursache, dies sind nun die Folgen, und es läuft (hoffentlich) auf Folgendes hinaus …

7. Möglichst glaubwürdige Textpersonen (die Nachrichten-Erzählenden) als oft implizite Perspektivierung und Positionierung – also: aus wessen Sicht wird die Narration vermittelt?

8. (Hoffentlich) gutes und auf den Punkt zu bringendes Ende der Geschichte.

9. Orientierende Ausblicke mit möglichst gebrauchswertem Bezug auf Publikums-Mitwelten, im Sinne auch von "die Moral von der Geschicht'".

Hier zeigen sich auch strukturelle Gemeinsamkeiten von "Storytelling" und Bewegtbild-Medien: Beide haben ihre Stärken in der Verbindung von Emotion und Ratio, von Unterhaltendem und Informierendem, mit Akzent auf jeweils ersterem, weswegen das Erzählen von Geschichten auf vielen Plattformen immer wieder (neu) erfunden zu werden scheint.

Audiovisuelle Medien sind durch räumlich und zeitlich strukturierte Beiträge bestimmt. Dies gilt als Basis der filmischen Diegese, des Erzählens. Daher nutzen u.a. Karl Nikolaus Renner zufolge auch journalistische Filme oft die gleichen filmischen Gestaltungsmittel, mit denen die diegetische Welt eines Hollywoodfilms konstruiert wird.

Entsprechend wird TV-Trainer Gregor Alexander Heussen mit dem Satz zitiert: "Menschen interessieren sich erst dann für Fakten, wenn die für diese Fakten spezifische Emotion in ihnen geweckt wurde". Das geht u.a. Heussen zufolge am besten nach bewährter Art des Geschichtenerzählens.