Jugendmedienschutz-Staatsvertrag: Hoffen auf Abweichler in den eigenen Reihen

Tim Pritlove und Alvar Freude. Bild: S. Duwe

Fraktionsdisziplin im Berliner Senat macht Annahme des Vertrages wahrscheinlich

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Die Runde, die sich auf Einladung des Arbeitskreises Zensur im Berliner Abgeordnetenhaus kurzfristig zu einer Diskussion über den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag gestern Abend zusammengefunden hat, ist aufgewühlt. Am Donnerstag wollen die Abgeordneten des Berliner Senats über den Staatsvertrag abstimmen, und aller Voraussicht nach wird das Parlament ihn mit den Stimmen von SPD und Linken abnicken. Unter denen, die der Einladung gefolgt sind - darunter Blogger, Piraten, aber auch Abgeordnete der Grünen und der Linken - herrscht weitestgehend Einigkeit darüber, dass dies verhindert werden muss.

Im Wesentlichen besteht Einigkeit unter den Anwesenden, noch bevor die Diskussionsrunde überhaupt begonnen hat. Denn gekommen sind nur jene, die den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag ohnehin kritisch sehen. Einzige Ausnahme ist Martin Drechsler, der die Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (FSM) vertritt. Abgeordnete von der SPD, die die Veranstalter der Diskussion von ihrer kritischen Haltung zum Staatsvertrag überzeugen wollten, waren nicht erschienen.

Für den AK Zensur fasste Alvar Freude, der auch als Sachverständiger in der Internet-Enquete des Bundestages mitarbeitet, die Kritik an dem geplanten Vorhaben noch einmal zusammen. Schlecht gemacht sei das Gesetz, widersprüchlich, voller rechtlicher Risiken und für die Betreiber vieler Internetangebote mit einem Aufwand verbunden, der nicht handhabbar sei.

Tatsächlich geben schon vor dem Inkrafttreten des Staatsvertrages die ersten Blogbetreiber auf. Künftig sollen sie ihre Inhalte selbst auf jugendgefährdende Inhalte überprüfen und eine Altersfreigabe erteilen. Zwar gibt es Ausnahmen, doch sobald beispielsweise Inhalte, die erst für Nutzer ab 16 Jahren geeignet sind, bereitgehalten werden, ist die Kennzeichnung Pflicht.

Hinzu kommt in einem solchen Fall noch der Zwang, entweder eine "Sendezeitbegrenzung" für die entsprechenden Inhalte vorzunehmen oder aber technische Mittel wie beispielsweise ein Jugendschutzprogramm vorzuschalten, um Unbefugte vom Zugriff auf das Angebot abzuhalten. Da die FSM selbst einräumt, dass zur Zeit noch keine wirksamen technischen Mittel zur Verfügung stehen, bleibt als Möglichkeit de facto nur noch die Sendezeitbegrenzung. Der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag überträgt damit Methoden, die im klassischen Rundfunk funktionieren, auf das Internet. Die 16er-Grenze habe man jedoch schnell erreicht, sagte Freude, vor allem, wenn auf einer Seite auch die Nutzer Inhalte einstellen können. Hinzu kommt, dass die korrekte Einstufung von Inhalten äußerst schwer fällt.

Freude kritisiert zudem, dass die Telekom in Personalunion Anbieter eines Jugendschutzprogrammes, Anbieter von jugendgefährdenden Inhalten und Access-Provider ist sowie gleichzeitig den Vorsitz in der FSM inne hat, mithin also in einem Interessenkonflikt steht. Für größere Anbieter werde es künftig leichter möglich sein, auch tagsüber Pornographie anzubieten. Für Freude eröffnet der Staatsvertrag zudem auch Abmahnanwälten ein neues Geschäftsfeld, auch die Abmahnungen gegen nicht-kommerzielle Anbieter würden zunehmen ("Abmahnwelle von ganz erheblichem Umfang").

Anwalt Thorsten Feldmann, Mitglied des Beschwerdeausschusses der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (FSM), sieht für Private kein Risiko, durch den neuen Jugendmedienschutz-Staatsvertrag abgemahnt zu werden. Eine Abmahnung setze ein Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht voraus, dies sei bei nicht-kommerziellen Angeboten nicht gegeben. Die Belastung durch den neuen Vertrag liege niedriger als die Impressumspflicht. Feldmann sprach sich für den neuen Staatsvertrag aus, jedoch nur, "weil der Alte noch schlechter ist". Er befürchtet, dass die Verwaltung beim Scheitern des neuen Vertrages auf Basis des alten gegen Betreiber von Internetangeboten vorgeht, dies wäre "nicht besser".

Freude wünschte sich trotzdem eine Ablehnung des Berliner Senats. Diese könnte das Projekt stoppen, denn Staatsverträge bedürfen der Zustimmung aller Bundesländer, um in Kraft treten zu können. Gabriele Hiller von den Linken erklärte der Runde, dass sie das Gesetz gern ablehnen würde, da es unausgereift sei und unter unnötigem Zeitdruck verabschiedet werde. Allerdings, schränkte Hiller ein, gebe es parlamentarische Zwänge. Sie sei überzeugt, dass man das Gesetz noch ablehnen könne – aber nicht zusammen mit der SPD. Denn der Staatsvertrag sei in der Koalition zur Verhandlungsmasse geworden. Am Donnerstag wollen Linke und SPD ein Jobcentergesetz, welches 6.000 Langzeitarbeitslose in bezahlte Arbeit bringen solle, sowie ein Integrationsgesetz beschließen. Die SPD stimmt beiden Gesetzen nur zu, weil die Linke Zugeständnisse beim Jugendmedienschutz angeboten hat. Da laut Koalitionsvertrag die Regierungsfraktionen nicht gegeneinander abstimmen dürfen, sei ihre letzte Hoffnung eine Diskussion in der heutigen SPD-Fraktionssitzung zu dem Thema.

Sollte sich die SPD nicht im letzten Moment noch geschlossen gegen den Vertrag entscheiden, was als unwahrscheinlich gilt, so käme es zu einer äußerst knappen Entscheidung: die Opposition wird dem neuen Jugendmedienschutz-Staatsvertrag nicht zustimmen, SPD und Linke hingegen verfügen über eine relativ knappe Mehrheit von drei Stimmen im Abgeordnetenhaus. Dass sich jedoch Abgeordnete finden, die wegen des Staatsvertrages den Bruch der Koalition riskieren, darf jedoch bezweifelt werden. Immerhin hat der NRW-Abgeordnete Martin Börschel von der SPD aber schon einmal bekundet, gegen das Gesetz stimmen zu wollen. Dass er auch im Landtag notfalls gegen seine Fraktion den Staatsvertrag ablehnen wird, bedeutet dies jedoch nicht.