Jugoslawien in der Krise

Truppenaufmärsche und Manöver

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Bisher verliefen die Präsidentschaftswahlen in Jugoslawien erwartungsgemäß. Der gemeinsame Kandidat der Opposition Vojislav Kostunica hat gewonnen und der bisherige Machthaber Slobodan Milosevic das Ergebnis gefälscht.

Die Lage hat sich mittlerweile jedoch dramatisch zugespitzt. Demonstranten haben heute Fernsehstudios, Polizeiwachen und das Parlamentsgebäude in Belgrad gestürmt, während Polizisten versuchten, mit Tränengas die Menge von mehreren hunderttausend Menschen auseinander zu treiben. Inzwischen soll die Antiterror-Einheit des serbischen Innenministeriums zu den Demonstranten übergelaufen sein. Auch Polizisten haben sich ihnen angeschlossen. Wie wird der Sieger im jugoslawischen Machtkampf sein, kommt es zu einem bewaffneten Konflikt zwischen Serbien und Montenegro, wird die NATO intervenieren? Ein Hintergrundbericht.

Bisher erschoss ein Feldjäger der jugoslawischen Streitkräfte einen montenegrinischen Polizisten am Tag vor der Wahl in Bijelo Polje. Im Kosovo wurde ein hoher albanischer Offizier des Kosovo Protection Corps ermordet. Außerdem hoben britische Truppen ein geheimes Waffenlager aus und verhinderten damit serbische Anschläge auf die KFOR-Truppen und OSCE-Mitarbeiter. Ansonsten blieb alles ruhig. Auch Wahlsieger Kostunica lehnte eine NATO-Intervention strikt ab.

Soldaten haben das Beste zu hoffen, während sie sich auf das Schlimmste vorbereiten. Während die NATO schon vor Beginn des Urnenganges jedermann wissen ließ, dass Milosevic das Ergebnis verfälschen würde, sind die Auskünfte der Allianz über ihre eigenen Absichten bis heute verschwommen. Während einerseits betont wurde, man hätte keinerlei Beistandsverpflichtungen gegenüber Montenegro, hieß es andererseits, man behalte sich im Falle einer Krise alle Möglichkeiten offen, wie insbesondere die US-Außenministerin Madeleine Albright betonte. Für den Fall einer Zuspitzung der Situation in Jugoslawien wollte der türkische Verteidigungsminister Sabahattin Cakmakoglu einen NATO- Einmarsch nicht ausschließen.

Nach Angaben von General Gregory Martin, Befehlshaber der US- Luftwaffe in Europa, hat die NATO mehrere Einsatzpläne fertiggestellt, um gegebenenfalls auf Seiten der montenegrinischen Regierung zu intervenieren.

Bisher hatte die NATO 20.000 Mann bei der SFOR und rund 50.000 Soldaten bei der KFOR im Einsatz, dazu zählen u.a. die 8500 Bundeswehrangehörige im Kosovo. In den letzten Wochen hat die Allianz ihre Truppenpräsenz in der Region verstärkt. Im Rahmen ihrer Drohpolitik entsandte die US-Marine den Flugzeugträger Washington ins Mittelmeer, um die jugoslawische Regierung einzuschüchtern. An Bord befindet sich das 17. Trägergeschwader mit rund hundert Flugzeugen und Hubschraubern. Begleitet wird die Washington von ihrer maritimen Schlachtgruppe, die aus zehn Schiffen bestehen soll: Dem Kreuzer Normandy, den Zerstörern Briscoe, Caron, Cole und Cook, den Fregatten Hawes und Simpson, den U-Boote Albany und Pittsburgh und dem Versorger Supply. Verstärkt wird dieser Verband durch eine Amphibische Eingreifgruppe mit den Landungsschiffen Saipan, Ashland und Austin. Diese haben 3500 Ledernacken der 26. Marineexpeditionstruppe an Bord und ankern in Split bzw. Dubrovnik. Hinzu kommen die in der Task Force 506 zusammengefassten Spezialeinheiten. Möglicherweise wird in den nächsten Wochen noch ein zweiter Flugzeugträgerverband zur Adria in Marsch gesetzt.

Die britische Regierung schickte zwei Flotillen mit 15 Kriegsschiffen und 5000 Soldaten in die Adria. Dazu gehören der Flugzeugträger Invincible, der mit mehreren Senkrechtstartern Seaharrier ausgestattet ist, der Hubschrauberträger Ocean, der Zerstörer Liverpool, die Fregatte Northumberland und das Landungsschiff Fearless mit seinen Marineinfanteristen. Außerdem befindet sich eine SAS-Spezialeinheit in Montenegro. Großbritannien, Frankreich, Italien und Griechenland entsendeten jeweils ein Bataillon zur KFOR ins Kosovo, um dort die Patrouillentätigkeit zu verstärken.

Es bleibt nicht nur beim Aufmarsch zusätzlicher Militäreinheiten, die Verstärkungen üben sich auch im Kriegshandwerk: Schon im Juni 2000 probten 30.000 Soldaten aus 14 NATO-Staaten beim Manöver Dynamic Mix 2000 im östlichen Mittelmeer eine erneute Jugoslawienintervention. Die Bundeswehr war an dieser Übung mit mehreren Tornados und einer Flugabwehreinheit beteiligt.

Bis Ende September findet in Rumänien eine ganze Serie von Manövern mit mehreren NATO-Staaten statt, u.a. die Übung Cooperative Best Effort. Ein Szenario: Als es im Phantasiestaat Yellowlandia zu einem Bürgerkrieg kommt, interveniert die NATO. Das rumänische Außenministerium weiß Anschuldigen des serbischen Informationsministers Goran Matic zurück, durch diese Truppenbewegungen könnte ein Einmarsch in Jugoslawien vorbereitet werden. Auch in Bulgarien werden derzeit Manöver der South-East European Peace Force mit türkischer Beteiligung abgehalten. Am 28. September übten Rumänen und Bulgaren in der Hafenstadt Turnu Magurele den Bau einer Donaubrücke und die Evakuierung der Zivilbevölkerung.

Am Tag nach der Wahl begannen die kroatische Streitkräfte auf der Insel Zirje mit der amphibischen Militärübung Croatian Phiblex 2000. 450 amerikanische und 250 kroatische Soldaten eroberten den Strand. Die Übung sei seit fünf Monaten geplant und habe mit der Wahl in Belgrad nichts zu tun, hieß es von offizieller Seite. Allerdings erklärte der kroatische General Damir Krsticevic, wenn der Präsident und das Parlament in Zagreb den Befehl gäben, könnten sich seine Streitkräfte an jedweder NATO-Operation beteiligen.

Auf Seiten der jugoslawischen Militärs versucht man, Gelassenheit zu demonstrieren. Generalstabchef Nebojsa Pavkovic erklärte, die Streitkräfte würden einen Wahlsieg der Opposition hinnehmen. Nur wenn sich andere Staaten in die inneren Angelegenheiten Jugoslawiens einmischen würden oder es zu Unruhen käme, würden die Streitkräfte intervenieren. So begannen die jugoslawischen Streitkräfte am Tag nach der Wahl damit, Wehrpflichtige und Reservisten einzuberufen. In der abtrünnigen Provinz Montenegro ist traditionell die Zweite Armee des jugoslawischen Heeres mit 15.000 Mann stationiert. Hinzu kommt die 172. Brigade der jugoslawischen Luftwaffe mit rund dreißig Erdkampfunterstützungsflugzeugen, Kampfhubschraubern und Flugabwehrraketen auf dem Fliegerhorst in Podgorica.

Das Regime von Slobodan Milosevic scheint angesichts der Breite des Protests langsam zerbröseln. Er kann sich nicht mehr darauf verlassen, dass die Offiziere ihm Kadavergehorsam zollen. Im Gegenteil: Nur noch zwanzig Prozent der Soldaten sympathisieren mit dem Diktator, schätzt General a. D. Vuk Obradovic. Auch innerhalb der Polizei zeigen sich erste Risse. Allein bei den Spezialeinheiten in Belgrad sollen fast 100 Beamte den Dienst in den letzten zwei Wochen quittiert haben. Daraufhin wurde ihr Kommandeur, Oberst Zivko Trajkovic, an die Grenze zum Kosovo strafversetzt. Zwar kündigte Premierminister Momir Bulatovic an, Präsident Milosevic wolle bis Juni 2001 im Amt bleiben, aber dies ist kaum wahrscheinlich.