Kalte Progression - Thema verfehlt

Wie mit einer Dynamisierung des progressiven Einkommensteuertarifs das Problem zu beheben wäre, wichtiger aber wäre eine Veränderung des Steuertarifs

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Seit Wochen wird landauf landab über die kalte Progression diskutiert. Die einen wollen diese Nebenwirkung unseres Einkommensteuersystems abschaffen. Andere sehen zwar auch einen gewissen Handlungsbedarf, halten aber Ziele wie den Abbau der Staatsschulden und die Verringerung des öffentlichen Investitionsstaus für vorrangig. Eine Kompromisslinie wie "Das eine tun und das andere nicht lassen" erweist sich dank der Schuldenbremse als ein Versuch der Quadratur des Kreises. Aber wie so oft ist die eigentlich spannende Frage, ob mit dem Thema "kalte Progression" überhaupt das wirtschaftspolitisch vorrangige Feld beackert wird oder ob damit (mehr oder weniger gezielt) anderes in den Hintergrund gerät.

Die kalte Progression ist zwar unter Fachleuten seit Langem ein Dauerbrenner, aber sie findet genau dann verstärkte Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, wenn die Steuereinnahmen des Staates sprudeln. Dann wirken Behauptungen, der Staat bediene sich immer großzügiger aus dem Portemonnaie des Bürgers, besonders plausibel. Sätze wie "So frisst der Staat unser Lohn-Plus auf" haben Hochkonjunktur, auch wenn sie (bewusst) in die Irre führen.

Voraussetzung für eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema ist die Klärung, was kalte Progression eigentlich bedeutet (siehe dazu etwa den informativen Bericht in der Süddeutschen Zeitung). Dass Steuerzahler, wenn sie mehr Einkommen beziehen, auch mehr Steuern zu bezahlen haben, hat mit kalter Progression nichts zu tun. Man stelle sich einen einheitlichen Steuersatz auf alle Einkommen von sagen wir 20 Prozent vor. Dann zahlt einer, der 2000 € zu versteuerndes Einkommen im Monat erzielt, 400 € monatlich an Steuern (0,2 * 2000 €). Und wenn er nach einer Gehaltserhöhung 2100 € (brutto) verdient, dann zahlt er insgesamt 420 € Steuern. Von den zusätzlich verdienten 100 € bleiben ihm also nur 80 € (netto) für die private Verwendung übrig. Der durchschnittliche Steuersatz (420 € geteilt durch 2100 €) bleibt bei 20 Prozent. (An dieser Stelle soll von Sozialversicherungsabgaben abgesehen werden, es handelt sich um ein vereinfachtes Beispiel.)

Sollten die 100 €, die derjenige im Beispiel mehr verdient, lediglich die Steigerung des allgemeinen Preisniveaus ausgleichen, ist der um 20 € höhere Steuerbetrag berechtigt. Denn auch der Staat muss bei seinen Ausgaben eine allgemeine Preissteigerung berappen können - sei es für höhere Löhne und Gehälter von Angestellten im öffentlichen Dienst und Beamten, sei es für preisbedingt höhere Sachausgaben. Bekäme der Staat nominal immer den gleichen Betrag an Steuereinnahmen, würde er real, also preisbereinigt gerechnet, ständig ärmer werden, wenn eine Preissteigerungsrate größer Null herrscht. (Das kann nur im Interesse derjenigen sein, die von einem schwachen Staat profitieren, etwa in der Form, dass der Staat mangels Geld wegen der Gehaltskonkurrenz zur Privatwirtschaft keine guten Fachleute in den Ministerien halten kann, die die "Beratung" des Staates durch Lobbyisten kompetent beurteilen und im Zweifel in ihre Schranken weisen können.)

Ist der Steuersatz nicht einheitlich wie im obigen Beispiel, sondern nach der Einkommenshöhe gestaffelt, werden zwar mehr Steuern auf die 100 € zusätzliches Einkommen fällig als zuvor. Aber auch dieses Phänomen ist noch nicht das, was mit "kalter Progression" bezeichnet wird, sondern es ist nur die (gewollte) Folge eines progressiven Steuersystems, das für höhere Einkommen höhere Grenzsteuersätze vorsieht. Zu unterscheiden ist in einer sachlichen Diskussion, ob von den Grenzsteuersätzen oder dem Durchschnittssteuersatz eines Steuerpflichtigen die Rede ist. Eine Zunahme der Grenzsteuersätze macht sich nämlich beim Durchschnittssteuersatz nur in abgeschwächter Form bemerkbar.

Dazu ein Beispiel: Der durchschnittliche Steuersatz auf 2000 € Monatseinkommen betrage 20 Prozent. Auf jeden hinzukommenden Euro Einkommen bis zu einer Grenze von 2100 € gelte ein höherer Steuersatz, nämlich 21 Prozent. Wie sieht die Steuerlast dann aus, wenn der Steuerpflichtige statt 2000 € nun 2100 € verdient? Der Betreffende zahlt auf die ersten 2000 € weiterhin 400 € Steuern und auf die nächsten 100 € hat er 21 € Steuern zu entrichten (0,21 * 100 €). Zusammen macht das 421 € Steuerbelastung. Von den zusätzlich verdienten 100 € bleiben dem Steuerzahler also 79 €, d.h. ein Euro weniger als bei dem im ersten Beispiel genannten Steuertarif mit einheitlichem Steuersatz von 20 Prozent auf alle Einkommen.

Während der Grenzsteuersatz um einen Prozentpunkt von 20 auf 21 gestiegen ist, hat sich der Durchschnittssteuersatz nur geringfügig erhöht: Er beträgt jetzt 20,05 Prozent (421 € / 2100 €). Angenommen, für die nächsten 100 Euro würden 22 Prozent Steuern fällig, dann wüchse die Steuerlast auf 443 € an (421 € + 0,22 * 100 €) und der durchschnittliche Steuersatz stiege auf 20,14 Prozent (443 € / 2200 €).

Von kalter Progression spricht man, wenn Steuerzahler in immer höhere Grenzsteuerbelastungen hineinrutschen, ohne dass ihr Realeinkommen entsprechend mitwächst. Das ist in einem progressiven Steuersystem bei einer positiven Preissteigerungsrate immer der Fall, wenn sich der Steuertarif an nominalen Einkommenswerten orientiert wie im obigen Beispiel. Würden die Grenzsteuersätze nicht an absoluten Einkommensstufen (z.B. 2000 €, 2100 €, 2200 € usw.) festgemacht, sondern Jahr für Jahr entsprechend einer Zielinflationsrate von z.B. 2 Prozent an dynamisierten Einkommensstufen ausgerichtet, dann träte dieser Effekt nicht auf. Denn dann würde jede Steigerung des Bruttoverdienstes, die nicht über die Höhe der Zielinflationsrate hinausgeht, auf einen Steuertarif treffen, dessen Einkommensstufen mit genau dieser Zielinflationsrate gewachsen sind. Der Grenzsteuersatz bliebe also in Hinblick auf einen reinen Inflationsausgleich bei der Zunahme des zu versteuernden Einkommens unverändert, und der Staat kassierte nicht allein wegen des Zusammenspiels von Progression und Inflation laufend überproportional mehr Steuern.

Ein Beispiel zu dieser Überlegung: Wieder verdiene ein Steuerzahler 2000 € im Monat, die er mit einem Durchschnittssteuersatz von 20 Prozent versteuert. Das gilt im ersten Jahr. Im zweiten Jahr, in dem die allgemeine Preissteigerung zwei Prozent betrage, verdiene er nominal zwei Prozent mehr. Das sind dann 2040 €. Wegen der Inflation läuft das auf ein Nullwachstum seines Realeinkommens hinaus. Damit er nun auf die zusätzlich verdienten 40 € keinen höheren Grenzsteuersatz zahlen muss als bisher, gilt im Jahr zwei der nächsthöhere Grenzsteuersatz erst ab einer Einkommenshöhe von 2040 €. Diese neue Einkommensstufe berechnet sich anhand der alten (2000 €) multipliziert mit der Inflationsrate von zwei Prozent. Die Steuerlast beläuft sich im zweiten Jahr also auf 408 € (= 0,2 * 2040 €). Sie ist gegenüber der alten Steuerlast von 400 € um die gleichen zwei Prozent gestiegen wie das Nominaleinkommen. Da aber der Durchschnittssteuersatz gleich geblieben ist bei 20 Prozent, liegt keine kalte Progression vor. Der Staat erhält bei den Steuereinnahmen also ebenfalls lediglich einen Inflationsausgleich.

Nehmen wir nun einmal alternativ an, der Steuerzahler verdiene im zweiten Jahr nominal doch mehr, als zum Ausgleich der Inflation nötig ist, sagen wir, derjenige verdiene vier Prozent mehr, d.h. 2080 €. Das bedeutet, er hat einen Realeinkommenszuwachs von zwei Prozent erzielt (vier Prozent Nominalzuwachs minus zwei Prozent Preissteigerung). Nehmen wir ferner an, dass im zweiten Jahr ab einer Einkommenshöhe von 2041 € ein Grenzsteuersatz von 21 Prozent herrsche. Dann ist der betrachtete Steuerzahler in einen Bereich mit höherem Grenzsteuersatz gerutscht. Seine Steuerlast errechnet sich folgendermaßen: 20 Prozent auf die 2040 € (das sind 408 €) und 21 Prozent auf die zusätzlichen 40 € (das sind 8,40 €). Zusammen ergibt das 416,40 €. Auf das gestiegene Realeinkommen werden also überproportional mehr Steuern fällig, aber eben nur auf den Zuwachs, der über die Preissteigerung hinausgeht: Statt weitere 8 € zahlt der Steuerpflichtige 8,40 €. Wiederum liegt keine kalte Progression vor.

Im Ergebnis würden also bei einer solchen Dynamisierung des progressiven Einkommensteuertarifs die Steuerzahler nicht immer stärker aus den niedrigen Grenzsteuersatz-Bereichen herauswachsen allein aufgrund positiver Preissteigerungsraten und entsprechender Einkommenszuwächse. Stattdessen würde, wie das sachlich gerechtfertigt ist, nur derjenige höhere Grenzsteuersätze auf steigendes Einkommen erfahren, dessen reale (= preisbereinigte) Leistungsfähigkeit zugenommen hat. Umgekehrt würden Menschen, deren Einkommen mit der Zielinflationsrate nicht Schritt hält, in Einkommensteuer-Tarifbereiche mit niedrigeren Grenzsteuersätzen rutschen. Auch das wäre sachlich gerechtfertigt. Denn wer nominal gleich viel verdient, sich aber im Schnitt höheren Preisen beim Einkaufen gegenübersieht, dessen steuerlich relevante Leistungsfähigkeit ist gesunken. Nach der Logik einer progressiven Einkommensteuer muss derjenige dann auch weniger zum Steueraufkommen beitragen als zuvor.

Darüber kann man nachdenken und nach sorgfältiger Planung eine Dynamisierung unseres progressiven Steuertarifs ausarbeiten. Viel wesentlicher wäre aber, den Steuertarif selbst anders zu gestalten, und zwar in zweierlei Hinsicht: Das Einkommen, ab dem der höchste Steuersatz, der sogenannte Spitzensteuersatz, greift, sollte wesentlich höher liegen als derzeit. Eine denkbare Hausnummer wären derzeit 150 000 € Jahreseinkommen für einen Alleinstehenden. Und gleichzeitig sollte der Spitzensteuersatz erheblich höher liegen, 50 Prozent oder mehr wäre hier eine vernünftige Größenordnung. Der Anstieg der Grenzsteuersätze bis zum Erreichen der 150 000 € könnte einigermaßen gleichmäßig gestaltet werden, natürlich abhängig vom Eingangssteuersatz und Steuerfreibeträgen. Es spräche auch nichts gegen eine vernünftige Verzahnung von Einkommensteuersystem und Transferleistungen (Stichwort negative Einkommensteuer). Aber dazu ein anderes Mal mehr.

Festzuhalten bleibt, dass die Diskussion um die kalte Progression diesen viel wichtigeren Punkt der Gestaltung des Einkommensteuertarifs offenbar in den Hintergrund zu drängen droht. Dem Satz von Claus Hulverscheidt in der Süddeutschen Zeitung: "Von einem Problem, das die hitzige Diskussion dieser Tage [um die kalte Progression; Anm.d.Verf.] auch nur ansatzweise rechtfertigt, also keine Spur", ist zuzustimmen.

Der Text von Friederike Spiecker wurde von der Website flassberg-economics übernommen. Friederike Spiecker und Heiner Flassbeck wollen hier mit Hintergrundberichten und Kommentaren versuchen, "der Volkswirtschaftslehre eine rationalere Grundlage zu geben".

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