Kameras statt Sex

Im Mordfall der britischen TV-Journalistin Jill Dando ist die Kontrollgesellschaft ein Stück mehr Realität geworden

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Im Mordfall der britischen TV-Journalistin Jill Dando ist ein Verdächtiger festgenommen worden. Erfolgsdruck durch die Medien führte in ähnlichen Fällen zu Verhaftungen Unschuldiger. Im Fall Dando ist bisher nur die Kontrollgesellschaft ein Stück mehr Realität geworden.

Nach serbischen Terroristen, der russischen Mafia, einem enttäuschten Liebhaber und einem fanatischen Fan hat die Londoner Polizei nun den ersten konkreten Verdächtigen im Mordfall Jill Dando festgenommen. Die Fernsehmoderatorin des britischen Pendants "Crimewatch" von "Aktenzeichen XY ungelöst" war am 26. April vorigen Jahres vor ihrem Haus in Fulham mit einem Kopfschuss getötet worden. Die Ermittlungen wurden schnell zu einer Demonstration moderner Überwachungstechnik.

Bereits wenige Tage nach dem Mord präsentiert die Metropolitan Police eine vollständige Rekonstruktion der letzten Stunden Dandos. Die zu erstellen wäre unmöglich gewesen ohne die 45 Millionen Pfund (etwa 135 Millionen Mark), die das britische Innenministerium seit 1995 für Videoüberwachung in Großstädten ausgab. Eine Million Kameras soll es geben. In Dandos Fall konnte zwar auf die Minute genau bestimmt werden, wann sie mit ihrem BMW 320i im Hammersmith-Einkaufszentrum eintraf, der üblichen Rymans-Filiale einkaufte und wieder wegfuhr - was vor ihrem Haus geschah, verraten die Aufzeichnungen nicht.

Auch auf Telefonüberwachung griffen die Ermittler zurück. Da ein Zeuge berichtete, vor Dandos Haus einen Mann mit Mobiltelefon gesehen zu haben, versuchte die Polizei, 80000 Mobilfunkgespräche zurückzuverfolgen, die in diesem Zeitraum in London geführt wurden. 13700 Email-Absender wurden identifiziert, aufgrund welchen Verdachts bleibt unklar. Selbst Datenverkehr im Netz wollte man im Zusammenhang mit dem Fall zurückverfolgen. Am 22. November 1998 hatte jemand über den Internet-Service 192.com, die genaue Adresse von Dando abgerufen. Der Dienst wertet Wahllisten aus und verkauft das Material in Verbindung mit exakten Straßenkarten der Wohnumgebung weiter. 192.com löschte die Anfrageprotokolle routinemäßig 14 Tage vor der Anfrage der Metropolitan Police. Die versucht nun von AOL, über das sich der Kunde einwählte, die Daten zu bekommen.

Die Ermittlungen haben bisher zwei Millionen Pfund, fast sechs Millionen Mark gekostet. Im Durchschnitt kosten in Großbritannien Ermittlungen in Mordfällen etwa 100000 Pfund. 50 Beamte sind für den Fall abgestellt. Denn der Fernsehsender BBC, dessen Mitarbeiterin Dando war, setzt die Polizei unter enormen Erfolgsdruck. Die Sondersendungen von "Crimewatch" zum Fall vermitteln dem breiten Publikum nicht nur das Bild einer untätigen Polizei, die Flut der danach regelmäßig eingehenden telefonischen Hinweise bedeutet enormen Arbeitsaufwand für die Polizei, und recht wenig Nutzen für die Ermittlungen. Denn Zeugen, die nach der x-ten Sondersendung anrufen haben nicht viel beizutragen, außer gutem Willen und eigenen Ideen.

Ähnlich medienträchtige Fälle führte zu Großbritannien in der Vergangenheit bereits zu Falschurteilen. 19 Jahre saßen die "Bridgewater Four" unschuldige in Haft, sie waren 1978 für den Mord an dem 13jährigen Carl Bridgewater verurteilt worden. Er hatte beim Zeitungaustragen Einbrecher überrascht. Das Urteil basierte auf einem Geständnis, das Molloy nach 56stündigem Verhör ohne Beisein eines Anwalts abgelegt hatte. Er zog sein Geständnis bereits am nächsten Tag zurück und behauptete, die Polizisten hätten es aus ihm herausgeprügelt.

Ein anderer Fall ist Colin Stagg. Die Londoner Polizei suchte 1994 den Mörder der eine 23jährigen am helllichten Tag im Stadtpark von Wimbledon vor den Augen ihres zweijährigen Sohnes mit 49 Messerstichen getötet hatte. Der Mediendruck war ungeheuer, eine Verdächtiger nicht zu finden. Also setzte man auf den Einzelgänger und Okkultisten Stagg eine anziehende 30jährige an. Sie versprach ihm Sex, wäre er der Mörder von Wimbledon. Stagg verneinte, wurde zwei Tage später dennoch wegen Mordverdachts verhaftet.

Nach einer kurzen Verhandlung, bei der er nur seinen Namen und seine Adresse bestätigen musste, wurde der beschuldigte Barry Bulsara am Montagmorgen zunächst für eine Woche in Untersuchungshaft genommen. Richter Justin Phillips hielt ihn für dringend verdächtig, am 26. April vergangenen Jahres Jill Dando vor ihrer Haustür im Westen Londons erschossen zu haben.

Auch der im Fall Dando verhaftete Barry Bulsara (40) ist ein Einzelgänger, der sich den Geburtsnamen Freddy Mercurys zulegte, und als dessen Cousin ausgab. Wie die Polizei zu seiner Verhaftung kam, ist unbekannt. Der mit der Auswertung von Videomaterial, Telefongesprächen und Internetprotokollen zu Tag gelegte Aktionismus reichte offenbar nicht aus. Ist Bulsara der Mörder, wird immer dieser Unschuldsverdacht bleiben, ist er es nicht, wird er dieses Stigma wohl nun sein Leben lang mit sich umhertragen. Das Grundproblem der Ermittlung können auch beste Überwachungsmethoden nicht lösen: Vier Millionen Handfeuerwaffen werden in Großbritannien vermutet. Die Tatwaffe kann jeder überall für 200 Pfund gekauft haben.