Kampf um Prozente und Symbole

Bolivien entscheidet am Sonntag über die Abberufung der Regierungsspitze und oppositioneller Regionalpolitiker - es geht vor allem um die Umverteilung der Einkünfte aus den Öl- und Gasvorkommen

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Am Sonntag findet in Bolivien ein Abwahlreferendum gegen Präsident Evo Morales und Vizepräsident Alvaro García Linera statt (Bolivien: Morales geht in die Offensive). Die rund vier Millionen Wahlberechtigten sind zugleich dazu aufgerufen, über das Schicksal der Regierungschefs von acht der insgesamt neun Departements des südamerikanischen Landes zu entscheiden. Die sozialistisch orientierte Staatsführung und die Opposition hoffen mit dem Votum gleichsam, ihre Position zu stärken (Morales gegen die Macht). Dabei ist es äußerst fragwürdig, ob die Referenden eine Entscheidung im Kräftemessen zwischen den Lagern bringen. Denn schon vor der Abstimmung wird ihr Ergebnis von denen in Frage gestellt, die am Sonntag wahrscheinlich ihre politischen Posten verlieren werden. Präsident Morales und sein Vertreter García Linera aber können mit der Bestätigung rechnen.

Präsident Evo Morales ruft die Menschen auf, am Referendum teilzunehmen. Foto: ABI

Rund 60 Prozent der Stimmen könnten auf Morales und García Linera entfallen. Ihre Politik der sozialen Umverteilung des Reichtums aus dem Erdöl- und Erdgasgeschäft würde mit einem solchen Ausgang eindrucksvoll bestätigt werden. Allerdings war der Rückhalt auch zu erwarten. Denn seit die regierende Bewegung zum Sozialismus (MAS) im Dezember 2005 mit 54 Prozent gewählt wurde, können Präsident und Vizepräsident mit der Unterstützung der armen und indigenen Bevölkerungsteile rechnen.

Weil gut 70 Prozent der insgesamt 9,2 Millionen Einwohner des Andenstaates indigener Herkunft und 60 Prozent arm sind, sitzt die MAS mit ihrer Kultur- und Sozialpolitik fest im Sattel. Die Opposition - ein Sammelsurium aus Vertretern der alten sozialen und politischen Oligarchie - hält indes die rohstoffreichen östlichen Departements Pando, Beni, Santa Cruz und Tarija. Die Ergebnisse am Sonntag werden deswegen in erster Linie das bisherige Kräfteverhältnis bestätigen. Doch auch Überraschungen sind möglich.

Schlingerkurs der Morales-Gegner

Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes DEI würden zwar die regierungskritischen Präfekten der Departements Santa Cruz, Beni und Potosi - Rúben Costas, Ernesto Suárez und Mario Virreira - in ihren Posten bestätigt werden. Die Regierungschefs der Regionen Cochabamba sowie La Paz, Manfred Reyes Villa und José Luis Paredes, aber müssten ihre Stühle räumen. Für die Zentralregierung wäre ein solches Ergebnis durchaus positiv, denn es würde bedeuten, dass sie ihre Position im Zentrum und im Westen des Landes stärkt. Zudem ist der Wahlausgang für die östlichen Präfekturen Pando und Tarija unklar. Mit dem dortigen Ergebnis wird sich das Schicksal der von der Zentralregierung als illegal bezeichneten Autonomiebestrebungen der rohstoffreichen Departements im Osten entscheiden.

Verständlich also, dass die umfrageschwachen Regierungschefs aus dem Oppositionslager mit allem Mitteln versuchen, die Abstimmung zu verhindern. Der konservative Präfekt des Hauptstadtbezirks La Paz, José Luis Paredes, hat beim Verfassungsgericht entsprechende Anträge gestellt. Doch das Tribunal ist derzeit nicht arbeitsfähig. Nach einem Konflikt zwischen dem mehrheitlich konservativ orientierten Gremium und der sozialistischen Regierung wurden vier der fünf Richter beurlaubt. Eine Neubesetzung konnte noch nicht ausgehandelt werden. Die letzte verbleibende Kraft, Verfassungsrichterin Silvia Salame, sympathisiert offen mit den Morales-Gegnern und hat mehrfach den Abbruch der Referendungskampagne verlangt. Anordnen kann sie dies nicht, denn für eine Entscheidung sind mindestens drei Richter notwendig.

Der Streit vor dem Verfassungsgericht ist charakteristisch für die Lage in Bolivien. Der Machtkampf zwischen der sozialistisch orientierten Regierung und der Opposition wird weniger auf der Basis gesicherter Rechtsbestimmungen ausgetragen, dafür mit viel Symbolik. Beide Seiten versuchen, die Meinungshoheit wiederzuerlangen. Die Pattsituation werden sie aber wohl auch am Sonntag nicht durchbrechen können. Dazu trägt auch das ungeschickte Taktieren der Regierung bei. So hieß es in dem Reglement für das Referendum zunächst, für eine Abwahl der Zentralregierung müsse das Ergebnis von 2005 plus eine Stimme erreicht werden. Definiert wurde aber nicht, ob sich diese Regelung auf den Anteil - 53,74 Prozent - oder auf die totale Stimmenzahl bezieht. Der Unterschied ist beträchtlich, denn in den letzten zweieinhalb Jahren sind fast 380.000 Wähler hinzugekommen.

Ringen um die Macht wird weitergehen

Der Streit ist nicht nur wegen der fehlenden Rechtssicherheit programmiert. Die rechtsgerichtete Opposition sieht das Referendum inzwischen nur als eine Front in ihrem Kampf gegen das soziale Projekt der Regierung Morales. Eine Woche vor der Abstimmung initiierten der Präfekt von Santa Cruz, Rúben Costas, und sein Gesinnungsfreund Ernesto Suárez aus Beni einen Hungerstreik gegen eine jüngst eingeführte Besteuerung auf Einnahmen aus dem Erdöl- und Erdgasgeschäft. Die Oppositionspolitiker machen damit klar, worum es bei dem andauernden innenpolitischen Streit in Bolivien wirklich geht: den Zugriff auf die Ressourcen des Landes.

"Wir protestieren, weil uns die Mittel für das Gesundheitssystem, die Bildung und andere öffentliche Aufgaben genommen werden", sagte der Oppositionsführer Branko Marinkovic in Santa Cruz - immerhin einer der reichsten Männer des Landes. Die Entgegnung von Finanzminister Luis Arce stößt bei den Regierungskritikern auf taube Ohren. Von der Verstaatlichung großer Teile der Erdöl- und Erdgasindustrie hätten auch die östlichen Departements profitiert, sagt der MAS-Politiker. Im letzten Fiskaljahr seien den neun Regionalregierungen gut elf Milliarden Bolivianos zugeflossen, umgerechnet über eine Milliarde Euro. Trotzdem wollen sich die Oppositionsführer in den östlichen Departements damit nicht zufrieden geben. Weil dort der Großteil der natürlichen Ressourcen liegt - in Tarija etwa befinden sich 85 Prozent der nachgewiesenen Ergasvorkommen -, reklamieren sie mehr Einkünfte für sich.

Der Kampf um das Geld ist in Bolivien zugleich ein Kampf um die politische und territoriale Hoheit. Es ist deswegen zu erwarten, dass die Separatismusbewegung der reichen Landesteile auch nach dem Referendum weitergeht. Wie weit die Situation gediehen ist, zeigte sich vor wenigen Tagen. Zu den traditionellen Feiern der Unabhängigkeit Boliviens am 6. August 1825 wurde dem Präsidenten Evo Morales von der oppositionellen Verwaltung der Zutritt nach Sucre verweigert.