Keats und Bohlen in einem Atemzug

Andreas Reckwitz über die Erfindung der Kreativität

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Um der Konkurrenzsituation im Berufsleben gewappnet zu sein, reicht heutzutage nicht mehr die Bereitschaft aus, sich passiv ausbeuten zu lassen und Dienst nach Vorschrift zu leisten, sondern man muss sich in den ökonomischen Prozess mit Haut und Haaren begeben und sich dort aktiv einbringen. Alle Fähigkeiten, die dem Menschen zu seiner potentiellen Selbstbestimmung beitragen, müssen freiwillig in diese Verwertungsmaschine eingespeist werden und verkehren sich mitunter in ihr Gegenteil: Kreativität wird zur Ideologie und zum Leistungszwang. Ein Gespräch mit dem Soziologen Andreas Reckwitz, der ein Buch über die Erfindung der Kreativität schrieb.

Herr Reckwitz, wie ambivalent ist das Konzept von Kreativität in der spätmodernen Gesellschaft? Richard Florida, der im Jahr 2002 ein eindeutig positives Buch über den Aufstieg der "kreativen Klasse" geschrieben hatte, musste ja jüngst erheblich zurückrudern, was seine optimistischen Aussagen zum damit verbundenen gesellschaftlichen Wandel und ökonomischen Wachstum anbelangt ...

Andreas Reckwitz: Die Ambivalenz der Orientierung an Kreativität wird von der herrschenden Kultur nicht wahrgenommen. Richard Florida ist da ein gutes Beispiel. Das ist ja genau das Problem: Kreativität ist ein eindeutig positiver Leitwert, nicht kreativ sein zu wollen geradezu absurd. Diese scheinbare Unstrittigkeit von Kreativität ist für mich zunächst erklärungsbedürftig. Zwei Ursachen sind zentral: Zum einen lässt sich die moderne Gesellschaft nahezu flächendeckend von dem steuern, was ich "Regime des Neuen" nenne, von Innovationsregimen, die das Neuartige per se gegenüber dem Alten und der Wiederholung prämieren. Das gilt für die Ökonomie wie für die Politik, die Wissenschaft oder die Kunst. Zum anderen: Kreativität bedeutet ja nicht nur eine Orientierung am Neuen, sondern eine am ästhetisch Neuen, am schöpferischen Ideal des Künstlers.

Es findet hier eine Entgrenzung des Ästhetischen statt. Dieser moderne Horizont des Ästhetischen macht kreative Produkte und kreative Subjekte so attraktiv. Dies gilt mittlerweile auch für große Teile der Wirtschaft - Stichwort: ästhetischer Kapitalismus - und für die Medien.

Die Ambivalenz der gesellschaftlichen Orientierung am Neuen im Allgemeinen und dem ästhetisch Neuen im Besonderen wird heute erst schemenhaft deutlich: Kreativität ist zu einer neuen Leistungserwartung mit enormen Versagensrisiken geworden und die Orientierung an ästhetischen Innovationen hält nicht mehr die Versprechen sinnlich-affektiver Befriedigung, die mit Ästhetisierungsprozessen einmal verbunden waren.

"Ästhetisierung ist nicht mehr nur Rezeptionsästhetisierung"

Mit dem Ästhetizismus und Individualismus des 19. Jahrhunderts sollte eine eigene kleine Welt geschaffen werden, die mithalf, sich der übrigen profanen Welt gegenüber abzuschotten. Die Romantik stellte eine Fluchtbewegung dar, eine Abwendung von der Realität, verbunden mit dem Verzicht die vorgefundene Struktur der Gesellschaft zu ändern, geschweige denn überhaupt rational zu fassen: Die Welterfahrung wurde durch die Selbsterfahrung abgelöst. Im 19. Jahrhundert war dieser Ästhetizismus bei Dichtern wie Keats aber noch mit einer tiefen Melancholie verbunden, während dieser heutzutage in Casting Shows frohgemut mit Dieter Bohlen einherschreitet. Wie ist diese Veränderung zu erklären?

Andreas Reckwitz: Ja, Keats und Bohlen in einem Atemzug zu nennen, kann auf den ersten Blick geradezu absurd erscheinen. Es drängt sich ja erst einmal die Frage auf, was sie überhaupt gemeinsam haben, inwiefern in beiden ästhetische Praktiken verhandelt werden. Gleichzeitig sieht man hier sehr gut den Strukturwandel, den ästhetische Praktiken in den letzten zweihundert Jahren vollzogen haben.

John Keats, gemalt von William Hilton / Dieter Bohlen. Bild: Dirk Vorderstraße. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Die Romantiker bildeten eine gegenkulturelle Nische. Ästhetische Praktiken waren hier Praktiken sinnlich-emotionaler Wahrnehmung um ihrer selbst willen, getrennt von der zweckrationalen Hegemonie: ein Erleben der Natur, von Kunstwerken, die romantische Liebe; das Subjekt versteht sich als Schöpfer seiner selbst. Diese Struktur ästhetischer Wahrnehmungen, dass sie sich nicht mehr einfach dem zweckrationalen Handeln unterordnen, also mehr als bloße Informationsverarbeitungen sind, sondern lustvolles Erleben um seiner selbst willen, ist weiterhin eine machtvolle Motivation für die gesellschaftlichen Ästhetisierungsprozesse im 20. Jahrhundert:

Ob es die Popmusik ist oder der Tourismus, das Kino oder die Bekleidungsmode - in verschiedensten und immer mehr Bereichen findet sie sich, aber eben nicht mehr in privaten Nischen, sondern in der breiten Öffentlichkeit und unter Zuhilfenahme all jener Technologien, die die Moderne zur Verfügung stellt.

Dabei hat sich jedoch seit den 1980er und 90er Jahren eine Umakzentuierung ergeben: Ästhetisierung ist nicht mehr nur Rezeptionsästhetisierung, sie ist auch Produktionsästhetisierung. Das Subjekt will nicht mehr nur ästhetisch erleben, es will (und soll) auch selbst ein ästhetischer Gestalter sein, im Beruf und in der Lebenswelt insgesamt. Genau hierfür sind die Castingshows für Popstars ein Beispiel: sie funktionieren ja nur, weil die Subjekte massenhaft den Wunsch haben, sich als herausragende kreative Subjekte zu stilisieren: Popsänger sind neben Schauspielern die populärste Ausformung für solche Kreativstars - neben den "seriöseren" Versionen der Kreativstars etwa im Design, der Bildenden Kunst oder der Architektur.

Wirkt der Ästhetizismus von heute noch als Kompensationsphänomen und was soll damit kompensiert werden?

Andreas Reckwitz: Ob das Kompensation ist? Das ist ja ein klassischer Erklärungsansatz schon seit Schopenhauer: ästhetische Praktiken machen die Welt erst erträglich, soziologisch gesprochen: sie kompensieren die Rationalisierungsprozesse der Moderne. Allerdings sind diese Kompensationsformen ja mittlerweile paradoxerweise selbst dominant geworden. Und: sie haben sich mit den Rationalisierungsprozessen aufs Engste verquickt. Castingshows etwa bauen ja auf der Idee auf, dass man trainieren kann, zum Star zu werden. Das hätte sich die Romantik sicher nicht träumen lassen.

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