Kein Aprilscherz

Der Deutsche Bundestag diskutiert heute über das Wahlrecht für Kinder

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Heute beschäftigen sich die Abgeordneten des Bundestages mit einem Antrag von Klaus Haupt und Hermann Otto Solms (beide FDP). "Mehr Demokratie wagen für ein Wahlrecht von Geburt an". Klingt komisch, ist aber so.

Angesichts der von FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher neu befeuerten Diskussion über die bevorstehende Revolution der Alten, erscheint der heute im Bundestag diskutierte Antrag brandaktuell. Die Tatsache, dass Deutschlands Bewohner immer älter werden, bringe nach Ansicht der Antragsteller die Demokratie in eine bedrohliche Schieflage. Die Politik werde eben von Politikern gemacht, die auch nur Menschen sind. Deshalb käme es zu einer unangemessenen Bevorzugung der Interessen alter Menschen. Da dies ungerecht ist und 16 Millionen Kinder und Jugendliche benachteiligt, liegt nichts näher, als den durchschnittlichen Wähler einfach jünger zu machen. Das geht natürlich am besten, wenn demnächst auch Neugeborene ein Kreuzchen auf dem Wahlzettel machen dürfen.

Der Antrag wird von Parlamentariern aller Bundestagsfraktionen unterstützt - das Spektrum reicht vom inzwischen parteilosen Martin Hohmann, bis zur Bundestags-Vizepräsidentin Antje Vollmer (Bündnis 90/Die Grünen). Alle fordern heute eine Grundgesetzänderung: das Wahlrecht von Geburt an soll in Deutschland in Zukunft die Demokratie revolutionieren und sei eine "angemessene Beteiligung der jungen Generation am Willensbildungsprozess", so Vollmer.

Bisher werde diese "angemessene Beteiligung" durch den Ausschluss von Kindern und Jugendlichen verhindert, monieren die Antragsteller. Die prinzipielle Gleichheit aller Bürger sei mit dem bisherigen Wahlrecht also klar infrage gestellt.

Der Vorschlag findet prominente Unterstützer. So sind der ehemalige Bundespräsident und Bundesverfassungsrichter Roman Herzog, Hans-Olaf Henkel, Präsident der Leibniz-Gemeinschaft, und Karl Kardinal Lehmann, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, auf der Seite der Befürworter. Hier ist die katholische Kirche offenbar progressiver als die Grünen oder die SPD. In einigen Bistümern ist das Familienwahlrecht bei Gemeinderatswahlen schon seit fast zehn Jahren Realität. Das Experiment scheint zu funktionieren. Über die Vergleichbarkeit der Relevanz solcher Wahlen lässt sich streiten.

Im Strampelanzug in die Wahlkabine?

Natürlich ist alles ganz anders gemeint. Kein Kind soll im Strampelanzug in die Wahlkabine. Die Eltern sollen das Recht ihrer Kinder übernehmen - bis zur Volljährigkeit, die weiterhin mit 18 Jahren eintritt. Doch ein durch die Eltern vertretenes Kinderwahlrecht sorgt für zusätzlichen Sprengstoff. Es verstoße gegen das Wahlprinzip "one man, one vote". Kritiker warnen vor einer neuen Form des Klassenwahlrechts.

Und kann ein Kind überhaupt wissen, wer zu wählen ist - und stimmen die Eltern wirklich so, wie es ihr Kind will? Manipulation durch das Ausbleiben der Höchstpersönlichkeit der Wahl sei sehr wahrscheinlich, sagen die Kritiker. Zu denen gehört auch Norbert Röttgen, der rechtspolitische Sprecher der Union. Die Forderung nach einem Kinderwahlrecht sei "populistischer Unsinn".

Kinderreiche Familien aus einigen Bevölkerungsgruppen bekämen so unangemessen mehr Gewicht im Wahlvorgang. Außerdem sei der Familienfriede in Gefahr, wenn sich Eltern und Kinder nicht auf eine Partei einigen können. In manchen Familien sei der Kontakt zwischen Erziehungsberechtigten und Kids ohnehin nicht optimal, gerade während der Pubertät. Wie soll in so einem Fall sichergestellt werden, dass das Wahlrecht der Kinder nicht von den Eltern missbraucht werde, fragen die Kritiker.

Heute sei das nicht anders, kontern die Befürworter. Schließlich hat ein Ehepaar ohne Kinder genau so viele Stimmen wie eine sechsköpfige Familie. Praktische Probleme seien leicht zu lösen, so der ehemalige Verfassungsrichter und heutige Rechtsprofessor Paul Kirchhof. Jeder Erziehungsberechtigte könnte eine halbe Stimme abgeben, um Streitigkeiten zu umgehen. Was für Erwachsene gut ist - ist auch für Kinder gut?

Auf dem Parlamentskanal Phoenix diskutiert Anke Plättner heute um 21 Uhr in der Berliner Phoenix-Runde mit Irmingard Schewe-Gerigk (Bündnis 90/Die Grünen), Hermann Otto Solms (FDP) und Kurt-Peter Merk, Politikwissenschaftler und Autor der Verfassungsbeschwerde "Wahlrecht ab Geburt"