Kein Ausweg aus dem Schlamassel?

Laut dem Chef des US-Zentralkommandos, General Petraeus, ist der Einsatz der westlichen Truppen in Afghanistan noch lange nicht zu Ende

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Ein tragisch fehlgeschlagener Nato-Luftangriff im afghanischen Urusgan, der statt Taliban-Kämpfer angeblich über 30 Zivilisten, darunter Kinder, tötete; eine politische Krise in den Niederlanden, die sich über die Verlängerung des Afghanistan-Mandats entzündet hat: Nach den Erfolgsmeldungen der vergangenen Woche - insbesondere über die Gefangennahmen von Schlüsselfiguren der Taliban-Führung sowie Nachrichtenagentur-Berichte über militärischen Fortschritte bei der Offensive in Mardscha - und daran anknüpfende Hoffungen (vgl. Prize on the Battlefields of Marja May Be Momentum) - , schieben sich wieder die alten, ungelösten Fragen in den Vordergrund: Wie kann der Westen die paschtunische Bevölkerung im Süden Afghanistans auf seine Seite ziehen? Wie lange bleiben die Verbündeten der USA angesichts der Stimmungslage ihrer Bevölkerungen bei der Stange? Australien will nicht für die Niederlande einspringen, Kanada beginnt mit dem Abzug seiner Soldaten in diesem Jahr. Wie sehen die Chancen aus, eine Wende des Schlamassels herbeizuführen?

Der Chef des US-Zentralkommandos, General Petraeus, macht in seinem aktuellen Interview klar, dass die Wende so schnell nicht kommt. Petraeus, der als Realist gilt, predigt keinen St.Nimmerleins-Tag, aber seine Formulierungen geben deutlich zu verstehen, dass die Wegstrecke von der Eroberung Mardschas bis zur Kontrolle der Provinz Helmand und deren Übergabe an die afghanischen Sicherheitskräfte sehr weit ist und einen hohen Blutzoll kosten wird.

MR. GREGORY: But U.S. losses, significant?
GEN. PETRAEUS: They'll be tough.

Auch wenn die „Operation Muschtarak“ vergangene Woche überwiegend gute Presse hatte, so war selbst in den betont positiven Meldungen, wie sie etwa das Wall Street Journal lieferte, bei genauerer Lektüre herauszulesen, dass die Stadt mit etwa 75 000 bis 80 000 Einwohnern eben nicht völlig unter Kontrolle war. Es blieben blinde Flecken auf der Karte. Und auch zu Wochenanfang ist die Stadt noch nicht völlig unter der Kontrolle der Allierten und den Good-Will-Berichterstattern vom WSJ fallen weitere wichtige Lücken in der Strategie auf:

Ten days into the fight for Marjah, U.S. and Afghan troops continue to seize ground, often battling the Taliban from one mud-walled compound to the next. But progress has been slower in winning over local civilians, many of whom are unsure which side will make life safer for their families.

Die Unterstützung durch die paschtunische Bevölkerung ist das zentrale Element der neuen Strategie, deren erster großer Testfall Mardscha ist. Angekündigt ist, dass dort nun „Phase 2“ beginnt. „clear, hold, build and transition to local security forces“, heißt die Kurzformel der Strategie. Nach der Vertreibung der Taliban und der Übernahme der Kontrolle, soll dort eine neue funktionierende Verwaltung und Regierungsinfrastruktur aufgebaut werden. Damit das Politische die Priorität über das Militärische gewinne, wie es der Kern der von Stanley McChrystal maßgeblich entwickelten Counter-insurgency-(COIN)-Strategie vorsieht. Und die Bevölkerung Vertrauen zur Zentralregierung und ihrer ausländischen Verbündeten fasst. Soweit die Theorie.

In der Praxis türmen sich da einige Hindernisse auf. Das fängt mit der grundlegenden Frage an, woher die Zuversicht kommen sollte, dass sich nach achteinhalb Jahren Präsenz westlicher Truppen, die ihre Versprechen nach mehr Sicherheit und Wiederaufbau des Landes nicht eingelöst haben, die Dinge plötzlich doch zum Besseren ändern sollten. Tom Engelhard spitzt dieses Argument noch zu: Wie sollten amerikanische Regierungsberater, die ihre Dinge zuhause nicht besser erledigen, der Bevölkerung in Mardscha „good governance“ beibringen? Dazu kommt, dass von Zusammenarbeit auf gleicher Ebene, wie es die Operation Muschtarak ihrem Namen nach verspricht, wahrscheinlich wieder nicht die Rede sein kann. Als verräterisches Beispiel zitiert folgenden Ausschnitt aus der augenblicklichen Mardscha-Berichterstattung:

Western officials also are bringing Afghan cabinet members into strategy discussions, allowing them to select the officials who will run Marjah once it is cleared of Taliban, and pushing them before the cameras to emphasize the participation of Afghan troops in the offensive?

Das Misstrauen der Afghanen hat reale Gründe. Sie befürchten, dass, wie schon einige Male erfahren, Warlords und andere alte Verbündete der Zentralregierung das Kommando nach den Taliban übernehmen könnten. Die andere Angst betrifft die Korruption, von den Millionen Dollar, die nach Mardschah und andere eroberte Talibanhochburgen fließen sollen, erwartet sich die Bevölkerung nur einen Bruchteil. Hinzu kommt, dass sich die afghanische Armee, die die Operation der westlichen Truppen begleitet, so sie nicht ohnehin unverlässlich agiert (siehe die Reportagen von Nir Rosen), zu einem größeren Teil aus Tadschiken zusammensetzt, die von den ortsansässigen Paschtungen nicht unbedingt willkommen geheißen werden.

Dabei ist Mardschah nur eine „erste Salve“, so Petraeus. McChrystal kündigte das nächste Ziel schon an: die Millionenstadt Kandahar. Die Flüchtlingsmassen, die bei einer Operation westlicher Truppen erwartet werden, könnten eine halbe Million zählen, sagen Bobachter voraus.