Kein Jamaika, aber vielleicht Schwarz-Grün

Vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen setzen die Bündnisgrünen einmal mehr auf Flexibilität

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Wenn eine Partei sich nicht schon im Wahlkampf auf den künftigen Koalitionspartner festlegen und die eigene Regierungsbeteiligung von der Durchsetzung ihrer politischen Inhalte abhängig machen will, ist dagegen nichts Grundsätzliches zu sagen. Das gilt umso mehr als das Fünf-Parteien-System, in das sich die politische Landschaft der Bundesrepublik nach dem flächendeckenden Erstarken der Linkspartei verwandelt hat, ein beträchtliches Maß an Verhandlungs- und Kompromissbereitschaft erfordert, damit überhaupt noch regierungsfähige Mehrheiten gebildet und entsprechende Machtoptionen wahrgenommen werden können.

Die Bündnisgrünen hatten es besonders eilig, sich flexibel auf die neue Ausgangslage einzustellen. In Hessen favorisierten sie ein Regierungsbündnis mit SPD und Linkspartei, während in Hamburg die erste schwarz-grüne Koalition auf Länderebene geschmiedet wurde. Das kleine Saarland wurde im vergangenen Herbst zum Testgelände für das Projekt "Jamaika". Nach dem Wahldebakel der CDU füllten die Grünen das "bürgerliche Lager" auf, verhalfen der FDP zur ersehnten Regierungsbeteiligung und Ministerpräsident Peter Müller zu einer weiteren Amtszeit.

Nach diesem Schlingerkurs steht und fällt die Glaubwürdigkeit der Partei nun tatsächlich mit der Durchsetzung ihrer politischen Inhalte. Doch gerade in dieser Hinsicht sieht die Bilanz höchst unterschiedlich aus. Während die Hamburger Grünen noch dabei sind, den Bau des Kohlekraftwerks Moorburg, die Elbvertiefung oder das mögliche Scheitern ihrer ambitionierten Schulreform zu verarbeiten, können die Parteifreunde an der Saar zahlreiche Achtungserfolge verbuchen, die von der Abschaffung der Studiengebühren bis zur Novellierung des Jagdgesetzes reichen (Alte Programme gegen neue Machtoptionen).

Strategische Optionen

Gut drei Monate vor der wichtigen Landtagswahl trafen sich am Wochenende die nordrhein-westfälischen Grünen, um ihre Schlüsse aus den Ereignissen der letzten Monate zu ziehen und den potenziellen Wählern, die sich nach letzten Umfragen auf ein gutes zweistelliges Ergebnis summieren könnten, ein verlässliches Programm und mögliche Koalitionsstrategien anzubieten. Zu diesem Zweck hatte der Landesvorstand bereits im Vorfeld einen Antrag formuliert, in dem der Ablösung der schwarz-gelben Landesregierung von Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) oberste Priorität eingeräumt wurde.

Die Bilanz von Schwarz-Gelb in NRW ist desaströs: Eine selektive, restaurative Schul- und Bildungspolitik, eine Klimaschutzpolitik ohne Konsequenz und Nachdruck, eine interessegeleitete Energie- und Industriepolitik ohne zukunftsfähigen Neuansatz, Städte und Gemeinden am Rande des finanziellen Ruins, Kürzungen in vielen Bereichen der sozialen Infrastruktur, Eingriffe in die kommunale Demokratie, Abbau von Bürgerrechten sind nur einige Beispiele auf der langen Liste schwarz-gelber Fehlleistungen.

Antrag des Landesvorstandes für die Ordentliche Landesdelegiertenkonferenz Essen 6./7. Februar 2010

Über der Antwort der Noch-Opposition steht nach der bereits am Samstagabend beendeten Beratung das neue grüne Motto: (Fast) Nichts ist unmöglich. Ausschließen will die Partei lediglich eine weitere Jamaika-Koalition und die Duldung einer rot-grünen Landesregierung seitens der LINKEN. Davon abgesehen reicht die Kooperationsbereitschaft offenbar von einem Ampelbündnis über eine rot-grüne Mehrheitsregierung oder Rot-Rot-Grün bis zur vermeintlichen Notlösung Schwarz-Grün.

Mehr Optionen hält sich nur der erklärte Wunschpartner offen, denn für die Sozialdemokraten geht es am 9. Mai um eine Entscheidung von kaum absehbarer Tragweite. Wenn es den Genossen gelingt, den Absturz in der Wählergunst zu stoppen und ihr altes Stammland zurückzuerobern, könnte die Wahl den Beginn einer Trendwende markieren. Dieses Ziel heiligt alle Mittel, dient doch die Polemik gegen die eigene Politik der vergangenen Jahre ebenso einem höheren Zweck wie die unmissverständliche Absicht, mit jedem Konkurrenten zu koalieren, wenn am Ende wieder Sozialdemokraten auf der Regierungsbank von Nordrhein-Westfalen sitzen.

Die Bündnisgrünen können die Lage etwas entspannter betrachten, doch auch hier erinnern sich allenfalls noch Veteranen aus den 80er und frühen 90er Jahren an die unbeugsamen Zeiten, da man in Düsseldorf und in den Kommunen des bevölkerungsreichsten Bundeslandes aus Prinzip in die Opposition ging. Aber auch auf Bundesebene halten prominente Wortführer wie Renate Künast, Fraktionsvorsitzende im Deutschen Bundestag, nichts mehr von falscher Bescheidenheit.

Wir können nicht darauf warten, dass die SPD dann immer hinreichend groß ist. Und eines ist sicher: Der Machtinstinkt der Grünen ist auch groß. Wir wollen größer werden, damit wir noch mehr Macht haben.

Renate Künast

Die neue Generation bereitet sich folgerichtig frühzeitig auf staatstragende Aufgaben vor und führt schon im Vorfeld eines Urnengangs Gespräche mit den sogenannten relevanten gesellschaftlichen Gruppen.

Absichtserklärungen, harte Zahlen und weiche Themen

So geschehen am 23. Januar dieses Jahres, als sich die Landesvorsitzende Daniela Schneckenburger mit dem örtlichen DGB-Vorsitzenden Guntram Schneider über die richtigen Weichenstellungen NACH der Landtagswahl verständigte.

Beschäftigung sichern, die "grüne" Industrie ausbauen, den Bildungsbereich stärken und die Kommunen wieder handlungsfähig machen: Das sind zentrale Aufgaben, die nach der Landtagswahl im Mai im Vordergrund stehen müssen.

Daniela Schneckenburger/Guntram Schneider

Vor allem sind diese Aufgaben so unverbindlich definiert, das keine im Düsseldorfer Landtag vertretene Partei, kein Verband, keine Bürgerinitiative und keine Interessenvertretung Schwierigkeiten hätte, eine solche Agenda zu unterstützen.

Allerdings ging schon der Entwurf des Landtagswahlprogramms 2010 über solche Gemeinplätze hinaus und bewies auf rund 120 Seiten, dass die Bündnisgrünen noch immer in der Lage sind, klare und einprägsame Positionen zu formulieren und sich mit diskussionsfreudigen Mitstreitern über eine Unzahl von Änderungsanträgen auszutauschen.

So wehte am Wochenende wieder ein Hauch von Basisdemokratie durch das CC West in Essen und für den "Grünen Zukunftsplan NRW" standen tatsächlich konkrete Zahlen zur Debatte. Im Falle einer Regierungsbeteiligung sollen „mindestens“ 200.000 neue Jobs geschaffen werden: 30.000 entstehen in der grünen Planung durch erneuerbare Energien und Ressourceneffizienz, 100.000 im Bereich der Gebäudesanierung und noch einmal je 30.000 durch Investitionen in Bildung und Betreuung sowie durch Investitionen in ein "sozial gerechtes Gesundheitssystem". Am Wochenende wurden dann weitere 10.000 Arbeitsplätze "im sozialen Arbeitsmarkt" nachnominiert.

Neben einem "grünen Wirtschaftswunder" verspricht die Partei, die sich am Samstagabend einstimmig auf das neue Wahlprogramm einigen konnte, neue Ansätze und umfangreiche Kurskorrekturen in allen zentralen Politik- und Lebensbereichen:

- Kluges NRW: Recht auf Bildung für Alle
- Ökologisches NRW: Schutz für Mensch und Umwelt
- Soziales NRW: Für Gerechtigkeit und Zusammenhalt
- Lebendiges NRW: Stark für Demokratie und Gleichberechtigung
- Menschliches NRW: Vielfalt ist Reichtum

Landtagswahlprogramm 2010

Schwarz-grüne Testläufe

Immer und überall ist für jeden etwas dabei, doch wer das Programm nach koalitionskritischen Standpunkten durchforstet, kann sich derzeit nur schwer vorstellen, dass sich die NRW-Grünen nach dem 9. Mai in einer Koalition mit der CDU wiederfinden. Die eklatanten Unterschiede zwischen beiden Parteien sind schließlich nicht nur historischer und ideologischer Natur, sondern durchziehen nahezu sämtliche Politikfelder vom Bildungsbereich (Gemeinschaftsschule bis Klasse 10, Abschaffung der Studiengebühren) über die Sektoren Energie und Wirtschaft bis hin zu vielen sozialen Fragen.

Bei dem von den Grünen geforderten flächendeckenden Sozialticket scheint eine Einigung ebenso unwahrscheinlich wie bei der unter Schwarz-Gelb gestrichenen Landesförderung für Wohnungslosenprojekte oder den von der amtierenden Landesregierung gekürzten „niedrigschwelligen und frauenspezifischen Drogenhilfeangeboten“. Um nur einige wenige und ganz willkürlich ausgewählte Beispiele zu nennen.

Nach den jüngsten Umfragen wäre eine schwarz-grüne Landesregierung allerdings die einzige Variante, die mit einer stabilen Mehrheit rechnen könnte. Gut möglich also, dass die inhaltlichen Differenzen schon im Frühjahr den konkreten Machtoptionen zum Opfer fallen und am Ende nur die Frage bleibt, wer den größeren Teil des programmatischen Tafelsilbers durch die Koalitionsverhandlungen retten konnte. Ministerpräsident Jürgen Rüttgers zeigte sich am Wochenende jedenfalls kompromiss- und gesprächsbereit und düpierte damit einmal mehr seinen aktuellen Koalitionspartner.

Das Wohl meiner Kommunen ist mir wichtiger als Steuerentlastungen, für die in Wahrheit kein Geld da ist und die nicht automatisch zu mehr Arbeitsplätzen führen. Nordrhein-Westfalen wird keiner Steuersenkung zustimmen, die dazu führt, dass in unseren Städten und Gemeinden Theater und Schwimmbäder geschlossen werden müssen. Ich werde es auch nicht zulassen, dass der Ausbau von Kindergärten ins Stocken gerät.

Jürgen Rüttgers

In Nordrhein-Westfalen könnten sich CDU und Bündnisgrüne – anders als in Hamburg oder im Saarland – immerhin auf eine ganze Reihe kommunaler Pilotprojekte in Großstädten stützen. So wird die ehemalige Bundeshauptstadt Bonn von einer schwarz-grünen Ratsmehrheit regiert, die sich in einer umfangreichen Koalitionsvereinbarung darauf verständigte´, nach neuen Gemeinsamkeiten zu suchen.

CDU und GRÜNE sind zwei Parteien mit unterschiedlicher Geschichte. In Bonn haben beide Parteien in der Vergangenheit oft unterschiedlich gehandelt. Auch die Programme sind durch unterschiedliche politische Schwerpunkte und Ideen geprägt. Eine Zusammenarbeit bedeutet, sich auf Neues einlassen. Unterschiede müssen nicht gleich Widersprüche bedeuten, sondern können zu Ergänzungen verbunden werden und neue Perspektiven für unsere Stadt eröffnen.

Koalitionsvertrag CDU/Grüne – Bonn

Die Kolleginnen und Kollegen in Aachen sehen das genauso und zwar in einem so verblüffenden Ausmaß, dass für den dortigen Koalitionsvertrag nur der Name der Stadt ausgetauscht werden musste.

CDU und GRÜNE sind zwei Parteien mit unterschiedlicher Geschichte. In Aachen haben beide Parteien in der Vergangenheit oft unterschiedlich gehandelt. Auch die Programme sind durch unterschiedliche politische Schwerpunkte und Ideen geprägt. Eine Zusammenarbeit bedeutet, sich auf Neues einlassen. Unterschiede müssen nicht gleich Widersprüche bedeuten, sondern können zu Ergänzungen verbunden werden.

Koalitionsvertrag CDU/Grüne – Aachen

Auch in Essen und Köln gab es in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts bereits Koalitionen zwischen CDU und Grünen, wobei der Essener Unionsvorsitzende Franz-Josef Britz den Medien später sogar das eigenwillige Erfolgsrezept für die Zusammenarbeit verriet:

Zwei große Streitpunkte haben wir aus unserer Vereinbarung mit den Grünen einfach ausgeklammert: Den Weiterbau der Autobahn 52 und die Errichtung eines neuen Messeparkplatzes.

Franz-Josef Britz (CDU)

Die schwarz-grünen Regierungen überstanden oft nur eine Wahlperiode, und auch in Duisburg verlor die Koalition ihre Mehrheit bei der Kommunalwahl im Herbst 2009. Die Grünen traten daraufhin einen weiteren Beweis ihrer Flexibilität an. Da man sich mit SPD und LINKEN nur bedingt auf eine Zusammenarbeit einigen konnte, entschied sich die Duisburger Ratsfraktion, den „basisdemokratisch abgestimmten Wunsch nach offenen Mehrheiten“ umzusetzen.

Es soll weder ein "Jamaika Plus mit grüner Tarnkappe" geben, noch ein Rot-Grün-Rot. Im Gegenteil: Die inhaltlichen Übereinstimmungen mit SPD, Linken und der CDU sollten der Garant für breite Mehrheiten sein. 80 % der Entscheidungen im Rat der Stadt wurden bisher einstimmig gefällt. Es gibt keinen Grund, warum dies in Zukunft nicht auch so sein soll. Und das kann unseren grünen Themen nur gut tun.

Stellungnahme der Duisburger Ratsfraktion Bündnis 90/Die Grünen

Ob das Modell „Grün Pur“, das in Berlin auch schon vor der Bundestagswahl diskutiert wurde und mit Abstrichen jetzt wieder auf Landesebene erprobt wird, von den Wählerinnen und Wählern langfristig honoriert wird, bleibt abzuwarten. Immerhin erspart es den Grünen nur die Notwendigkeit einer frühzeitigen Koalitionsaussage – nicht aber den Nachweis, dass ein Maximum inhaltlicher Positionen schließlich auch durchgesetzt wurde.