Kein Strategiewechsel

Afghanistan: Würde ein Rückzug tatsächlich Feigheit vor dem Feind bedeuten?

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"Man kann heute kein Ausstiegsdatum nennen", sagte Verteidigungsminister Jung heute morgen im ZDF. "Wir haben dort noch einen Weg vor uns, bis wir über einen solchen Punkt reden können." Die Formulierung zeigt es: Der Druck auf die Verantwortlichen für den Einsatz in Afghanistan ist seit dem Selbstmordanschlag in Kundus am Sonntag, bei dem drei deutsche Soldaten ums Leben kamen (vgl. Der Krieg, der nirgendwo hinführt), größer geworden. Klein bleiben dagegen die Handlungsspielräume, über die man überhaupt ernsthaft diskutieren will. Unklar bleibt, wie der Weg, "der noch vor uns liegt", eigentlich aussieht.

Kritik und Opposition gegen die Mission am Hindukusch sind, wie zu erwarten war, stärker geworden. Sie artikulieren sich vor allem links von der Mitte: in der Linkspartei, bei der Basis der Grünen, die anfängt, stärker gegen die ehemalige Regierungspolitik ihrer Partei zu argumentieren, in Kreisen der SPD und auch von einzelnen Abgeordneten der CDU werden kritische Äußerungen gehört. Für einiges Aufsehen sorgte darüber hinaus die Kritik aus der Bundeswehr-Gewerkschaft.

Doch ist es, von Ausnahmen abgesehen, eine Kritik mit festgesetztem Limit: An der Gesamtstrategie wird nicht gerüttelt. Auf die Frage danach, was er von Forderungen nach einem Strategiewechsel halte, machte Verteidigungsminister Jung in einem Interview deutlich, dass dies der "völlig falsche Weg ist, weil dadurch die Terroristen genau ihr Ziel erreicht hätten".

Und damit ist genau der Punkt erreicht, an dem sich die Diskussion staut: Wenn allein die Kritik an der Strategie schon als Feigheit vor dem Feind verstanden wird, als Vorbereitung für einen Rückzug, der das Land ganz gewiss zurückfallen lässt "in eine Brutstätte für die Ausbildung von weltweit agierenden Terroristen", dann heißt das, dass es im Grund genommen für Jung keine zulässigen Alternativen gibt. Und daran halten sich auch die meisten Kritiker. Den Einsatz will keiner so recht grundsätzlich in Frage stellen, weil niemand riskieren will, damit den Terroristen in die Karten zu spielen.

Das ist in gewisser Weise nachvollziehbar. Und für diesen Standpunkt spricht die Bitte von Präsident Karsai an den Westen, bei der Friedensicherung und beim Aufbau weiter mitzuhelfen. Offensichtlich ist die Bundeswehr im Norden bei der Bevölkerung auch beliebt. Doch woher nimmt man die Gewissheit, dass der Abzug der deutschen Soldaten die weltweite Bedrohung durch den Terrorismus erhöhen würde? Spricht das nicht eher für Selbstüberschätzung? Ist es nicht eher so, dass die größte Gefahr des internationalen Terrorismus derzeit nicht von lokalen Taliban-Kämpfern, sondern vom Irak ausgeht, dem Hauptschlachtfeld im Kampf gegen den Terror, das demonstriert, wie mäßig erfolgreich bestimmte westliche Gesamtstrategien sind?

Und selbst, wenn man, wie eben der allergrößte Teil der Kritiker, der oben genannten Prämisse zustimmt und entsprechend keine Alternative für den deutschen Einsatz in Afghanistan sehen will, dann wäre es doch zumindest gut, Genaueres über diesen Einsatz zu erfahren als nur die allgemeinen, undetaillierten Mitteilungen, wonach Straßen repariert, Brücken gebaut und Schulen errichtet werden. Was machen die deutschen Soldaten im Norden Afghanistans genau? Worin bestehen die "erheblichen Fortschritte", und das "Vorantreiben vieler Projekte"?

Was aber, wenn die deutsche Position, ohne Rücksicht auf die Diskussionen hierzulande, ohnehin in eine Gesamtstrategie, die der westlichen Verbündeten nämlich, eingebunden ist, die Fortschritte nur verkündet, aber in Wirklichkeit nicht einlösen kann?