Keine Wissenschaft vom Menschen?

Die American Anthropological Association streicht das Wort "Science" aus ihrer Selbstbeschreibung und löst damit eine Welle der Empörung aus

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Als "Wissenschaft vom Menschen" vereinigt die Anthropologie eine große Vielfalt an Disziplinen und methodischen Ansätzen: Mit Evolutionsbiologie und Populationsgenetik kann man genauso Anthropologie betreiben wie mit Kulturtheorie und qualitativer Feldforschung. Mit ihren mehr als 10.000 Mitgliedern reflektiert die American Anthropological Association (AAA) diese Vielfalt und versucht sie als Selbstverständlichkeit zu präsentieren: Das Forschungsthema der Anthropologie sei zu vielschichtig, um natur- und kulturwissenschaftliche Ansätze in einem Konkurrenzverhältnis zu sehen. Beide seien notwendig und ergänzten einander.

Wie viel Misstrauen sich hinter dieser offiziellen Leitlinie angestaut hat, wird nun in einer Diskussion deutlich, die von der New York Times bis zum Twitter Hashtag #AAAfail hohe Wellen schlägt: Die AAA hat aus ihrem Mission Statement den Verweis auf "Science" restlos gestrichen und wird nun des antiwissenschaftlichen Aktionismus verdächtigt.

Auf den ersten Blick können die Änderungen in der Selbstbeschreibung der AAA harmlos erscheinen. Während bislang von der "science of anthropology" die Rede war, findet sich nun ein Hinweis auf die Vielfalt der Forschungsmethoden, wie sie etwa in biologischen, kulturwissenschaftlichen, medizinischen oder sozialwissenschaftlichen Studien deutlich werden. Die Begründung für diese Änderung lautet, dass man niemanden ausschließen wolle: Da "Science" im Englischen wesentlich "Naturwissenschaft" meint, würden sich in der Selbstbeschreibung als "Science" stärker kulturwissenschaftlich arbeitende Forscher nicht wiederfinden. Während die AAA ihre Änderungen als ein Zeichen der Offenheit und Pluralität zu präsentieren sucht, sehen sich insbesondere biologische und medizinische Anthropologen durch die Entscheidung der AAA an den Rand gedrängt und den Wissenschaftsanspruch der Anthropologie gefährdet.

Verständlich ist dieser Konflikt nur vor dem Hintergrund eines tief sitzenden Misstrauens: Wo die AAA ihren Schritt durch die Offenheit der Anthropologie begründet, wird von vielen Kommentatoren ein politisch motivierter Relativismus gesehen, der nun auch symbolisch die Wissenschaft in der Anthropologie abschafft. In diesem Sinne erklärt Peter N. Peregrine, Präsident der kleineren und stärker biologisch orientierten Society for Anthropological Sciences, das Verhalten der AAA zu einen Angriff auf die wissenschaftliche Anthropologie und. Nach Alice Dreger, Professorin an der Feinberg School of Medicine in Chicago, reflektiert die Entscheidung den Bruch zwischen ernsthaften Wissenschaftlern und "luftigen Kulturwissenschaftlern, für die Wissenschaft einfach nur eine weitere Form des Wissens unter vielen ist".

Viele Anthropologen hatten die nun wieder allgegenwärtige Gegenüberstellung von natur- und kulturwissenschaftlichen Ansätzen wohl für längst überwunden gehalten und tatsächlich erinnert die aktuelle Debatte an die bitteren Auseinandersetzungen um "Postmoderne" und die "wissenschaftliche Methode", wie sie in den USA der 1990er Jahre geführt wurden. Zu den eindringlichsten Beispielen dieser Debatten gehört die Sokal-Affäre, in der der amerikanische Physiker Alan Sokal einen gezielt unsinnigen Text in der kulturwissenschaftlichen Zeitschrift "Social Text" einreichte und prompt publiziert bekam.

Sokals Parodie auf eine postmodern geprägte Kulturwissenschaft löste eine hitzige Debatte aus, in der alle Beteiligten ihre Vorurteile bestätigt sahen. Die Kulturwissenschaften schienen als gedanklich verwirrte Relativisten entlarvt, die selbst minimale wissenschaftliche Standards unterlaufen und Texte alleine mittels politischer Kriterien bewerten. Für Sokals Kritiker war die Affäre hingegen Beispiel einer arroganten Naturwissenschaft, die auf soziale und kulturelle Erklärungen herabschaue und sich selbst in einem naiven Ideal wissenschaftlicher Objektivität gefalle (Ende der Wissenschaft?).

Nun dreht sich die Debatte wieder um genau diese Vorwürfe: Den Kulturanthropologen wird die Relativierung der wissenschaftlichen Methode vorgehalten, während biologische Anthropologen mit dem Vorwurf konfrontiert sind, jenseits naturwissenschaftlicher Erklärungen keine Wissensformen zu akzeptieren. Ärgerlich ist an dieser altbekannten Gegenüberstellung, dass sie den methodischen Entwicklungen der Anthropologie hinterherhinkt und sich mit vereinfachenden Feindbildern begnügt.

Wer in eine anthropologische Fachzeitschrift schaut, findet in der Regel eine weitaus komplexere Realität: Weder folgt aus der Verwendung biologischer Methoden eine Ignoranz oder gar Arroganz gegenüber sozialen und kulturellen Faktoren menschlichen Verhaltens, noch sind kulturwissenschaftliche Ansätze an einen allumfassenden Relativismus gebunden, der den Erkenntnisanspruch der Naturwissenschaften bestreitet.

Entsprechend genervt ist die Reaktion von Daniel Lende, Neuroanthropologe und Blogger für die Public Library of Science: Kommentatoren jenseits der AAA würden das Klischee einer in sich zerrissenen und umkämpften Disziplin bedienen, während die akademische Anthropologie bereits viel weiter und die Frage nach dem Verhältnis von Anthropologie und "Science" kein größeres Drama wert sei. Ob sich die angeheizte Debatte tatsächlich auf diese Weise beschwichtigen lässt, bleibt allerdings abzuwarten.