Kissinger: Regime-Change-Politik des Westens ist hochriskant

Archivbild aus dem Jahr 1975. Bild: White House Photographic Office/gemeinfrei

Ex-US-Außenminister: Nur zehn Jahre Zeit, um eine Katastrophe zwischen den USA und China zu verhindern. Europas Friedensordnung braucht Russland. Warum die Ukraine in die Nato muss.

Die Zeit ist knapp, sagt der Diplomatie-Kleber Kissinger. Den USA und China bleiben nach seiner Auffassung gerade noch fünf bis zehn Jahre, um eine fürchterliche Katastrophe mit globalen Ausmaß zu verhindern: eine kriegerische Konfrontation der beiden Großmächte.

"Wir befinden uns in einer klassischen Vorkriegssituation", erklärte der bald 100-Jährige Ende April dem britischen Economist und keine Seite habe viel Spielraum für politische Zugeständnisse. Jede Störung des Gleichgewichts könne zu katastrophalen Folgen führen. Ein Paranoiker?

Wer die 544 Seiten der deutschen Ausgabe von Kissingers Buch Über China (erschienen 2011) auch nur durchblättert, sieht schnell, dass dieses Etikett nicht passt.

Vieles, was der frühere US-Außenminister dort über das Reich der Mitte darlegt, aus dessen Geschichte und seinen politischen Erfahrungen im Kalten Krieg, taucht auch bei der Zusammenfassung eines Acht-Stunden-Gesprächs mit dem britischen Magazin als Prämissen, die in der aktuellen konfrontativen Politik missachtet werden, wieder auf.

Aus Selbstschutz und für den Frieden: Die Nato und die Ukraine

Als "needle-sharp" bezeichnet der Economist den Verstand des Politik-Veteranen. Mit "messerscharf" wird das im Deutschen übersetzt, die Nadeln passen aber besser. Denn Kissinger schießt eine ganze Menge Spitzen gegen verbreitete Überzeugungen ab, die er als gefährlich brandmarkt. Dabei nehmen die abgefeuerten Spitzen seltsame Kurven.

So hält er Europa für "wahnsinnig gefährlich", weil man dort nicht dafür ist, die Ukraine in die Nato aufzunehmen. Die Position der Europäer charakterisiert er so: "Wir wollen sie ("die Ukrainer", Einf. d. V) nicht in der Nato haben, weil sie zu riskant sind. Und deshalb werden wir sie aufrüsten und ihnen die modernsten Waffen geben."

Das Problem sei nun, dass die Ukraine "jetzt so weit aufgerüstet ist, dass sie das am besten bewaffnete Land mit der strategisch am wenigsten erfahrenen Führung in Europa sein wird".

In einem ersten Schritt für eine stabile Friedensordnung in Europa müsse die Ukraine in die Nato. Damit sie "gebändigt" werde und geschützt (i.O. "The first is for Ukraine to join Nato, as a means of restraining it, as well as protecting it").

Was konkret Kissinger unter "restraining" versteht, erklärt er nicht genau. Indirekt macht er darauf aufmerksam, dass er die Forderung aus der Ukraine nach einer vollständigen Rückgabe der Krim nicht für realistisch hält.

Er würde sich wünschen, dass Russland "so viel wie möglich" von dem 2014 eroberten Gebiet abgebe. Die Aussichten, dass es bei Verhandlungen über territoriale Ansprüche zu stabilen, "nachhaltigen" Abmachungen kommt, schätzt er nicht als besonders gut ein:

Russland werde darauf bestehen, den Marinestützpunkt Sewastopol zu behalten. Wenn Russland "einige Gewinne verliert, andere aber behält" wäre ein unzufriedenes Russland wie auch eine unzufriedene Ukraine die Folge, sprich ein schwärender Konflikt.

Dazu brauche es die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine. Deren Abschreckungskraft und Schutz würde dann den anderen Sprung in der Vorstellungskraft, der für einen dauerhaften Frieden nötig sei ermöglichen: die Einbindung Russlands in eine europäische Friedensordnung. Das ist eine Vorstellung, die gegenwärtig hauptsächlich auf Ablehnung stößt.

Falsches Ziel des Regimewechsels

Als Modell für eine solche Architektur, die auf Diplomatie setzt, zieht Kissinger das 19. Jahrhundert heran. Dort sieht er eine balancierte Ordnungsvorstellung im Gegensatz zu einem gefährlichen gegenwärtigen Trend, nämlich die Regierung eines strategischen Gegners absetzen zu wollen.

Die Welt des 19. Jahrhunderts basierte auf der Annahme, dass die Existenz der Staaten, die ihr mit anderen Ansprüchen gegenübertreten (i.O. "contesting"), nicht in Frage gestellt wurde.

Henry Kissinger

Regime Change als ultimatives Ziel funktioniert nach Einsicht des früheren Außenministers, der nicht vor kriegerischen Mitteln zurückscheute, nicht. Ausdrücklich sagt er dies zur US-amerikanischen Politik gegenüber China: "Wenn Amerika einen Weg finden will, mit China zu leben, sollte es nicht auf einen Regimewechsel abzielen."

Die Ansicht, dass ein "besiegtes China demokratisch und friedlich werden würde", hält er für vollkommen unrealistisch. Es gebe dafür keinen Präzedenzfall. Wahrscheinlicher wäre ein Bürgerkrieg, der die globale Instabilität nur noch verstärke. Ähnliches sagte Kissinger vor einiger Zeit über einen von außen forcierten Regime-Change in Russland.

Die "Auflösung" des Gegners entspreche nicht dem Interesse des Westens. Seine Interessen könne er am besten mit Diplomatie und einer starken militärischen Abschreckung als Absicherung verwirklichen.

Weltherrschaft

Er glaubt, dass Chinas Führung es den westlichen Politikern übel nimmt, wenn sie von einer globalen, auf Regeln basierenden Ordnung sprechen, während sie in Wirklichkeit Amerikas Regeln und Amerikas Ordnung meinen.

Chinas Ambitionen dürfe man nicht falsch interpretieren: "Sie streben nicht die Weltherrschaft im Sinne Hitlers an", sagt er. "Das ist nicht die Art und Weise, wie sie über die Weltordnung denken oder jemals gedacht haben."