Knapper Wohnraum: Schluss mit dem Abriss-Wahn!

"Neustadt" / Emscherkunstweg.Pressefoto: Julius von Bismarck / Marta Dyachenko

Architekt:innen machen Druck auf die Politik. Gefordertes Abriss-Moratorium weist einen Weg aus den wohnungspolitischen Defiziten. Ein Interview.

Die Wohnungsbauziele der Bundesregierung sind verfehlt. Die Latte von 400.000 neuen Wohnungen jährlich ist gerissen. In schieren Mengen zu denken, scheint nicht produktiv zu sein. Ohne das "Wie" wird nichts aus dem "Wie viel". Eine Gruppe von Architekt:innen und Vertretern verwandter Berufe trat im letzten September mit der Frage an die Öffentlichkeit, wie Reserven zu mobilisieren sind, ohne ausschließlich auf Neubau zu setzen.

Die Lösung des Rätsels ist so verblüffend wie naheliegend: Erhalt und Umbau des Bestandes sind ökologisch. klimatologisch und ökonomisch sinnvoller als Abriss und Neubau. In einem offenen Brief an die Bundesbauministerin fordert die Gruppe ein Abriss-Moratorium. Das könnte zugleich als Nachdenk-Pause verstanden werden, wie die Innenentwicklung der Städte zu forcieren ist.

Der Aus- und Umbau der Altbestände wird durch die Möglichkeit neuer Nutzungen initiiert und garantiert. Verfall und Leerstand werden aufgehoben. Die Wiederverwendung deutet auf eine Kreislaufwirtschaft hin, die auch die ganze, die "zirkuläre Stadt" erfassen könnte. Im engeren Sinn geht es um das Recycling von Baustoffen und Materialien.

Zu diesem und weiteren Themen wie "Nachverdichtung", "Umgang mit der Nachkriegsmoderne", "Verantwortung der Architekten" befragte Telepolis den Architekten und Hochschullehrer Alexander Stumm, der das Moratorium organisierte. Der Brief zum Moratorium hat neben Institutionen 170 Einzelpersonen als Erstunterzeichner und bis heute Hunderte von Unterstützern.

Den Fragen sei eine Sentenz aus dem offenen Brief vorangestellt:

Heute, wo die Klimaerwärmung spürbar, die Energieversorgung unsicher und die planetarischen Grenzen erreicht sind, ist nicht der Erhalt von Gebäudestrukturen erklärungsbedürftig, sondern ihr Abriss.

Können Sie eine Zwischenbilanz des Abriss-Moratoriums ziehen? Sind Sie zufrieden mit der Resonanz und was folgt?
Alexander Stumm: Wir haben bisher keine Rückmeldung von Bundesbauministerin Klara Geywitz erhalten. Über die Veranstaltungen in mehreren Städten in Deutschland sind wir jedoch mit Politikern auf kommunaler und Landesebene zusammengekommen. Unser Brief mit dem Aufruf zum Abriss-Moratorium ist also durchaus angekommen.
Durch die Initiativen von BDA, Architektenkammer, Deutsche Umwelthilfe und Architects for Future konnte das Thema Abriss in der letzten Zeit verstärkt Aufmerksamkeit erhalten. Das Medienecho war sehr hoch und stieß in der Architekturbranche auf große Resonanz. Wir zielen jedoch auch auf die Ressorts Wirtschaft und Umwelt, um das Thema in der Politik nachhaltig zu platzieren.
Die Kahlschlagsanierung der 1960er- und 1970er-Jahre sollte Platz für neue Großwohnsiedlungen in einer autogerechten Stadt schaffen. Hat nicht diese Nachkriegsmoderne selbst die Rechtfertigung geschaffen, sie, das heißt ihre Zeugnisse, nunmehr abzureißen – nicht anders, als sie selbst mit den gründerzeitlichen Altbauten umging?
Alexander Stumm: Wir brauchen ein Umdenken in der Architekturpraxis, die seit circa 200 Jahren - die Umgestaltungen der Stadt Paris durch Haussmann können hier als Initialzündung gelten - das Alte aus dem Weg schafft, um Neuem Platz zu machen.
Eine radikale Infragestellung der Moderne lässt sich in diesem Sinne nur durch eine neue Wertschätzung für das Bestehende erreichen. Es gilt, die fossile Logik der Moderne zu durchbrechen und neue Wege einzuschlagen – diesmal nicht als neue Architekturformen, sondern als neues kulturelles und ökologisches Verständnis.
Klimagerechtes Bauen, ressourcenschonendes Bauen und sozialverträgliches, kostengünstiges Bauen – geht das unter dem Primat des Bestandserhalts zusammen?
Alexander Stumm: Ja, das geht sehr gut zusammen. Es ist nicht leicht, eine richtige Antwort auf eine falsch gestellte Frage zu geben. Schließlich geht es nicht darum, 400.000 neue Wohnung pro Jahr zu errichten, sondern eine Antwort auf die Wohnungsfrage zu geben. Der Wohnungsnot begegnet man 2023 nicht nur durch Neubau (dieser wird sogar kurz- bis mittelfristig wegen der Energiekrise und Materialknappheit abnehmen), sondern durch kreative Lösungen. Zum Beispiel die Nutzung von Leerstand.
Im Gebäudebestand können mehr als vier Millionen Wohnungen zusätzlich errichtet werden. In Metropolen bestehen große Potenziale insbesondere im gewerblichen Bereich wie leerstehenden Büro- und Verwaltungsbauten, die zu ca. 50 Prozent mit geringem oder mittlerem Aufwand für den Umbau und die Umnutzung zu Wohnungen technisch und funktional geeignet sind.
Allein durch zunehmenden Leerstand und höhere Flächeneffizienz könnten bis 2040 rund 1,86 Millionen Wohnungen in Deutschland geschaffen werden. Instrumente wie der Leerstandsmelder unterstützen diese Entwicklung.

"Nachverdichten funktioniert über mehrere Strategien"

Die Befürworter eines Abriss-Moratoriums argumentieren, dass Bestandsbauten, die durch Umbau neuen Nutzungen angepasst werden, unter ökologischen, energetischen und ökonomischen Gesichtspunkten Neubauten überlegen sind. Wie aber kommt es zu der Aussage in einer vom Umweltbundesamt herausgegebenen Veröffentlichung, nach der die Wiederverwendung von Bauteilen "nur selten wirtschaftlich" sei?
Alexander Stumm: Wiederverwendung von Bauteilen ist aus Sicht der Materialschonung, der Energieeffizienz und der Vermeidung von Treibhausgasemissionen, sprich: aus klima- und ökologischer Sicht immer sinnvoller als der Abriss beziehungsweise Neubau. Jedoch werden der Wiederverwendung von Bauteilen durch aktuell geltende Vorschriften – Normen, Standards, Richtlinien – viele legislative Hürden in den Weg gelegt. Viele davon sind unnötig.
Normen sind Industrienormen, die mit dem unternehmerischen Interesse des Profits Eingang in die Politik gefunden haben und vieles erschweren. Initiativen wie der Gebäudetyp E von der Bundesarchitektenkammer versuchen dies gerade auszuhebeln.
Wenn ein 50 Jahre altes Gebäude umgebaut wird, muss es alle heute geltenden Normen und Standards erfüllen – das macht einen Umbau wirtschaftlich untragbar. Eine Anpassung tut hier Not. Außerdem bedarf es einer Anpassung der Förderrichtlinien, die Abriss-Neubau derzeit immer noch begünstigen.
Einerseits wird eine Lebenszyklusanalyse von Gebäuden empfohlen, andererseits wird ihr Wertverlust nach einem linearen Schema berechnet. Wie stehen Sie zu dem Gegensatz?
Alexander Stumm: Die Lebenszyklusanalyse ist ein guter Schritt, die Energie allein nach der Betriebsenergie zu berechnen. Sie preist damit auch den Abbau der Rohstoffe, die Produktion der Baumaterialien, die Energie auf der Baustelle und beim Abriss mit ein. Das ist eine notwendige Berichtigung.
Auch der Re-Use-Faktor von Bauteilen wird damit eingepreist. Dennoch wird weiterhin mit einer fünfzigjährigen Standardlebenslänge von Gebäuden gerechnet, die der Vergleichbarkeit dient. Die Tendenz geht zur Quantifizierung.
"Nachverdichten" mindert den Abriss- und Neubaudruck in Innenstädten. Gehen dadurch nicht kleinere Freiflächen verloren, die eine Stadt auch aus klimatischen Gründen braucht?
Alexander Stumm:: Nachverdichten funktioniert über mehrere Strategien: Aufstockungen, Erweiterungen und die Anpassung an zukünftige Nutzungsanforderungen vermeiden zusätzliche Versiegelung. Das Abriss-Moratorium steht aber nicht jedem Neubauvorhaben kritisch gegenüber, denn es bedarf immer einer Abwägung verschiedener Interessen.
Andersherum muss auch eine Versiegelung durch Nachverdichtung mit (bisher teils zu wenig beachteten) Faktoren wie die Klimaerwärmung und Hitzeentwicklung oder die Biodiversität in Innenstädten abgewogen werden.
Welcher Art können Erweiterungen durch Umbauten sein?
Alexander Stumm:: Die Lebensverhältnisse haben sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. Die Vater-Mutter-2-Kinder-Welt entspricht nicht mehr den diversen Lebensentwürfen unserer Gegenwart. Dementsprechend müssen auch Grundrisse diese Vielfalt widerspiegeln und neue Formen des Zusammenlebens ermöglichen, darunter Clusterwohnungen.
Flexiblere Grundrisse, zum Beispiel durch Zu- und Wegschalten von Räumen zwischen angrenzenden Wohnungen, können veränderte Raumbedarfe in unterschiedlichen Lebensabschnitten begünstigen.
In der Zeit des Wohnungselends (19./20. Jahrhundert) wurden zerschlissene Kleider neu aufgearbeitet, und diese wurden zu Lappen. Dagegen die "Bobos" von heute: Sie haben eine gehobene "Sperrmüll-Mentalität". Sie demonstrieren ihre Verachtung gegenüber dem Konsum. Wird die Parole "Bestand erhalten statt neu Bauen" nicht zum Dogma, das soziale Unterschiede übergeht?
Alexander Stumm: Dieser Argumentation kann ich nicht ganz folgen. Wir sind nachdrücklich der Meinung, dass wir sozialen Problemen wie Gentrifizierung und Verdrängung in Ballungsräumen, wo Investoren Gebäude abreißen, um bessere und selbstverständlich teurere Wohnungen verkaufen zu können, mit unserer Initiative begegnen können.
Die Wertschätzung des Bestandes verstehen wir nicht als "Mode-Trend", sondern als notwendige Reparatur einer auf der Ausbeutung fossiler Brennstoffe und mineralischer und metallischer Rohstoffe basierenden Architekturpraxis.
Durch das Umnutzen von Gebäuden entstehen im Laufe der Zeit "gemischte Gebilde". Architekturstile überlagern und verwischen sich. Was bedeutet das für das Stadtbild? Wird seine Entwicklung arbiträr?
Alexander Stumm: Das Selbstbild bzw. das Klischeebild des Architekten, der ganze Gebäude mit einem Bleistiftstrich im Restaurant auf der Serviette schon vorgedacht hat, wird verschwinden. Stattdessen gilt es für Architekt:innen, im Bestehenden Lösungen zu finden, die auch auf ästhetisch-formale Hinsicht überzeugen.
Dabei ist die gestalterische Palette mindestens genauso groß wie beim Neubau auf der grünen Wiese. Umbauten erschöpfen sich nicht in einer "Bricoleur-" oder "Do it yourself"-Ästhetik, sondern können Stadtbilder auf vielfältige Weise bereichern.
Läuft beim Bekenntnis zum Bestandserhalt nicht noch ein ganz anderer Film ab? Architekt:innen und Planer:innen werden vom Publikum für alles verantwortlich gemacht, was schiefläuft, wissen aber selbst nicht so genau, ob sie die Verantwortung übernehmen sollen oder ihrerseits Opfer sind ...
Alexander Stumm: Wir sehen deshalb die Politik in der Pflicht. Auf individueller Ebene kann man als Architekt(in) einen kleinen Beitrag zum Wandel leisten. Aber gemeinsam erreicht man viel mehr. Einzelne ökonomische Akteure mit politischem Einfluss haben wenig Interesse, die Abrisspraxis infrage zu stellen: Abfallunternehmen, mineralische Baustoffproduzenten, Investoren.
Wenn sich jedoch Architekturschaffende zusammenschließen, können sie politisch Gehör finden. Eine Möglichkeit ist, den inzwischen von hunderten Unterstützenden getragenen offenen Brief an Bundesministerin Klara Geywitz für ein Abriss-Moratorium zu unterzeichnen.

Alexander Stumm ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Kassel, Fachgebiet Architekturtheorie und Entwerfen sowie Dozent für Architekturgeschichte in Ho-Chi-Minh-Stadt. Er arbeitet als Redakteur bei der Bauwelt und zuvor bei Arch+. Er lehrte an der TU Berlin und und war 2022/23 Vertretungsprofessor an der BTU Cottbus.