Koalition, Duldung, wechselnde Mehrheiten oder ein "Kabinett der Nationalen Einheit"?

Durch den knappen Wahlausgang ist die Regierungsbildung in Großbritannien relativ offen

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Seit heute Vormittag steht fest, dass bei den gestrigen Parlamentswahlen in Großbritannien weder Labour noch die Tories die für eine absolute Mehrheit notwendigen 326 Mandate erreicht haben. Nach 621 ausgezählten von insgesamt 650 Wahlkreisen liegen die Tories bei 291 Sitzen. Labour hat 251 Mandate sicher. Die Liberaldemokraten entsenden dem derzeitigen Auszählungsstand nach mindestens 52, die Regionalparteien und die Grünen zusammengerechnet wenigstens 27 Politiker nach Westminster.

Das amtliche Endergebnis wird frühestens für den Nachmittag erwartet - auch deshalb, weil die Zählung in rund 20 Wahlbezirken erst um 9 Uhr begann. Nachdem in langen Schlangen anstehende Wähler beim Schließen der Wahllokale teilweise abgewiesen wurden, gilt zudem als möglich, dass der eine oder andere Kandidat, der in einem davon betroffenen Wahlkreis nur knapp verlor, das Ergebnis anficht. Von Thirsk and Malton ist bereits jetzt sicher, dass die Entscheidung noch länger auf sich warten lassen wird: Dort findet aufgrund eines Todesfalls erst am 27 Mai eine Nachwahl statt.

Relativer Wahlsieger: Tory-Spitzenkandidat David Cameron. Foto: World Economic Forum. Lizenz: CC-BY-SA

Ein "Hung Parliament" bietet die Option einer Minderheits- oder einer Koalitionsregierung. Zuletzt gab es diese Situation in Großbritannien im Februar 1974, als der damals amtierende konservative Premierminister Edward Heath zwar mehr Stimmen, aber weniger Mandate als die Labour-Partei errang und eine Koalitionsregierung mit den Liberaldemokraten bilden wollte. Allerdings scheiterte er, weil er der Forderung nach einer für die Liberaldemokraten günstigen Wahlrechtsreform nicht zustimmen wollte. Eine Minderheitsregierung unter Harold Wilson schaffte es nicht, parlamentarische Mehrheiten zustande zu bekommen, sodass schließlich im Oktober noch einmal gewählt wurde und Labour eine knappe absolute Mehrheit der Sitze errang.

Eben weil solch eine Wahlrechtsreform auch 2010 von den Liberaldemokraten gefordert wird, ist nicht sicher, ob die Partei nun tatsächlich Teil einer Regierung wird. Alternativ gangbare Wege wären - je nach Endergebnis - auch ein Regieren mit Regionalparteien oder mit wechselnden Mehrheiten. Selbst eine Große Koalition gilt zwar als unwahrscheinlich, aber nicht als ganz ausgeschlossen. Möglich wird sie dann, wenn die Liberaldemokraten auf eine mehr als nur kosmetische Hinwendung zum Verhältniswahlrecht pochen und die Tories beziehungsweise Labour daraus einen stärkeren Machtverlust befürchten müssten, als durch Zugewinne für Liberaldemokraten und Regionalparteien nach einer "Regierung der Nationalen Einheit", die sich (wie im Zweiten Weltkrieg) als Notstandsmaßnahme verkaufen ließe. Auch deshalb, weil Ende April herauskam, dass der britische Zentralbankchef Mervyn King meint, die Einschnitte der nächsten Regierung müssten zwangsläufig so grausam sein, dass die sie alleine tragende Partei für eine ganze Generation nicht mehr wiedergewählt werden würde.

Eurobegeisterung und Griechenlandkrise

Zudem dürften Koalitions- oder Duldungsverhandlungen zwischen Labour oder den Tories auf der einen und den Liberaldemokraten auf der anderen Seite selbst dann alles andere als konfliktfrei auflaufen, wenn der alte Streitpunkt einer Wahlrechtsänderung ausgeklammert wird: So warben die Tories etwa damit, auf eine geplante Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge zu verzichten und gleichzeitig das Haushaltsdefizit ohne Steuererhöhungen verringern zu wollen. Die Liberaldemokraten kommentierten diese Behauptungen mit der trockenen Bemerkung, dass die Konservativen ihre Wähler offenbar für Trottel halten.

Dass eine Partei, die "liberal" im Nahmen führt, so etwas äußert, mag für deutsche Ohren verwunderlich klingen - doch nichts wäre verkehrter, als Nick Cleggs LDP mit der FDP gleichzusetzen: Tatsächlich liegen sowohl Labour als auch die Tories politische näher bei der Westerwelle-Partei als die britischen Liberaldemokraten, die sich unter anderem durch ein klares Nein zum Irakkrieg, der Forderung nach zusätzlichen Steuern auf Millionärsvillen und Plänen für eine weitaus stärkere Regulierung der Finanzmärkte von den beiden großen Parteien unterschieden. Zudem hatte Clegg in seinem Wahlkampf als Beispiel für das Versagen der Labour-Partei auch die stark gewachsene wirtschaftliche Ungleichheit herausgestellt - also etwas, das die FDP eher von der anderen Seite her kritisiert.

Gemeinsamkeiten zwischen LDP und FDP gibt es am ehesten an den Bürgerrechtsflügeln: So stimmten die 18 anwesenden Abgeordneten der Liberaldemokraten beispielsweise geschlossen gegen ein von Labour und den Tories befürwortetes Internetsperrengesetzes. Allerdings distanzierte sich die Partei eher von den vorgesehenen Strafen, als von den Zielen der Digital Economy Bill und bietet zudem auch ausgerechnet dem Oberhausabgeordneten eine politische Heimat, der die Möglichkeit zum Sperren von Websites erstmals in den Entwurf einfügte, weshalb die britische Piratenpartei ihre Wähler nicht zur pauschalen Unterstützung liberaldemokratischer Kandidaten aufrufen wollte.

Trotzdem hatten die Liberaldemokraten in diesem Wahlkampf nicht nur bessere Umfragewerte, sondern auch erheblich mehr Medienöffentlichkeit als vor früheren Wahlen. Zu einem guten Teil lag dies an den erstmals in der britischen Geschichte mit drei Kandidaten veranstalteten Fernsehdebatten. Die erste dieser Auseinandersetzungen gewann Clegg ebenso klar wie überraschend, das zweite wurde allgemein als ein Unentschieden zwischen ihm und Cameron gewertet und das dritte ging an den Tory. Die mit Abstand schlechteste Figur hatte in allen drei Debatten der Labour-Kandidat gemacht. "Brown accused Clegg of anti-Americanism and Cameron of being anti-European - many voters will think 'sounds good to me'" brachte Tony Parsons im Daily Mirror das Scheitern seiner Strategie auf den Punkt.

Angesichts der vorhergesagten Steigerung der Stimmanteile um ein Drittel ist allerdings nicht nur das Labour-Ergebnis, sondern auch das der Liberaldemokraten ausgesprochen enttäuschend. Was neben dem Mehrheitswahlrecht offenbar verhinderte, dass Clegg erfolgreicher abschnitt, war seine offensiv zur Schau getragene Begeisterung für Brüssel. Dabei kam ihm auch die Griechenlandkrise in die Quere, die den britischen Wählern die evidenten Gefahren des - wie sich zeigte - nur bedingt durchdachten Experiments Gemeinschaftswährung vor Augen führte. Cameron erkannte das und entdeckte seine nach der Unterschrift von Vaclav Klaus unter den Lissabon-Vertrag fast schon vergessene euroskeptische Rhetorik wieder, mit der er besonders vor den Gefahren einer Koalitionsregierung warnte.

Die bleibt ihm nun trotz seiner deutlichen Zugewinne nicht erspart - wenn er überhaupt regieren wird. Von Seiten der Labour-Partei kämen nämlich noch in der Wahlnacht recht eindeutige Angebote an die Liberaldemokraten, dass man im Falle einer Koalition durchaus bereit wäre, das Wahlrecht zu ändern, das ohnehin "aus dem letzen Loch pfeifen" würde.