Koksalarm im Reichstag

Der Begriff der Drogenpolitik erfährt einen originellen Bedeutungswechsel

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Vielleicht macht das Netz süchtig, aber der virtuelle Stoff, der durchs Hirn rauscht, wird weder in Kolumbien geerntet noch auf der Intensivstation abgebaut. Koksende Nationaltrainer schießen dagegen den antiken bis antiquierten Glauben des jungen Menschen an den gesunden Sportsgeist in einem gesunden Körper ins mediale Abseits. Ging es hier nur um das Daum'sche Eigentor - wir könnten den Abtritt des vormaligen Lieblings der Fußballolympier des DFB um ein Haar verschmerzen. Auf diesen Trainer folgt halt die nächste Träne, ohne dass dadurch der Restpatriotismus müder Nationalstaaten auf dem neuen Feld der Ehre schon durch Tore erhört würde. Aber das ist schon Schnee von gestern. Die neue mediale Schneelawine lautet: Auch auf dem Reichstagsklo sedimentieren sich weiße Spuren von nicht ganz sauber leergefegten Koksstraßen. Wird morgen schon "der Bevölkerung" (Hans Haacke) Parlamentsputzwasser im Flakon verkauft?

Nun ist der Glaube, dass Politiker Vorbilder juveniler Nachwuchsdemokraten sein könnten, nicht erst seit Kohls dickfelliger Dunkelmannpolitik ins Wanken geraten. Aber das konnten wir noch auf unserem persönlichen Schwarzkonto verbuchen, da die Politik gerade so schmutzig ist, wie wir es schon immer im Interesse des süchtig machenden Machterhalts für notwendig hielten. Dagegen erregt es uns lustvoll, dass der gemeine Straßenjunkie, der sein Fixerbesteck auf der Bahnhofstoilette appliziert, nun seine Brüder und Schwestern im Geiste bewusstseinserweiternder wie -flüchtender Drogen dort finden soll, wo sich die Legislative seit Jahren vergeblich bemüht, den Besitz eines "Piece" nicht zum Staatsvergehen zu erklären.

In diesen Tagen erfährt der Begriff der Drogenpolitik mithin einen originellen Bedeutungswandel. Dürfen die Reichstagsbesucher also hoffen, dass die "doors of perception", die schon Huxley-Adept Jim Morrison einer ganzen wilden Generation weit öffnen wollte, auch dem homo politicus aufgehen mögen? Dass Politik und Bewusstseinserweiterung eine bessere Ehe eingehen sollten als bisher, wird niemand leugnen, der sich etwa der sedierenden Rhetorik von Parlamentsdebatten aussetzt.

Aber es wächst der Verdacht, dass die Politik nicht etwa in die halluzinogene Spätphase ihrer chemischen Erleuchtung eintritt, sondern dass Politik nur mit Koks tolerabel wird. Wer Sorgen hat, hat auch - Wilhelm Busch zufolge - Likör. In dieser Drogenlogik liegt es, dass professionelle Weltproblemlöser neben Praktikantinnen, Fressgelagen und Alkohol eben mitunter auch Koks brauchen, um das auszuhalten, was gerade nicht auszuhalten ist. So hat bekanntlich jede Gesellschaft nicht nur die Politiker, sondern auch die Drogen, die sie verdient. Und warum sollte für die künstlichen Paradiese von Schwabing reserviert sein, was auch im Parlament aus Schnarchnasen Stehaufmännchen macht?

Drogendemokratie als die Fortsetzung der Politik mit effektiveren Mitteln! Wer also demnächst eine Straße zieht, muss nicht dem Weg des Ökogesundheitsjoggers Fischer folgen, sondern könnte ein demokratisch aufrechter Drogenpolitiker sein, der die selbst auferlegte Mixtur aus Weltelend und Dauerstress im Koks wegschnüffelt. Diätenerhöhungen wären danach der Euphemismus, den Schnupfnasen dann gebrauchen, wenn die Dosis, die politische Albträume verflüchtigt, gerade mal wieder gesteigert werden muss. Bei so viel bundesrepublikanischem Schnee behält Heine also zumindest in der aufgekratzten Medienberichterstattung, die sich darob längst selbst koksverdächtig macht, Recht: Deutschland erzählt sich mal wieder ein Wintermärchen.