Kollektive Identität - in Zeiten des Umbruchs

Philosophische Reflexionen aus Kairo

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Es sind wirklich große Fragen, die uns derzeit auf den Nägeln brennen: Was bedeutet der so genannte Arabische Frühling wirklich? Welche Bedeutung hat insbesondere die hier in Kairo auf dem Midan Tahrir kulminierende letztjährige ägyptische Januar Revolution? Welche Bedeutung und Relevanz primär für Ägypten selbst? Welche für die arabische Welt? Welche für die heutige und die zukünftige Welt insgesamt? Welche Bedeutung insbesondere für Europa? Und dann auch gleich ganz konkret: Welche Bedeutung hat diese Revolution, dieser Umbruch, für uns selbst?

"Wer in dieselben Flüsse hinabsteigt, dem strömt stets anderes Wasser zu" - mit diesem Bild des kontinuierlich dahin fließenden Flusses hat vielfache Polaritäten auf den Begriff gebracht: die Polarität von Sein und Werden, von Gleichheit und Verschiedenheit, und auch, wie viele Intellektuellen heutzutage vielleicht stattdessen lieber sagen würden, ganz allgemein die Polarität von Identität und Nicht-Identität.

Demonstranten am 29. Januar 2011 in der Innenstadt von Kairo. Bild: Ramy Raoof. Lizenz: CC-BY-SA-2.0

Bezüglich dieser Polaritäten sind unsere ägyptischen Gastgeber hier in Kairo sicher selber die besten Experten: Der Nil ist seit Abertausenden von Jahren der Nil, während sein z.B. am Kairoer Nilometer vorbeiströmendes Wasser zu keiner Stunde dasselbe ist.

Ein Fluss ist kein Fluss, wenn sein Wasser nicht fließt. Das scheint noch trivial. Aber zudem gilt auch, dass nicht alle fließenden Wasser, nicht alle Wasser, die ‚im Fluss’ sind, Wasser in in demselben Flusse sind. Und schon sind wir bei der Frage danach, was das entscheidende Identitätskriterium für Flüsse ist, also bei der Frage, was zwei fließende Wasser gemeinsam haben müssen, um Wasser desselben Flusses zu sein.

Was ist es genau, was den Nil zum Nil macht? Sein Ursprung? Sicher nicht. Schließlich existierte der Nil auch schon Jahrtausende vor der Entdeckung seiner Quellen. Die räumliche Lage seiner diversen Flussbette? Wohl auch nicht. Auch diese Lagen haben sich über die Jahrtausende hinweg immer wieder verändert, sei es durch natürliche Ereignisse, sei es durch Einwirkung von Menschen und deren Maschinen.

Und schon werden einige Kollegen unter uns theoretisch abheben - und solche Thesen vertreten wollen wie die, dass es den Nil in Wirklichkeit gar nicht gibt, die als "Nil" benannte Entität vielmehr, wie überhaupt alles auf dieser Welt, eine soziale Konstruktion des menschlichen Geistes sei. Oder so.

Ich glaube, mit solchen Identitätsfragen verhält es sich nicht anders als wie mit der großen Frage nach dem Wesen der Zeit: Deren Problematik hat der afrikanische Philosoph und Theologe in seinen Confessiones (XI,14) treffend so ausgedrückt:

Was also ist ‚Zeit’? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; [werde ich danach gefragt und] will ich es [dem] Fragenden erklären, weiß ich es nicht.

Ich sehe diese Dinge ganz grob so: Wenn alles wie normal verläuft, stellen sich keine Identitätsfragen. Ob wir uns um 4 oder erst um 5 Uhr treffen sollen und ob lieber beim Libanesen auf dem Dampfer Blue Nile oder bei den kleinen bunten Booten am Kairoer Ostufer des Nils, das ist, zumindest intellektuell, in der Regel absolut unproblematisch. Solange alles seinen gewohnten Gang geht, gibt es keine Identitätsprobleme. Solange für uns alles weiterhin so ist, wie es ist, brauchen wir auch keine Identitätstheorien.

Das impliziert: Das Auftauchen von Identitätsproblemen ist ein ziemlich verlässliches Symptom für das Vorliegen einer besonderen Art von Krisen-Situation, eben für das Vorliegen einer, wie es dann treffend heißt, mehr oder weniger tiefen Identitäts-Krise. Solche Identitätskrisen können ihrerseits wieder - aus höherer Warte betrachtet - zum normalen Verlauf der Dinge gehören: wie z.B. die, die typischerweise in der Pubertät auftreten, oder in der so genannten Midlife-Crisis, beim Vorliegen existenzieller Beziehungsprobleme, nach dem Tod einer Person, die uns sehr nahe stand usw. Sie können aber auch ganz unerwartet über uns hereinbrechen. Zum Beispiel bei einem Gehirnschlag. Und selbst für den Glücklichsten von uns kann von einem Atemzug auf den anderen das ganze Dasein seinen Sinn verloren haben.

Und dies gilt, wie wir wissen, nicht nur für Individuen, es gilt nicht weniger für Kollektive. Umbruchszeiten sind, wenn sie echte Umbruchszeiten, Revolutionen gar, sein (oder auch nur so heißen) wollen, immer auch Krisenzeiten - und zwar notwendigerweise. Jede tiefer gehende Umbruchszeit geht ganz unvermeidbar mit einer Identitätskrise Hand in Hand. Es ist also schlicht inkonsequent, wenn man eine Revolution begrüßt - und sich dann über deren Identitäts-Prämissen und Folgen beklagt.

Wenn dem so ist, dann folgt daraus logischerweise: Auch dieser Kongress, genauer: auch der Diskurs dieses Kongresses ist - als ein Diskurs mit diesem Thema (Wende(n) und Kontinuität) - seinerseits ein deutliches Symptom einer mehr oder weniger gut identifizierbaren Identitätskrise. Eine der für mich spannendsten Fragen in diesen Tagen wird daher diese sein: Wie werden wir Teilnehmer dieses Kongresses jetzt, da wir nunmehr ja wissen, dass dem so ist, wie werden wir jetzt selber mit dieser Art von Selbsterkenntnis umgehen? Eines sollte jetzt jedenfalls klar sein: Wir sind dank dieser Logik spätestens ab jetzt nicht mehr nur bloße Identitätskrisen-Beobachter, vielmehr bereits selbst Identitätskrisen-Akteure. Das könnte diesen Kongress vielleicht - ja hoffentlich - zu einem echt spannenden machen.

Wie sich unsere Kongressleitung auf diese Frage vorbereitet hat, das sehen und hören Sie gerade: Sie hat für den Eröffnungsvortrag einen Philosophen eingeladen.

Das freut mich zwar sehr; und ich danke hiermit auch artig für diese Ehre. Aber ich muss auch gestehen, dass mich diese hohe Wertschätzung meines Faches zugleich auch mit einer gewissen Sorge erfüllt. Denn Philosophie, falsch praktiziert, gehört, wie ich glaube, mit zu den gefährlichsten Dingen der Welt. Vor allem dann, wenn sie, wie auch in den führenden NATO-Ländern derzeit ersichtlich der Fall, auf eine Rezeptionshaltung trifft, wonach Philosophen Leute sind, die über die Welt besser Bescheid wissen als andere, Autoritäten also, deren Rat man im so genannten Humanitären Notfall auch blindlings Folge leisten kann. Ein französischer Philosoph ruft mit seinem Handy seinen Präsidenten an; und wenige Stunden später regnet es Bomben auf Libyen. Nicht weniger wirksam waren im Kontext des Kosovokrieges von 1999 ein paar Sätze meines deutschen Kollegen .

Ich bin analytischer Philosoph, also einer, dem Klarheit in der Sache wichtiger ist als der Kontakt mit dem jeweils herrschenden Weltgeist. Für mein heutiges Thema - die Kollektive Identität (in Zeiten des Umbruchs) - heißt das: Ich will, ehe ich mich überhaupt auf irgendwelche weiteren Identitäts-Spekulationen einlassen möchte, zuerst einmal selber genauer wissen, was man unter Identität im allgemeinen und dann unter der Kollektiven Identität im besonderen zu verstehen hat.

1 Identität als Relation

Und damit zur Sache. Zur Frage: Was ist bzw. was heißt "Identität"?

1.1 Identität - unter diesem Namen läuft sehr vieles. Es gibt nicht den einen Identitäts-Begriff; es gibt vielmehr eine ganze Reihe unterschiedlicher Identitäts-Begriffe. Dass zwischen all diesen verschiedenen Begriffen im derzeitigen Identitäts-Diskurs meist NICHT unterschieden wird - vielleicht auch, wie ich glaube, einigen Wortführern dieses Diskurses zufolge oft auch gar nicht unterschieden werden SOLLTE - , diese Tatsache macht die entsprechenden Distinktionen für jeden, der auch nur ein bisschen mehr Klarheit gewinnen will, nur umso dringlicher.

1.2 Ich schlage vor, zunächst ganz grob zwischen zwei Klassen von Identitätsfragen zu unterscheiden. Bei den Fragen aus der ersten Klasse geht es darum, unter welchen Bedingungen zwei Dinge - nennen wir sie kurz und bündig: a und b - identisch sind. Identität wird dabei also als eine zweistellige Relation verstanden, als eine Beziehung zwischen den zwei Dingen a und b. Bei den Fragen aus der zweiten Klasse geht es hingegen darum, ob bzw. in welchem Maße ein ganz bestimmtes Ding (bzw. eine ganz bestimmte Person oder Gruppe) jene komplexe Eigenschaft hat, die dann eben als die Identitäts-Eigenschaft gilt - wie etwa die, mit sich selbst eins (bzw. auch: mit sich selbst im Reinen) zu sein.

Kurz: "Identisch sein", das ist in der ersten Klasse ein zweistelliges Prädikat, in der zweiten Klasse hingegen ein einstelliges (komplexes) Prädikat. Zur Erinnerung: mehrstellige Prädikate drücken Relationen aus, einstellige Eigenschaften. So einfach ist das. (Aber ich weiß: In der Hitze des Diskurses muss man sich selbst zur Beachtung der einfachsten Distinktionen oft regelrecht zwingen. Aber ich denke: Die Anstrengung könnte sich lohnen.)

1.3 Die klassischen philosophischen Identitätsprobleme sind durchwegs Fragen aus der ersten Klasse, also Relations-Probleme. Die Grundfrage ist dabei stets diese: Hinsichtlich welcher Eigenschaften dürfen sich die Dinge a und b unterscheiden, um noch als dieselben Dinge gelten zu können?

Die radikalste und so auch eindeutigste und klarste Antwort besagt: In überhaupt keiner. Dieser radikalen Antwort entspricht der Begriff der numerischen Identität.

Numerisch identisch sind a und b - kurz: a=b - also genau dann, wenn sie in allen Eigenschaften - also absolut - übereinstimmen, wenn also jede Eigenschaft, die das eine Ding hat, auch das andere hat. Dies ist das berühmte, schon von , dem größten abendländischen Logiker aller Zeiten, formulierte Prinzip der identitas indiscernibilium. Zwei Dinge sind demnach identisch, dann und nur dann, wenn sie sich in nichts -aber auch in gar nichts - unterscheiden. Wenn sie also, genau gesagt, in Wirklichkeit gar nicht zwei Dinge sind, sondern nur eines.

Genau genommen ist diese Relation der numerischen Identität also gar keine Relation zwischen zwei verschiedenen Dingen, sondern nur eine zwischen zwei verschiedenen Namen für ein und dasselbe Ding. (Zum Beispiel zwischen den beiden Ausdrücken "der Abendstern" und "der Morgenstern", die sich beide, wie wir heute wissen, auf die Venus beziehen.) Allein dies zeigt schon, dass beim Thema Identität metaphysisch/ontologische Fragen einerseits und sprachphilosophische Fragen anderseits auf das engste miteinander verwoben sind.

1.4 Nun hat aber schon bemerkt, dass die von der numerischen Identität geforderte Übereinstimmung für unseren normalen (und zwar praktischen wie theoretischen) Umgang mit der Welt viel zu stark ist. Unterscheidet sich der Nil von gestern von dem Nil von heute auch nur in einem einzigen Wassertropfen, so wären dem Kriterium der numerischen Identität zufolge beide nicht derselbe Fluss, nicht der eine Nil.

Um diesen Unsinn zu vermeiden, postulierte , dass es neben der numerischen Identität (a=b) auch eine schwächere Art von Identität geben müsse, nämlich eine generische d.h. eine auf das jeweils einschlägige Genus G (wie z.B. "Fluss") bezogene (und insofern nicht mehr absolute, sondern nur noch relative). Formal kurz so geschrieben: a =Gb.

1.5 So vernünftig das aristotelische Postulat einer bloß generischen Identität auch sein mag, was folgt aus ihm genau? Nun, zunächst einmal ein Riesen-Forschungsprogramm, von dem bis auf den heutigen Tag kein Ende abzusehen ist: Denn wirklich hilfreich ist dieses Konzept der generischen Identität ja erst dann, wenn für die verschiedenen Genera deren jeweilige Identitätskriterien schon festliegen bzw. von uns eben festgelegt wurden.

Dass derartige Festlegungen aber selbst für ein so simples Genus wie "Fluss" keineswegs leicht zu treffen sind, das haben wir oben schon bei unserem ersten Blick auf den Nil feststellen müssen. Und nun brauchen Sie nur an solche Genera wie "Mensch", "Person", "Leib" und "Seele" zu denken - und schon sind Sie mitten im Zentrum jener Identitätsdebatten, die die ganze nacharistotelische (und damit nicht nur die abendländische, sondern auch die arabische) Metaphysik bzw. Ontologie bis heute in Atem halten.

1.6 Und auch für diese spezifisch philosophische Debatte gilt: Die Heftigkeit, mit der diese Debatte heute geführt wird, ist wiederum ein höchst signifikantes Indiz dafür, wie tiefreichend die mit dieser Debatte thematisierte Identitäts-Krise tatsächlich ist.

Vielleicht ist es ja für einige von uns daher ein Trost, wenn wir uns daran erinnern, dass die derzeitigen szientistischen Revolutionen in unseren Humanwissenschaften unser anthropologisches Selbstbild bei weitem radikaler erschüttern als alle derzeitigen politisch/kulturellen Identitätskrisen zusammengenommen. Was ist der Mensch? Infolge des radikal-materialistischen Szientismus-Programms steht derzeit das gesamte Spektrum der traditionellen - und so insbesondere auch das aller religiös motivierten - Menschenbilder zur Disposition.

Nur so viel zu den klassischen Identitätsfragen aus der ersten Klasse, wonach Identitäten Relationen sind. Aber obgleich, wie gesagt, die Identitätsfragen dieser Klasse zur Domäne meines Faches, der Philosophie eben, gehören, will ich mich im folgenden mit ihnen nicht weiter beschäftigen. Nicht mehr in diesem Vortrag.

2 Identität als Eigenschaft

Es sind die Fragen aus der zweiten Klasse der Identitätsfragen, die im Kontext dieses Kongresses die relevantesten sein dürften. Die entsprechenden Theorie-Ansätze stammen nicht aus der Philosophie, sondern aus der Entwicklungspsychologie - wurden dann von der Sozialpsychologie aufgegriffen, bis sie von dort aus ihren rasanten Siegeszug durch alle weiteren Kulturwissenschaften angetreten haben. Dies gilt insbesondere für den Begriff der Kollektiven Identität, dem im Folgenden unsere besondere Aufmerksamkeit gelten soll.

2.1 Im heutigen Identitätsdiskurs gibt es für den Ausdruck "Kollektive Identität" so gut wie keinerlei seinen Gebrauch auch nur irgendwie einschränkenden Regeln. Er ist ein Dummy-Begriff für alles Mögliche. Für alles auch nur irgendwie Kollektive.

In den meisten Fällen meinen die, die von einer "Kollektiven Identität" sprechen, damit nichts anderes als irgendeine Kollektive Entität. Statt einfach von Ethnien, Volkern, Staaten, Religionsgruppen etc. zu sprechen - oder eben von den diesen entsprechenden ethnischen, völkischen, staatlichen oder religiösen Entitäten -, sprechen viele stattdessen einfach ohne weiteren Vorbehalt von ethnischen, völkischen, staatlichen oder religiösen Identitäten, meinen damit aber ein und dasselbe. Identität ist dann schlicht synonym mit Entität.

Bei diesem Sprachgebrauch besagt die Frage nach der Identität von Europa oder von Ägypten also genau dasselbe wie die Frage "Was ist Europa?" oder die Frage "Was ist Ägypten?". Letzteres sind durchaus klare, vernünftige und gerade im jetzigen Diskurs höchst wichtige Fragen - und deshalb sollte man sie auch genau so stellen. Diese Fragen in Fragen nach der Identität von Europa bzw. von Ägypten zu transformieren, macht diese Fragen um keinen Deut klarer. Eher im Gegenteil. Natürlich: Die Frage nach der Identität von X, Y, Z klingt einfach viel toller als die Frage nach der Definition von X, Y, Z - aber dieser pragmatische Mehrwert ist mit keinerlei kognitivem Mehrwert verbunden. Kurz: Ein Großteil des derzeitigen Identitätsdiskurses ist nichts weiter als ein intellektueller Bluff.

2.2 Zu keiner geringeren Inflation führt der Gebrauch, wonach sich der Term "Identität" zwar nicht auf die diversen Entitäten bezieht, sondern auf deren diverse Eigenschaften. Jeder von uns - oder generell alles und jedes - hat, so heißt der entsprechende Slogan, sehr viele verschiedene Identitäten. (Ich zitiere aus einem der besten Bücher zu unserem Thema, aus dem 2006 erschienenen Buch Identity and Violence des indischen Philosophen und Ökonomen (xii f.), einem Buch übrigens, das sich vehement gegen das so einflussreiche wie verderbliche Konzept vom Krieg der Kulturen wendet.):

The same person can be, without any contradiction, an American citizen, of Caribbean origin, with African ancestry, a Christian, a liberal, a woman, a vegetarian, a long- distance runner, a historian, a schoolteacher, a novelist, a feminist, a heterosexual, a believer in gay and lesbian rights, a theater lover, an environmental activist, a tennis fan, a jazz musician, and someone who is deeply committed to the view that there are intelligent beings in outer space with whom it is extremely urgent to talk (preferably in English).

Man hat, so die hier vertretene These mit anderen Worten, genau so viele Identitäten, wie man verschiedene Eigenschaften hat. Dass ich die Identität E habe, heißt nichts weiter, als dass ich die Eigenschaft E habe. Dass ein Individuum X - unter anderem auch - die Identität E hat, heißt demnach schlicht: E(X). Einfacher geht es nicht.

Amartya Sen (2007). Bild: Elke Wetzig. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Und für den speziellen Fall der Kollektiven Identität heißt das: Dass ich die kollektive Identität K habe, heißt, dass ich Mitglied von K bin. Wieder allgemeiner: Dass X - u.a. auch - die kollektive Identität K hat, bedeutet schlicht und einfach: X ε K.

2.3 Die (Kollektive) Identität von X könnte man auf dieser Basis dann einfach als die Summe der verschiedenen Identitäten (Eigenschaften) von X bestimmen:

ID(X) := ΣE: E(X)

KID(X) := ΣK: X ε K

(NB: Dieser Ansatz ist genau analog zu der oben erwähnten klassischen Vorstellung von numerischer Identität, wonach x=y := Für alle E: E(x) gdw. E(y).)

2.4 So verstanden wäre die Rede von individuellen (wie kollektiven) Identitäten aber absolut trivial - und das allein erklärt schon die leichte Erlernbarkeit und die inflationäre Verwendung dieser Redeweise.

Bei genauerer Betrachtung ist der Slogan von den verschiedenen Identitäten von allem und jedem freilich nicht wörtlich zu nehmen. Die Identitäten von X im Sinne von bloßen Eigenschaften (bzw. Gruppenzugehörigkeiten) von X werden nämlich nur als mögliche X-Identitäten angesehen, von denen die tatsächlichen eine echte Teilmenge bilden. Mit anderen Worten: Nicht alle Eigenschaften von X sind für dessen Identität relevant. Entsprechend: Nicht alle Gruppenzugehörigkeiten von X sind für dessen Kollektive Identität relevant.

2.5 Nun: Relevanz ist stets Relevanz für jemanden. Die Frage ist also: Von wem hängt es ab, welche meiner Eigenschaften - welche meiner Kollektiv-Zugehörigkeiten - für meine Identität bzw. meine kollektive Identität die relevanten sein sollen?

  • Von mir selbst? (Selbst-bestimmte Identität)
  • Oder von anderen? (Fremd-bestimmte Identität)
  • Oder von mir selbst und zugleich von anderen? (Gemeinsam definierte Identität)

2.6 Im so genannten Westen hat sich, so glaubt man dort wenigstens, inzwischen das Konzept der selbst-bestimmten Identitäten voll und ganz durchgesetzt. Was zu meiner Identität gehört und was nicht, das hängt dieser Ansicht zufolge von mir selbst ab - und nur von mir selbst.

Aber ist dem wirklich zwangsläufig so? Sind nicht mögliche Welten denkbar, in denen, wer und was jemand ist, gerade nicht von diesem selbst abhängt - zumindest nicht nur von ihm? War nicht Gott einmal eine Instanz, die nicht nur allen Lebewesen ihren Namen, sondern (mit diesen Namen) auch deren Identitäten verliehen hat? Gab und gibt es nicht Gegenden, in denen, was man ist, von ‚den anderen’, von der sozialen Umgebung nicht nur mitbestimmt, sondern so gut wie unabänderlich festgelegt wurde und wird?

2.7 Eine wirklich aufgeklärte Identitäts-Theorie hätte auch solche Fragen zu diskutieren. Und viele weitere - wie zum Beispiel: Welche Eigenschafts-Klassifikationsschemata liegen der Auswahl der Identitäts-relevanten Eigenschaften bzw. Gruppenzugehörigkeiten jeweils zu Grunde? Sind solche Schemata wirklich universell? Sind sie selbst einem zeitlichen Wandel unterworfen? Sind verschiedene Schemata generell kompatibel?

Allein diesen Fundamentalfragen nachzugehen, wäre ein eigenes riesiges Forschungsprojekt wert. Generationen von jungen Wissenschaftlern fänden damit ihr Brot.

2.8 Klare Formulierungen findet man im Identitätsdiskurs höchst selten. Eine der seltenen Ausnahmen ist der von mir oben schon zitierte . Sein Vorschlag für eine erste Formulierung in Richtung Selbst-bestimmter Kollektiver Identität ist dieser:

We do belong to many different groups, in one way or another, and each of these collectivities can give a person a potentially important identity. We may have to decide whether a particular group to which we belong is - or is not - important for us.

A. Sen, a.a.O., 24.

Mit anderen Worten: Zu meiner kollektiven Identität gehören nicht alle Gruppen, zu denen ich tatsächlich gehöre, sondern die (und nur die), zu denen zu gehören für mich - und zwar aufgrund eigener Entscheidung - wichtig ist.

2.9 Die entsprechende Verallgemeinerung wäre: Zu meiner individuellen Identität gehören nicht alle Eigenschaften, die ich habe, sondern die (und nur die) Eigenschaften, die zu haben für mich - und zwar aufgrund eigener Entscheidung - wichtig ist.

Eine Identität, die nicht wiederum trivial wäre, setzt also voraus, dass nicht alle meine Eigenschaften für mich gleich wichtig (bzw. unwichtig) sind, gewisse meiner Eigenschaften für mich demnach wichtiger sind als andere. Das deckt sich mit unserer gängigen Vorstellung, wonach Wesen, die der Welt und auch sich selbst gegenüber völlig indifferent wären, auch völlig identitätslose Wesen wären.

2.10 Angenommen, wir könnten die Klasse der Eigenschaften bzw. der Gruppenzugehörigkeiten der Person X vollständig in die beiden Teilklassen der für sie selber wichtigeren und der für sie selbst nicht so wichtigen zerlegen, dann ließe sich Vorschlag, wenn wir die jeweils erstere (wichtigere) Klasse mit einem Sternchen * markieren, grob so präzisieren:

ID(X,E) := E(X) & (E ε [E*]X)

Die Eigenschaft E gehört zur Identität von X gdw. X diese Eigenschaft E hat und E eine der für X wichtigeren Eigenschaften ist.

Und so wieder als Spezialfall:

KID(X,K) := (X ε K) & (K ε [K*]X)

Das Kollektiv K ist Teil der Kollektiven Identität von X gdw. X zu K gehört und die Zugehörigkeit zu K für X wichtig ist.

Wobei sich dann analog zu soeben die Identität bzw. die Kollektive Identität von X als die Summe dieser für X wichtigen Eigenschaften bzw. Gruppenzugehörigkeiten definieren ließe.

2.11 Nun, wichtig für - das kann, auf mich bezogen, zweierlei Leserarten haben. Eine objektive i.S. von für mich wichtig vs. eine subjektive i.S. von mir selbst wichtig. Etwas kann für mich wichtig sein, ohne dass es mir selbst wichtig ist. (Mag sein, dass für mich - bzw. mein Wohlergehen - eine bestimmte Therapie wichtig wäre, ich von dieser aber entweder gar nichts weiß oder mir selber mein eigenes Wohlergehen gar nicht so wichtig ist.) Und umgekehrt: Mir selbst kann etwas wichtig sein, ohne dass es wirklich für mich wichtig ist.

2.12 In welchem Sinne von wichtig ist die Identitätsdefinition zu verstehen? Formulierungen scheinen die subjektive Lesart zumindest nahe zu legen. (Vgl. nochmal das Zitat von soeben; Unterstreichung von mir.) Heißt es bei ihm doch:

whether a particular group to which we belong is - or is not - important for us.

Man beachte, dass wir dieser Formulierung nach nicht über die Zugehörigkeit zu einer Gruppe entscheiden, sondern nur darüber, ob uns diese Zugehörigkeit wichtig ist oder nicht. Diese subjektive Identitätsdefinition ist demnach mit objektiver Gruppen-Zugehörigkeit völlig verträglich.

2.13 Natürlich können uns auch Gruppen wichtig sein, zu denen wir nicht selbst gehören. Diese Wichtigkeit ist dann zwar kein Bestandteil unserer Kollektiven Identität - aber doch ein Teil unserer nicht-kollektiven individuellen Identität, unserer, wie man dafür dann auch sagen könnte, bloß individuellen Identität..

2.14 Wir müssen uns an dieser Stelle zwischen diesen verschiedenen (subjektiven vs. objektiven vs. beide zusammenführenden) Identitäts-Deutungsalternativen nicht entscheiden. Vielleicht wären durch diese Entscheidung ohnehin schon eher inhaltliche Fragen tangiert. Wäre es nicht vielleicht, was das Wohlergehen der Person X angeht, wünschenswert, wenn, was für diese wichtig ist, auch ihr selbst wichtig ist? Oder ist sie gar jemand, der es wichtig ist, dass sie sich gerade nicht nach dem richtet, was für sie, wie sie selbst weiß, objektiv wichtig wäre? Usw. und so fort.

Überlegungen dieser Art wären also anzustellen, wenn man tatsächlich an dem systematischen Aufbau einer Theorie der individuellen und der kollektiven Identität interessiert wäre. Dabei ist zu beachten, dass dem hier bisher zugrunde gelegten Ansatz von für meine kollektiven Identitäten das gleiche gilt wie für meine bloß individuellen: Sie sind Identitäten von mir. Wie es bei meinen individuellen Identitäten ausschließlich darum geht, welche meiner Eigenschaften mir selbst wichtig sind, geht es auch bei meinen kollektiven Identitäten ausschließlich darum, welche meiner diversen Gruppenzugehörigkeiten mir selbst wichtig sind.

2.15 Mit anderen Worten: Nach dem Ansatz von sind auch kollektive Identitäten letztlich Eigenschaften von Individuen, nicht von Kollektiven. Eine Kollektive Identität als die Identität eines Kollektivs ist in diesem strikt individualistischen Konzept gar nicht vorgesehen. Kollektive als Träger einer eigenen Identität kommen in diesem Konzept an keiner Stelle vor.

Und wie so oft, so scheint auch hier zu gelten: Von den Anhängern dieser Theorie ist dieser riesige blinde Fleck offensichtlich nicht einmal bemerkt worden. Ein ziemlich krasses Beispiel dafür, dass uns auch die schönsten Theorien mitunter gegenüber der Realität blind machen können. Und ich habe den schrecklichen Verdacht, dass das manchmal auch der ganze Sinn und Zweck einer Theorie ist.

In so einem Fall hilft nur eines: Alle Theorie zunächst einmal beiseite zu lassen - und sich noch einmal in Ruhe selber zu fragen, auf Fragen welcher Art unsere jeweiligen Theorien denn überhaupt eine Antwort sein sollen. Zum Schluss also:

3 Zurück zu den echten Fragen

3.1 Hinter dem ganzen Gerede von individueller und kollektiver Identität stehen zwei im Grunde sehr einfache Fragen: Die Frage "Wer bin ich?" und die Frage "Wer sind wir?". Beides sind letztlich so genannte interne Fragen: Wir stellen uns diese Fragen selbst (sozusagen: in foro interno) - im ersten Fall als Individuum, im zweiten Fall als Kollektiv.

Zwischen solchen internen Fragen und deren externen Entsprechungen (Wer bist Du? versus Wer seid Ihr?) gibt es eine Reihe von Differenzen. Die wichtigste Differenz ist diese: Interne Fragen sind keine reinen Faktenfragen. Selbst wenn die entsprechenden externen Fragen beantwortet wären (etwa mit "Ich bin Georg Meggle" oder mit "Wir sind die Teilnehmer des 3. Internationalen Kongresses der Germanistik-Abteilung der Cairo University"), selbst dann wären die internen Fragen immer noch offen. Diese gehen tiefer. Die Frage "Wer bin ich?" ist die Frage "Wer bin ich wirklich?"; und hinter der Frage "Wer sind wir?" steckt entsprechend die Frage "Wer sind wir wirklich?". Und genau dieses nachdrückliche "… wirklich?" drückt den Zweifel an der Wirklichkeit aus, deren Anrufung für eine auf reine Fakten rekurrierende Antwort auf die externen Fragen ausreichen würde. Interne Fragen verlangen mehr als nur einen Rekurs auf Fakten (egal ob auf solche der Gegenwart oder auf solche der wirklichen oder auch nur rekonstruierten bzw. gar konstruierten Vergangenheit), sie verlangen nach einer Stellungnahme, ja, letztlich nach so etwas wie nach einer Entscheidung - und zwar nach einer grundsätzlichen.

Bei internen Fragen geht es also wirklich um uns - im individuellen Fall um mich; im kollektiven Fall um uns. Genauer: Es geht mir selbst um mich selbst und im zweiten Fall uns selbst um uns selbst. Die oben rekonstruierten ersten identitätstheoretischen Schritte von u.a. haben das durchaus erkannt. Aber eben nicht radikal genug. Es geht bei unseren (individuell- wie kollektiv-) internen Fragen nicht nur darum, ob uns das oder das wichtiger ist als dies oder jenes; sondern ob das, was uns jetzt gerade wichtig ist, uns selbst wie auch für uns selbst - also subjektiv wie objektiv - wirklich so wichtig ist, wie es uns derzeit erscheint. Wir stellen uns mit diesen Fragen sozusagen selbst auf den Prüfstand, testen uns - bzw. unsere bisherige Identität - erneut selbst. Wollen wir wirklich so sein, wie wir sind? Ist das, was wir wollen, wirklich so wichtig, wie es uns derzeit erscheint?

Wer sind wir wirklich? Dahinter steckt letztlich die Frage: Wer wollen wir wirklich sein?

Das ist, wie schon eingangs gesagt, die große Frage, die auch im Hintergrund dieses Kongresses steht. Und diese Frage ist, so würde ich die Hauptthese dieses Eröffnungsvortrags nunmehr selbst zusammenfassen wollen, diese Frage ist weniger eine identitäts-theoretische, vielmehr eine uns die kommenden Tage und Zeiten hoffentlich nie mehr verlassende politisch/kulturell/ ethisch praktische.

Unsere Eingangsfragen also nochmals entsprechend radikaler formuliert: Welche Relevanz wollen wir der ägyptischen Revolution geben? Wir als Weltbürger, als Ägypter wie als Nicht-Ägypter? Als Menschen und Wissenschaftler, die wir, wie wir in Sonntagsreden ja oft selber sagen, einem besonderen Wissenschafts-Ethos zu folgen uns moralisch verpflichtet sehen?

Von den sich so ergebenden konkreten Fragen brennt mir auf meinen eigenen Nägeln hier am stärksten die folgende: Welche Rolle sollten die so genannten akademischen Intellektuellen im jetzigen Transformationsprozess spielen? Also auch wir? Welche Relevanz sollte in diesem Prozess den von uns verbal doch so hochgeschätzten akademischen Institutionen zukommen, zuvörderst also den Universitäten?

Wenn Sie zum Schluss noch meine eigene Antwort dazu hören möchten - hier ist sie: An unseren Universitäten darf - weltweit, und so auch in Deutschland wie in Ägypten, und so auch z.B. an einer Deutschen Universität in Kairo - nie und nimmer genau das verboten sein, was wir an den Geschehnissen auf dem Midan Tahrir weltweit doch so sehr gerühmt hatten: Der Mut zur Freiheit - und so auch der Mut zur freien Rede.

Der Philosoph Georg Meggle lehrt zur Zeit Philosophie an der Al Azhar Universität, Kairo.