Kontroversen über das Phänomen "Spaziergänge"

Spiel, Trickserei, Wildwuchs oder "Selbstverharmlosung"? Es ist die Verteufelung der Corona-Proteste, die es vermutlich für manche interessant macht, sich an den "Spaziergängen" zu beteiligen

Was derzeit auf den Straßen und Plätzen in deutschen Städten passiert, ist eine interessante Entwicklung. Die Auflagen zur Versammlungsfreiheit während der Corona-Pandemie haben normale Demonstrationen und Proteste verhindert oder unter hohen Auflagen gestellt.

Die Versammlungsfreiheit setzt die körperliche Anwesenheit an einem Ort von mindestens drei Menschen in der Regel – in Bayern schon von nur zwei Personen – voraus. Um als Versammlung zu gelten, müssen die Personen einen gemeinsamen Zweck verfolgen.

Versammlungen und Ansammlungen

Ohne diese "innere Verbindung" durch einen gemeinsamen Zweck, der näher betrachtet eine Meinungsäußerung in Bezug auf eine öffentliche Angelegenheit sein muss, wäre die Anwesenheit von Personen an einem Ort eine Ansammlung.

Man sieht, das alles ist nicht einfach, vor allem wenn eine Versammlung nicht angemeldet wird. Spontanversammlungen sind aber keine wilden, ungesetzlichen Versammlungen, sondern erst einmal ganz legal. Sie können nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 69, 315) auch nicht präventiv verboten werden, wenn einzelne Gewaltanwendungen zu erwarten sind.

Einem "Wildwuchs" vorbeugen

In München ist die Stadt weit gegangen und hat per Allgemeinverfügung "zur präventiven Gefahrenabwehr im gesamten Stadtgebiet alle stationären oder sich fortbewegenden Demos im Zusammenhang mit sogenannten 'Corona-Spaziergängen', wenn die Anzeige- und Mitteilungspflicht gemäß Bayerischem Versammlungsgesetz nicht eingehalten ist", untersagt.

Damit wolle man "einem Wildwuchs an in keiner Weise vertretbaren Demos mit zum Teil gewaltbereiten Teilnehmenden vorbeugen, bei denen weder Mindestabstände eingehalten noch Mund-Nasen-Bedeckungen getragen werden".

Wer sich also in Corona-Zeiten versammeln will, muss dies auf der Straße machen, weil Versammlungen in Räumen bessere Bedingungen für das Virus bieten und strenger reguliert sind, auch wenn sie eigentlich nicht anmeldungspflichtig sind. Und obwohl an der "frischen" Luft das Ansteckungsrisiko geringer ist, müssen Proteste gegen Corona-Maßnahmen in Form von Versammlungen dennoch unter Maskenzwang – was ist eigentlich mit dem Vermummungsverbot? – und Abstandsregel mit begrenzter Teilnehmerzahl abgehalten werden.

Um den vielen oft willkürlichen Auflagen zu entkommen, verzichten die Kritiker der Corona-Maßnahmen und des Impfzwangs auf angemeldete stationäre oder bewegte Versammlungen, die von Organisatoren verantwortet werden, und rufen zu "Spaziergängen" im öffentlichen Raum auf.

Die haben oft den Charakter von Demonstrationszügen, lösen sich aber auch mehr und mehr auf in kleinere Gruppen oder Schwärme, die im Stadtraum umherschweifen oder flanieren, manchmal Parolen rufend oder Spruchbänder mit sich führend, oft auch nur stumm oder im Gespräch miteinander.

Im Stadtraum ist schwer auszumachen, wer normaler Passant ist, was eine gewöhnliche Ansammlung bildet und wer einer zentrierten oder verstreuten Versammlung mit einem gemeinsamen Zweck angehört.

Solche Schwärme von Spaziergängern sind von der Polizei schwer zu kontrollieren, zumal es auch keinen Veranstalter gibt. Es kommt, was München "Wildwuchs" nennt. Wenn keine Gewalt ausgeübt wird oder dies nur von wenigen geschieht, ist es praktisch, aber auch rechtlich schwierig, solche Nicht-Veranstaltungen aufzulösen oder zu verhindern.

In einem anderen Land

Als beispielsweise in Russland die mittlerweile verbotene Nawalny-Organisation zu seiner Rückkehr aus Deutschland und nach seiner Verhaftung zu spontanen Versammlungen und Spaziergängen aufrief, die auch angeblich wegen Corona verboten wurden, fanden das viele mutig, kritisierten aber das harte Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Oppositionellen und Freiheitskämpfer, von denen Einzelne auch Gewalt anwendeten.

Was woanders der gute Zweck oder die gute Politik heiligt, kann im eigenen Land aber des Teufels sein, wo dann der Einsatz von Pfefferspray, Schlagstöcken oder Wasserwerfern gerechtfertigt wird.

"Verdeckte Versammlungen" - Wogegen wird protestiert?

Es ist die Verteufelung der Corona-Proteste, die es vermutlich für manche interessant macht, sich an diesen zu beteiligen. Der Zustrom wird im ganzen Land offenbar höher, es wird auch kaum diskutiert, wogegen sich die Proteste richten. Als Beispiel fordert "München steht auf":

Keinen direkten oder indirekten Impfzwang. Für Krankenschwestern und -pfleger eine hohe Berufsrückkehrpauschale, sowie Verdopplung der Gehälter. Sofortiger Stopp des Bettenabbaus in den Krankenhäusern und Aufstockung auf den Stand vor der Pandemie.

München steht auf

Abgesehen von der ersten Forderung, über die sich streiten lässt, da es sich nicht um eine pauschale Impfgegnerschaft handelt, sind die beiden anderen Forderungen ganz vernünftig. Da wäre es vermutlich besser, nicht repressiv vorzugehen und Freiheitsrechte immer weiter zu beschneiden, sondern beispielsweise öffentliche Diskussionen mit der Teilnahme führender Personen der Protestbewegung zu veranstalten.

Natürlich sind die "Spaziergänge" verdeckte Versammlungen, die dem Protest dienen. Ob diese tatsächlich, wenn unter freiem Himmel Abstände nicht eingehalten und Masken nicht getragen werden, eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit durch erhöhtes Infektionsrisiko darstellen, scheint mir diskutabel zu sein.

Problematischer ist schon die Unterstellung, es seien dennoch geplante Versammlungen. Dazu müssten eigentlich nicht nur die die Aufrufer identifiziert werden, sondern auch den Spaziergangsteilnehmern nachgewiesen werden, dass sie aufgrund von diesem oder jenem Aufruf gekommen sind.

Wenn Markus Thiel von der Polizeihochschule Münster in der SZ vom 5./6. Januar unter dem Titel "Warum sind 'Spaziergänge' verboten?" erläutert, dass auch Tausende Besucher eines Rockkonzerts keine Versammlung seien, wenn es keine "politische Aussagen" gibt, dann dürfte dort auch kein Song politische Inhalte haben.

Und er sagt, dass Versammlungen nicht aufgelöst werden dürfen, wenn sie ohne Anmeldung stattfinden, es sei denn, sie würden eine "konkrete Gefahr für die öffentliche Ordnung" darstellen. Das sei unter Omikron-Bedingungen die erhöhte Infektionsgefahr. Konsequenterweise müssten dann auch Ansammlungen, Schlangenbildungen und normale Spaziergängermassen etwa in Fußgängerzonen aufgelöst werden.

Kulturell aufgemacht Vorbehalte

Verstärkt werden die Behördenmaßnahmen durch kulturell aufgemacht Vorbehalte, die den Begriff Spaziergang nur für bestimmte Tätigkeiten reserviert sehen wollen. Wer ihn für Proteste verwendet, der benutze – wie findig – eine "Begriffsmaske", wie Lothar Müller in der SZ unter dem Titel "Das geht zu weit" schreibt. Er legt fest: "Spaziergänger sind Privatleute, auch wenn sie sich im öffentlichen Raum bewegen." Der Begriff sei reserviert für "Muße, Vergnügen, Erholung", auch für eine "Wiederaneignung des urbanen Raums".

Da mag man im Gegensatz zu Müller ans Flanieren oder auch ans situationistische Umherschweifen in kleinen Gruppen denken, aber auch an die politische Forderung "Reclaim the Streets". Aber er engt den Spaziergang auf das Nicht-Intentionale – was gesundheitliche Gründe der Bewegung ausschließen würde – und auf "Utopien ästhetischer Wahrnehmung" oder auch auf die "Figur des einsamen Spaziergängers" ein.

Die "bürgerliche Aura" mitsamt des unpolitischen Bürgers würde den Spaziergang als harmlose Tätigkeit und als "Ersatz- und Vermeidungsbegriff für Demonstration" attraktiv machen. Und diese Harmlosigkeit einer angeblich politikfernen Veranstaltung wird mit der Haltung der politischen Korrektheit gegenüber den bösen Begriffsentführern, die "Selbstverharmlosung" betreiben, um den Staat moralisch blamieren zu wollen, verteidigt, der Spaziergänger habe eben nichts mit dem Versammlungsrecht zu tun.

Allerdings wurde der Spaziergang unter den Lockdowns zu einer Aktivität, dem Einschluss zu entgehen und Öffentlichkeit, auch eine gewisse Geselligkeit zu beanspruchen. Gegenüber den Ausgangsverboten wurde der Spaziergang zur "Figur der Freiheit", wie Müller sagt, politische Aspekte waren also inbegriffen, Spaziergang und Ausnahmezustand waren also nicht Antipoden, wie Müller suggeriert, sondern bedingten einander.

Der Verteidiger der unpolitischen bürgerlichen Kultur und Retter des unschuldigen Spaziergangs, der zwecklos wie die bürgerliche Kunst sein soll, kommt letztlich zu sich, indem er die staatliche Autorität gegenüber den sprachmagischen Manipulatoren verteidigt, die eine Begriffsmaske als Desinformation verwenden, wo es doch längst "normale Demonstranten" seien, "die sich an das bürgerliche Gesetzbuch zu halten haben, statt darauf zu vertrauen, wer sich in Kultur hülle, sei unbelangbar".

Das darf für den Verteidiger der bürgerlichen unpolitischen Kultur nicht sein, für die bürgerlicher Alltag nichts mit Politik zu tun hat. Man sollte meinen, darüber sei man seit den 1968ern hinweg. Aber es war doch seinerzeit so schön, wo alles seine – auch begriffliche – Ordnung hatte.

Unversöhnliche Gegensätze auf beiden Seiten

Protest, Kritik, Ablehnung, das große Nein und auch Ungehorsam, Lebenselixier von Demokratien, mussten sich daher unter den eingeschränkten Bedingungen, die staatlich mit der Hilfe der Polizei durchgesetzt werden, neu organisieren. Vorbilder gab es genug für wilde Proteste, zu denen zwar aufgerufen wird, die aber von niemandem verantwortlich angemeldet und organisiert werden müssen.

In Russland und vor allem auch in Belarus letztes Jahr haben Oppositionelle immer wieder zu unangemeldeten oder auch verbotenen Versammlungen und Demonstrationen aufgerufen, was hierzulande gerne als legitimer Protest unter den Bedingungen autoritärer Regierungen gefeiert wurde, während ähnliche Bewegungen im Westen meist als rechte Veranstaltungen verurteilt werden. Das war bei den politisch bunten Gelbwesten ganz ähnlich, die ihre Proteste ohne eine Organisation anarchisch realisierten.

Dazu wurden, wie mittlerweile üblich, unversöhnliche Gegensätze "Wir gegen sie" auf beiden Seiten aufgezogen. Die "Covidioten" auf der einen Seite, sind die "Schafe" auf der anderen Seite, die sich in eine Diktatur oder in riskante Praktiken führen lassen.

Auf der einen Seite die Mehrheitsgesellschaft mit den Mainstreammedien, der Mehrzahl der Wissenschaftler und der Mehrheit der politischen Macht, die Corona-Schutzmaßnahmen mitsamt Impfung verteidigen und keine langfristige Gefahr für die Demokratie sehen, und der Minderheit der dagegen Protestierenden, die aus unterschiedlichen, mitunter bizarren Gründen gegen die Maßnahmen und eine Impfung sind und oft Machenschaften von Eliten vermuten.

Dagegen treten diejenigen auf, die überall verschwörungstheoretisch Desinformations- und Beeinflussungskampagnen sehen, wenn Menschen sich nicht politisch korrekt verhalten.

Man kann schon ahnen, dass nach 9/11, wodurch Verschwörungstheorien Konjunktur hatten, weil tatsächlich viele offene Fragen nicht beantwortet wurden und ein globaler Krieg gegen den Terror begann, die als Folge von 9/11 entstandene Flüchtlingskrise für die Rechten zu einer Strategie des "Großen Austausches" wurde.

Mit der Pandemie kam dann die paranoische Idee einer geplanten globalen Transformation auf, weil vom Weltwirtschaftsforum die Losung eines "Great Reset" propagiert wurde, um die Weltwirtschaft sozialer und nachhaltiger nach der Pandemie zu machen, ohne die Herrschaftsverhältnisse zu verändern.