Kräftemessen zwischen sozialen Bewegungen und Polizei in Mexiko

Ein Toter und knapp 300 Verhaftete bei Polizeiüberfall. EZLN-Sprecher Subcomandante Marcos unterbricht Rundreise

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Straßenblockaden, Kundgebungen, Proteste überall: Zwei Monate vor den Präsidentschaftswahlen ist das soziale Gefüge in Mexiko ins Brodeln geraten. Straßenkämpfe und Misshandlungsszenen haben den Wahlkampf aus den Schlagzeilen verdrängt. Verschiedene Guerillabewegungen haben ihre Mitglieder in Alarmbereitschaft versetzt, während die indigenen Organisationen des Landes auf einem Kongress weitere Schritte beraten. Auch international sehen sich die mexikanischen Botschaften einer Serie von Protestaktionen ausgesetzt. Anlass ist eine massive Repressionswelle der Polizei gegen die Gemeinde Atenco, unweit von Mexiko-Stadt.

Eigentlich sollte es nur ein kurzer Zwischenstopp in der Hauptstadt werden - strategisch angesetzt für den ersten Mai. Doch nun will Subcomandante Marcos, der Sprecher der Zapatisten-Guerilla aus dem südmexikanischen Chiapas, seine Rundreise bis auf weiteres unterbrechen, die ihn im Rahmen der "Anderen Kampagne" seit Anfang Januar durch ganz Mexiko führt (Zapatisten legen Aktionsplan vor).

Subcomandante Marcos zeigt der Presse eine Patronenhülse. Foto: Indymedia.ch

Ein zunächst lokaler Konflikt zwischen Blumenverkäufer und der Polizei am 4. Mai in Texcoco nahe Mexiko-Stadt hat in den letzten Tagen eine Kettenreaktion ausgelöst. Die Blumenverkäufer, die ihre Ware am Straßenrand feilbieten, hatten im Nachbarstädtchen Atenco um Hilfe geben, als die Polizei sie von ihren Standorten vertreiben wollte. Die Vertreibung von vendedores ambulantes, informellen Straßenhändlern, sorgt in vielen Städten Lateinamerikas immer wieder für Konflikte, da diese keine andere Möglichkeit sehen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, sie nach offiziellem Befinden jedoch das Stadtbild stören.

Bei der Nachbargemeinde Atenco handelt es sich um einen Ort, der seit dem Jahr 2001 dafür berühmt ist, den Bau eines internationalen Flughafens auf seinen Ländereien militant verhindert zu haben. Die Organisation Frente de los Pueblos por la Defensa de la Tierra (FPDT), die damals die Proteste anführte, eilte auch diesmal den bedrohten Blumenhändlern zu Hilfe und vertrieb die Polizei schließlich in einer massiven Straßenschlacht mit Steinen, Stöcken und Molotowcocktails. Insgesamt 15 Ordnungshüter verschiedener Einheiten wurden im Verlauf der Auseinandersetzungen als Geiseln genommen.

Unterdessen bezeichnete Subcomandante Marcos, der Sprecher der südmexikanischen Zapatisten-Guerilla EZLN, der im Rahmen seiner Rundreise wenige Tage zuvor in Atenco eine Kundgebung abgehalten hatte, diese Unterstützung der FPDT für die Blumenhändler als einen Akt der Solidarität im Geist der Anderen Kampagne. Von Anfang an galt das gegenseitige füreinander Einstehen im Falle staatlicher Repression als Grundprinzip des landesweiten Netzwerks von Widerstandsgruppen und Basisorganisationen, das Subcomandante Marcos seit Anfang Januar Bundesstaat für Bundesstaat knüpfen hilft. Marcos rief dementsprechend für den nächsten Morgen dazu auf, die Menschen von Atenco und Texcoco mit Aktionen zivilen Ungehorsams im ganzen Land zu unterstützen.

Doch kamen die mexikanischen Ordnungskräfte diesen Protestaktionen zuvor: Ab 4 Uhr früh rückten 3.000 schwerbewaffnete Polizisten aus Landes- und Bundeseinheiten gegen Atenco vor, stürmten wahllos Häuser, zerstörten Mobiliar und nahmen unter Anwendung äußerster Brutalität und Einsatz von Schusswaffen knapp 300 Leute fest, darunter Alte, Frauen und Kinder. Ein 14jähriger Jugendlicher wurde bei dem Einsatz erschossen, Dutzende Personen wurden verletzt, davon mindestens zwei weitere durch Schusswaffen. 189 wurden des "organisierten Verbrechens" angeklagt

Beobachter: Racheakt der Regierung Fox

Während Präsident Vicente Fox vor die Kameras trat, zufrieden, die Ordnung wiederhergestellt zu haben, und betonte, "niemand steht in einem Rechtsstaat über dem Gesetz", wurden die Verhafteten im Polizeigewahrsam weiter schwer misshandelt. Menschenrechtsorganisationen haben inzwischen Gruppenvergewaltigungen verhafteter Frauen durch die Ordnungskräfte dokumentiert. Der Chef der mexikanischen Bundespolizei, Eduardo Medina Mora, sprach von "einigen unvermeidbaren Exzessen in der Hitze des Gefechts."

Beobachter vermuten dagegen einen Racheakt der Regierung gegen die Bevölkerung von Atenco, nach der Niederlage der Behörden im Flughafenstreit vor fünf Jahren. Der Schriftsteller und Intellektuelle Carlos Monsiváis sagte am vergangenen Wochenende:

Es erscheint mir völlig unangemessen, Häuser zu stürmen, um Leute zu verprügeln. Alle Fotos in den Zeitungen zeugen von einem Racheakt. Eine Regierung darf sich an niemandem rächen, ihre Aufgabe ist es, Gerechtigkeit herzustellen, nicht Repressalien auszuteilen. (...) Der Rechtsstaat lebt zum großen Teil von der Entschlossenheit der Leute, nicht zu dulden, dass derartige Rechtsverletzungen begangen werden.

Die Guerilla EZLN versetzte daraufhin ihre bewaffneten Einheiten im Bundesstaat Chiapas in Alarmbereitschaft, und mehrere international weniger bekannte Guerillagruppen aus ganz Mexiko zogen nach: Die Ejército Revolucionario del Pueblo Insurgente (ERPI), sowie das Comando Revolucionario del Trabajo México Bárbaro, Comando Jaramillista Morelense 23 de Mayo, el Comando Popular Revolucionario la Patria es Primero und schließlich Tendencia Democrática Revolucionaria-Ejército del Pueblo.

Am vergangenen Samstag führte Subcomandante Marcos eine Demonstration von etwa 8.000 Menschen nach Atenco an. Er kündigte an, bis auf weiteres in der Nähe der Hauptstadt zu verweilen, um weitere Widerstandsaktionen zu unterstützen, und betonte, der Angriff auf Atenco sei ein Angriff auf alle Gruppen, die bei der "Anderen Kampagne" mitmachen, da die FPDT Teil des Bündnisses gewesen sei, dem bis Februar 2006 allein in Mexiko weit über 1.000 Gruppen und Organisationen beigetreten waren. Auch international gibt es viele UnterzeichnerInnen, die sich über eine spezielle Website koordinieren.

Feuerprobe für die Andere Kampagne

Diese Übereinstimmung macht die jüngsten Ereignisse von Atenco zur ersten wirklichen Feuerprobe für die "Andere Kampagne" insgesamt - die sich vorgenommen hat, zeitgleich zum Wahlkampf der offiziellen Parteien ein "anderes Mexiko von unten" aufzubauen. Dabei hat der Delegierte Null, wie Marcos sich seit Januar nennt, nicht an starken Worten gespart:

Das andere Mexiko hat schon die Entscheidung getroffen, sich zu erheben, um die schlechten Regierung zu besiegen und die Mächtigen abzuschütteln, die unser Land in den Ruin getrieben haben", sagte er beispielsweise am 6. April in der Universität von Michoacán. Bezüglich eines Staudammprojekts, das im Bundesstaat Guerrero auf den entschlossenen Widerstand der ortsansässigen Bauern stößt, warnte der Guerillasprecher am 17. April, dieser könne "nur um den Preis eines Kriegs im Südosten des Landes gebaut werden.

Bisher hatte der "Delegierte Null" sich auf seiner Rundreise vor allem darauf konzentriert, Gruppen, die jeweils ähnliche Konflikte mit dem Staat oder dem in Mexiko vorherrschenden Entwicklungsmodell haben, zusammenzubringen. Wo Marcos Halt machte, war nicht Sprechen, sondern Zuhören seine Hauptaufgabe: den Geschichten von Indígenas und Kleinbauern über die Anmaßung der Großgrundbesitzer, von SexarbeiterInnen darüber, wie sie verfolgt und diskriminiert werden, von subkulturellen Jugendlichen, die es leid sind, kriminalisiert zu werden, von Öko-Aktivisten über die Zerstörung der Naturressourcen, von Maquila-Arbeitern über ihre miserablen Arbeitsbedingungen.

Obwohl die Rundreise von Marcos genau in der heißen Wahlkampfphase stattfindet und planmäßig kurz vor dem Urnengang am 2. Juli in der Hauptstadt enden sollte, hat sie sich bisher auch aus der Nähe betrachtet nicht als verkappter Wahlkampf entpuppt. Im Gegenteil: Die "Andere Kampagne" konkurriert mit den Präsidentschaftskandidaten der großen Parteien weder um Zuhörerzahlen auf den plazas noch um Medienpräsenz - sie untergräbt den Wahlkampf eher: Sie spricht dem Wahlspektakel als solchem und dem Handeln der Herrschenden die Definitionsmacht über das Schicksal der mexikanischen Gesellschaft ab. Sie will "unten links" ansetzen und die Mexikaner davon überzeugen, dass sie ihr Schicksal nur selbst in die Hände nehmen können. Dass kein Präsident oder Anführer egal welcher Couleur die Probleme des Landes lösen wird. Dabei dekonstruiert der "Delegierte Null" auch gern mal sein eigenes Anführer-Image.

Bisher, nach gut der Hälfte der zurückzulegenden Strecke, entstand daraus bereits eine Reihe nationaler Zusammenschlüsse. So gründete sich auf der Halbinsel Yucatán nach der Durchreise des Subcomandante eine mexikanische Landlosenbewegung, im März fand ein Treffen alternativer Medien statt, kurz vor dem 1. Mai ein Arbeiterkongress jenseits der korrupten Gewerkschaften, am 13. Mai soll ein landesweites Treffen für juristische Strategien gegen politische Verfolgung stattfinden. Doch auch für die Linken eher unübliche Themen werden in der "Anderen Kampagne" aufgegriffen: In Veracruz und Puebla riefen Sexarbeiterinnen mit Marcos’ Unterstützung zu einem nationalen Zusammenschluss für mehr Rechte auf. Wer die Nase rümpfte, weil der Guerillachef sich in Orizaba mit Sexarbeiterinnen und Transvestiten fotografieren ließ, dem wurde vom EZLN-Sprecher entgegengehalten: Es sei ihm eine Ehre, mit diesen Leuten gemeinsam für ein neues Mexiko kämpfen zu dürfen.

Marcos mit Sexarbeiterinnen im Bundesstaat Veracruz

Die "Andere Kampagne" propagiert eine radikale Form der Basisdemokratie. Sie will nach wie vor - trotz der markigen Rhetorik - die politische Macht nicht erobern, weder mit Waffengewalt noch über Wahlen. Sie stellt vielmehr einen Frontalangriff auf die traditionelle politische Kultur Mexikos dar, in der Hierarchien, Personenkult und Vertikalismus stets bestimmend waren. Die EZLN hat dem klientelistischen Verhältnis zwischen Basis und Politik, in dem Loyalität und passive Gefolgschaft gegen materielle Vergünstigungen und Schutz getauscht werden, den Kampf angesagt. Geradezu gebetsmühlenartig wiederholt Marcos: Es gebe bei der Anderen Kampagne nichts zu gewinnen, weder Pöstchen, noch Geld, noch Ruhm. Ihr Erfolg hänge im Gegenteil eins zu eins von den Aktivitäten ihrer Unterzeichner ab.

Dies gilt jetzt, nach den Vorfällen von Atenco, ganz besonders. Noch ist nicht absehbar, wie die Dinge sich weiterhin entwickeln werden. Zwar wurden in den letzten Tagen in ganz Mexiko Solidaritätsaktionen gestartet, doch gelangten nur wenige von ihnen in die offiziellen Medien, die seit dem Start der "Anderen Kampagne" eine recht effiziente Strategie des Totschweigens verfolgen. Auch im Ausland sehen sich die mexikanischen Botschaften mit Protesten konfrontiert: Bisher wurden Aktionen aus Kanada, den USA, Italien, Spanien, Dänemark, Griechenland, Deutschland, Frankreich, Österreich, der Schweiz, Ecuador, Argentinien, Peru, Chile und Bolivien bekannt.

Subcomandante Marcos auf seiner Rundreise, als er am 26. April in Atenco einzog

Am vergangenen Wochenende fand unterdessen in Ocoyoacac im Bundesstaat México der vierte nationale Kongress der indigenen Bevölkerung Mexikos statt. Über 800 Delegierte von insgesamt 26 Ethnien aus 23 mexikanischen Bundesstaaten solidarisierten sich mit den Opfern von Atenco und sprachen sich dafür aus, die "Saat von Gewalt und Repression" zu bekämpfen, die dort sichtbar geworden sei.

Der mexikanische Präsidentschaftswahlkampf ist auch ansonsten in vielerlei Hinsicht von sozialen Spannungen gekennzeichnet: So wurde am 4. Mai in San Blas Atempa im Bundesstaat Oaxaca der indigene Schatzmeister dieser autonomen Gemeinde ermordet, als er zu dem eben erwähnten Kongress aufbrach. Und am 20. April starben bei der gewaltsamen Räumung einer besetzten Fabrik im Bundesstaat Michoacán drei Minenarbeiter, zwei davon durch Schusswaffeneinsatz. Weder der noch amtierende Präsident Vicente Fox noch die drei großen Kandidaten für seine Nachfolge haben diese Serie von Menschenrechtsverletzungen bisher glaubhaft verurteilt.