Krankenkassen droht Pleitewelle

Während die ersten Betriebskrankenkassen bereits kurz vor der Schließung stehen, droht der gesamten Branche der Kahlschlag

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Mit der City BKK steht zum ersten mal in der deutschen Geschichte eine gesetzliche Krankenkasse vor der Insolvenz. Zwar kam es auch in der Vergangenheit regelmäßig vor, dass Krankenkassen von der Bildfläche verschwanden, alleine im letzten Jahr nahm die Zahl der Krankenkassen durch - nicht immer freiwillige - Fusionen um etwa vierzig ab. Vor zehn Jahren gab es beinahe zweieinhalbmal so viele gesetzliche Versicherer wie heute. Dieser Konzentrationsprozess ist politisch gewollt.

Erst die unter der Großen Koalition verabschiedete Gesundheitsreform machte den Weg für Krankenkasseninsolvenzen überhaupt frei. Da aber nicht die Gläubiger, sondern die anderen Krankenkassen für die Schulden der insolventen Kassen haften, droht nun eine Todesspirale. Spätestens wenn es die erste große Krankenkasse erwischt, droht dem System eine echte Katastrophe.

Die Morbidität des Kassenssystems

Jede Gesundheitsreform ist stets von der Idee getrieben, mehr Wettbewerb in das Krankenkassensystem zu bringen. Keiner Gesundheitsreform ist es jedoch gelungen, dieses Ziel wirklich zu erreichen. Ein Grundproblem des Wettbewerbsgedankens besteht nämlich darin, dass jeder Versicherte unterschiedliche Einnahmen und Kosten mit sich bringt.

Während junge, gut ausgebildete Mitglieder den Kassen Überschüsse bescheren, kosten alte und chronisch kranke Mitglieder die Kassen sehr viel Geld. Es hängt also weniger von der Effizienz oder dem Management einer Krankenkasse ab, wie sie wirtschaftlich da steht, sondern vor allem von ihrer Versichertenstruktur. Hat eine Kasse zu viele alte und kranke Mitglieder, kommt sie um eine Erhöhung der Beiträge in Form einer Erhebung von Zusatzbeiträgen nicht herum.

Auf eine solche Beitragserhöhung folgt allerdings eine Reaktion, die das Problem sogar noch weiter verschärft. Die Mitglieder, die dann zu einer günstigeren Krankenkasse wechseln, sind meist genau diejenigen, die der Kasse Überschüsse einbringen. Während junge, gut ausgebildete Menschen kein Problem damit haben, sich im Internet eine kleine Krankenkasse herauszusuchen, die günstige Tarife anbietet, haben ältere und vor allem kranke Mitglieder oft weder das Interesse noch die Möglichkeit, die Kasse zu wechseln. Mit jeder Beitragserhöhung verschlechtert sich so tendenziell die strukturelle Güte des Mitgliederstamms, was mittel- bis langfristig in eine Abwärtsspirale aus Beitragserhöhungen und weiteren Austritten von lukrativeren Mitgliedern führt.

Um diese Schieflage, unter der in der Vergangenheit vor allem die AOK-Versicherungen zu leiden hatten, auszugleichen, hatte die Große Koalition sich unter dem Wortmonster "morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich" ein System ausgedacht. So erhält jede Kasse beispielsweise einen Grundbetrag in Höhe von etwa 185 Euro pro Monat und Mitglied, der beispielsweise bei Patienten mit Bluthochdruck um 33 Euro, bei Depressiven um 84 Euro und bei Diabetikern um 180 Euro pro Monat aufgestockt wird. Allerdings erfasst das Ausgleichssystem lediglich 80 Krankheiten und reicht bei schwer erkrankten Patienten nicht einmal im Ansatz aus, um die vollen Kosten zu decken.

Betriebskrankenkassen in Schieflage

Für kleinere Kassen besteht so ein nahezu unkalkulierbares Risiko, bei teuren Einzelfallbehandlungen in die Abwärtsspirale gezogen zu werden. Die Gemeinsame Betriebskrankenkasse Köln (GBK) hatte vor einem Jahr beispielsweise lediglich 33.000 Versicherte. In Schieflage kam die GBK offensichtlich durch zwei ihrer Patienten, die an der Bluterkrankheit leiden. Die Kasse muss zwar die 14 Millionen Euro teure Therapie dieser Patienten bezahlen, kriegt jedoch mangels rechtlicher Regulierung dafür keinen adäquaten Risikostrukturausgleich.

Daher sah sich die GBK auch bereits im letzen August als erste Krankenkasse gezwungen, von ihren Mitgliedern einen Zusatzbeitrag in Höhe von acht Euro pro Monat einzufordern und verlor postwendend 5.000 zahlende Mitglieder. Seit Beginn des Jahres fordert die GBK von ihren Mitgliedern sogar den Höchstbetrag von einem Prozent des Bruttoeinkommens (max. 37,50 Euro pro Monat), verlor dadurch noch mehr Mitglieder und musste nun beim Bundesversicherungsamt Insolvenzgefahr anmelden. Nun strebt die GBK eine Fusion mit einem stärkeren Partner an - ohne konkrete Aussicht auf Erfolg.

Beitragserhöhungen haben - nach Informationen des SPIEGEL - auch die BKK Heilberufe in eine gefährliche Schieflage gebracht. Um die gestiegenen Kosten zu refinanzieren, musste auch die BKK Heilberufe schon früh den Maximalbetrag als Zusatzbeitrag von ihren Versicherten erheben. Von den ehemals 150.000 Versicherten kehrten seitdem rund 50.000 der BKK den Rücken. Auch wenn die Versicherung dementiert, dass sie von der Insolvenz bedroht sei, dürfte sie sich bei den geänderten Strukturen nur sehr schwer ohne Partner am Markt halten können. Auch wenn mittelfristig nicht unbedingt die Insolvenz droht, so dürften auch hier die Zeichen auf Fusion stehen.

Eine Fusion strebt zwar auch die City BKK an - für sie dürfte es jedoch bereits zu spät sein. Die City BKK, die ein Zusammenschluss der ehemaligen Betriebskrankenkassen der Länder Hamburg und Berlin und zweier kleinerer Betriebskrankenkassen ist, war schon vor der Gesundheitsreform mit einem Beitrag von 17,4% die teuerste Kasse Deutschlands. Dieser Umstand hat auch dazu geführt, dass die verbleibenden Versicherten ein denkbar "schlechter" Kundenstamm sind.

Mehr als die Hälfte der Versicherten ist über 60 Jahre alt, 16% leiden an mehreren Krankheiten (im Bundesschnitt sind es nur rund 7%). Hinzu kommt das regionale Problem der Überversorgung. Während Versicherte in Brandenburg alleine deshalb günstiger sind, weil es dort nicht so viele kostspielige Therapieeinrichtungen gibt, buhlen Fachärzte, Krankenhäuser und andere Gesundheitseinrichtungen in den Großstädten um Kunden.

Wie überall im Gesundheitssystem schafft sich auch hier das Angebot seine Nachfrage. Da die City BKK ihren ohnehin teuren Versichertenpool vornehmlich in Berlin und Hamburg rekrutiert hat, steht sie nun vor unlösbaren Problemen. Nachdem die Insolvenzgefahr bereits gemeldet wurde, sucht man nun nach einem Fusionspartner. Welche Krankenkasse will sich aber freiwillig den teuren Kundenstamm der City BKK einverleiben? Passend, dass die City BKK sich in ihrem Webauftritt selbst als "kranke Kasse" bezeichnet.

Gefahr für das BKK-System

Wenn eine dieser Krankenkassen abgewickelt werden muss, haftet das BKK-System als Ganzes für die Kosten. Krankenkassen, die ohnehin kaum ausreichende Rücklagen haben, werden auf diese Art und Weise erst recht in eine gefährliche Schieflage gebracht. Eine Insolvenz der City BKK könnte so dazu führen, dass auch andere Betriebskrankenkassen höhere Zusatzbeiträge erheben müssen und damit mobile, profitable Kunden zur Konkurrenz treiben. Mit dem verbleibenden Kundenstamm droht dann dem gesamten BKK-System das vorzeitige Aus.

Probleme bei den Ersatzkassen

Ungleich größer als die relativ kleinen Krankenkassen würde jedoch eine Insolvenz einer großen Ersatzkasse das System belasten. Als erster Kandidat wird in diesem Zusammenhang immer wieder die DAK genannt. Auch die DAK hat vornehmlich ältere und kränkere Mitglieder und musste als erste große Kasse einen Zusatzbeitrag von acht Euro pro Monat erheben.

Seitdem hat die drittgrößte Krankenkasse des Landes mindestens 141.000 Mitglieder verloren. Unterlagen, die der FTD vorliegen, gehen von einem Defizit in Höhe von 200 Millionen Euro für das laufende Jahr aus, die die DAK jedoch aus ihren Reserven bedienen kann. Ändert sich jedoch an der strukturellen Schieflage nichts, drohen der DAK bereits im nächsten Jahr Defizite in Höhe von 800 Millionen Euro. Das ist sogar für eine große Ersatzkasse zu viel. Die Konkurrenz kalkuliert daher bereits die Folgen einer DAK-Insolvenz und ist schwer verunsichert. Im Ersatzkassensystem müssen ebenfalls die übrigen Kassen die Kosten der Insolvenz einer Ersatzkasse übernehmen.

Wettbewerb paradox

Fusionen und Insolvenzen einzelner Krankenkassen sind politisch durchaus gewollt. Ein Ziel der letzen Gesundheitsreform war es schließlich, den Markt durch Konzentration zu konsolidieren. Durch die Übernahmegarantie der Krankenkassensysteme droht nun jedoch eine Kette von Dominosteinen umzukippen.

Sobald eine Kasse die Beiträge anheben muss, wird sie vom Markt gnadenlos abgestraft und droht in eine Abwärtsspirale zu geraten. Dies hat mit einem gesunden Wettbewerb nichts mehr zu tun. Krankenkassen gehören zum Sozialsystem und hier darf kein Träger dafür bestraft werden, wenn er ältere oder kränkere Kunden zu versorgen hat als seine Konkurrenz.

Es kommt noch schlimmer

Die schlechten Nachrichten der letzen Tage könnten jedoch nur ein Vorgeschmack auf das sein, was uns im nächsten Jahr erwartet. Die Bundesregierung geht für 2011 von einem Systemdefizit von rund elf Milliarden Euro aus, das sich im Worst Case auch auf 15 Milliarden Euro erhöhen könnte. Nullrunden bei Kassen, Zahnärzten und Kliniken sollen in Kombination mit einem "Sparpaket" für die Pharmaindustrie nach sehr optimistischen Schätzungen das System um rund vier Milliarden Euro entlasten.

Zusätzlich hat die Regierung einen "einmaligen" Steuerzuschuss in Höhe von zwei Milliarden Euro bereitgestellt. Bliebe immer noch ein Defizit von mindestens fünf Milliarden Euro. Sollte die Politik dieses Defizit auf die Kassen abwälzen, droht dem Land im nächsten Jahr eine wahres Kassensterben.