Krieg gegen Zivilisten

amnesty international prangert palästinensische Terroraktionen an

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Wer bisher geglaubt hatte, die Menschenrechtsorganisation amnesty international würde den Nahostkonflikt allzu einseitig aus der Perspektive des vermeintlich schwächeren Kontrahenten betrachten, musste sich dieser Tage eines Besseren belehren lassen. Denn der in Gaza vorgestellte Bericht Without distinction: Attacks on civilians by Palestinian armed groups berichtet (fast) ausschließlich über Gräueltaten palästinensischer Attentäter, denen seit Beginn der "Al-Aqsa-Intifada" Ende September 2000 etwa 350 Zivilisten zum Opfer gefallen sind.

Im Gespräch mit Telepolis erklärt amnestys Israel-Expertin Petra Schöning die vordringlichen Ziele dieser Veröffentlichung:

"Wir wollen deutlich machen, dass vorsätzliche Angriffe auf Zivilisten durch nichts zu rechtfertigen sind, und fordern die israelischen und die palästinensischen Behörden auf, die Verantwortlichen vor ein ordentliches Gericht zu stellen."

Der aktuelle Bericht beginnt mit einer Reihe von Beispielen, die das ganze Ausmaß der Gewalt dokumentieren, aber nicht auf die verheerenden Bombenattentate begrenzt ist, welche den Weg in die Hauptnachrichten finden. Der Kampf bestimmter palästinensischer Organisationen - Hamas, Jihad, PLPF oder Al-Aqsa - richtet sich ausdrücklich gegen das gesamte israelische Volk. Und so werden auch furchtbarste Gräueltaten wie die Ermordung der Rentner Tuvya Viesner (79 Jahre) und Michael Orlanski (70 Jahre) am 29. März 2002 oder der bewaffnete Überfall auf eine Großmutter und ihre Enkel, in dessen Verlauf die fünfjährige Danielle Shefi am 27. April 2002 erschossen wurde, von den militanten Freiheitskämpfern als "heroische und couragierte Tat" gefeiert.

Nach Auskunft von Petra Schöning unterscheiden die Attentäter in aller Regel nicht zwischen Militärs und Zivilisten. Für sie besteht ganz Israel im Prinzip aus aktiven Soldaten und Reservisten im Wartestand. Die Ablehnung einer grundsätzlichen Unterscheidung zwischen nicht-bewaffneten Zivilpersonen und aktiven Angehörigen militärischer Verbände widerspricht nicht nur jeder internationalen Übereinkunft - sie hat in Israel und den besetzten Gebieten tödliche Folgen. "amnesty international" geht davon aus, dass bei den rund 120 Angriffen palästinensischer Gruppen, die zu über 50% in Form von Selbstmordattentaten durchgeführt wurden, insgesamt mindestens 350 Zivilisten, unter ihnen mehr als 60 Kinder, zu Tode gekommen sind. Angesichts dieser Zahlen ist die öffentliche Verurteilung der genannten Verbrechen für die Menschenrechtsorganisation auch eine Frage der Glaubwürdigkeit. Die Stellungnahme ihrer Israel-Expertin lässt denn auch an Deutlichkeit wenig zu wünschen übrig:

"Natürlich hat das palästinensische Volk wie jedes andere ein Recht auf Widerstand. Aber das darf nicht als Argument gegen die Beachtung der Menschenrechte gebraucht werden. Wir halten uns mit einer Bewertung des Nahostkonflikts bewusst zurück, aber die gezielten Angriffe auf Zivilisten verstoßen gegen jede internationale Vereinbarung und müssen so schnell wie irgend möglich unterbunden werden."

Allerdings - das betont Schöning mit gleichem Nachdruck - nicht so, wie es die israelische Regierung derzeit versucht. Die gängige Praxis, das Recht in die eigene Hand zu nehmen und vermeintliche Attentäter entweder "prophylaktisch" oder im Rahmen einer Vergeltungsaktion zu exekutieren, wird von "amnesty" nach wie vor scharf kritisiert:

"Dabei handelt es sich schlicht und ergreifend um staatlichen Mord und eine durch nichts zu rechtfertigende Form der Selbstjustiz."

Die Beantwortung der Frage, wie die Standards der Genfer Konvention oder ähnlicher Vereinbarungen die Situation in Israel und den besetzten Gebieten verbessern sollen, gestaltet sich umso schwieriger. Schließlich setzt eine (möglicherweise durchaus effektive) internationale Überwachung, die selbstredend auch das Justizsystem der palästinensischen Autonomiebehörden kontrollieren und kritisieren könnte, die Zustimmung und Mitarbeit beider Parteien voraus. Die Erkenntnis, dass selbst im Krieg nicht alles erlaubt sein darf, wäre dabei überaus hilfreich, doch von eben der sind Israelis und Palästinenser derzeit vielleicht noch weiter entfernt als in früheren Jahren.