Kritik des Fernsehens

Der Soziologe Pierre Bourdieu sieht im Fernsehen eine große Gefahr

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Foto von Susanne Gölitzer

Pierre Bourdieu ist in Frankreich einer der großen Soziologiestars und hat sich in letzter Zeit mit seiner Kritik an der Globalisierung und dem vorrangig ökonomisch bestimmten Zusammenwachsen der EU (Gegen das Maastricht-Europa) einen Namen gemacht. 1996 unternahm Bourdieu einen Versuch, eine größere Öffentlichkeit zu erreichen, in dem er zwei Fernsehsendungen machte, die vom Collège de France produziert und vom Privatsender Première gesendet wurden. Als Thema nahm er sich das Fernsehen vor, benutzte es aber lediglich als Bühne, um einen Vortrag zu halten, wie er ihn auch ansonsten an der Universität gehalten hätte.

Das Medium diente ihm also tatsächlich lediglich dazu, den Hörsaal zu erweitern, aber die Chance wurde nicht genutzt, eine möglicherweise dem Medium angemessenere Form des Diskurses zu entwickeln. Diese eigene Unbeweglichkeit liegt auch seiner Kritik zugrunde, die im Fernsehen als dem dominierenden gesellschaftlichen Medium - das Internet wird symptomatisch (?) nicht thematisiert - eine große Gefahr für die Kultur, die Wissenschaft, die Philosophie, das Recht, überhaupt für "das politische und demokratische Leben" sieht.

Schon auf den ersten Seiten, in dem er sein Vorgehen rechtfertigt, nur einen Vortrag zu halten, kommt die eigentümliche Starre des puristischen Intellektuellen zur Geltung, der noch in der alten Medienwelt des geschriebenen und gesprochenen Diskurses lebt. Natürlich habe er sich anpassen müssen, um für jedermann verständlich zu sein, aber er wollte "das Wesentliche, das heißt das gesprochene Wort, in den Vordergrund" rücken. Deswegen habe er - "im Unterschied von (oder in Gegensatz zu) dem, was sonst im Fernsehen gang und gäbe ist" - nur die argumentierende Beweisführung herausgestellt und auf "alle formalen Spielereien bei Bildeinstellung oder Aufnahmetechnik" verzichtet. Auch "Illustrationen" sind dem Verdikt anheimgefallen, zu sehen ist nur der Meister selbst, der aus einer medialen Perspektive dann konsequenterweise hätte im Radio sprechen sollen.

Ich möchte hier im Fernsehen eine Reihe von Fragen zum Fernsehen aufwerfen. Eine etwas paradoxe Absicht, denn ich glaube nicht, daß man im Fernsehen viel sagen kann, zumal nicht über das Fernsehen.

Pierre Bourdieu

Auch sonst hat der Soziologe bewußt und schneidig Tabus gebrochen. Da normalerweise im Fernsehen die Redezeit äußerst beschränkt ist, sei eine lange - und visuell langweilige - "öffentliche Rede eine der verläßlichsten Formen des Widerstands gegenüber Manipulation und ein Ausdruck von Gedankenfreiheit." Ist er nicht tapfer und subversiv, der Soziologieprofessor am medialen Katheder, der zwar immer davon spricht, daß man die gesellschaftlichen "Felder" und ihre Eigengesetzlichkeit zu untersuchen habe, aber in jedem Medium undifferenziert nur den althergebrachten akademischen Diskurs des Lehrers vor den Schülern als Rettung des politischen und demokratischen Lebens anpreist?

Die Unfähigkeit oder der Unwillen, die gewohnte Praxis innerhalb des universitären Feldes in ein anderes Medium zu übersetzen, der Glaube, daß Bilder gewissermaßen in sich schlecht oder nur Illustration des Wesentlichen bzw. formale Spielerei seien, führt denn auch zu einer pauschalen Medienkritik, die wenig spezifisch ist und eigentlich den Monolog eines universitären Predigers als Widerstand gegen die profane, kommerzielle und oberflächliche Welt "da draußen" verkaufen will. Als hätte es beispielsweise Fremdenhaß und Nationalismus nicht auch schon vorher gegeben, so werden deren "Explosionen" in letzter Zeit von Bourdieu "wesentlich allein in den von den modernen Kommunikationsmitteln gebotenen Möglichkeiten" verortet, "um diese Leidenschaften auszubeuten."

Das Fernsehen hat eine Art faktisches Monopol bei der Bildung der Hirne eines Großteils der Menschen. ... Das Fernsehen entscheidet zunehmend darüber, wer und was sozial und politisch existiert

Pierre Bourdieu

Im Grunde führt Bourdieu eine Kritik der Aufmerksamkeitsökonomie im Bereich der Medien durch, in dem Sein, wie er den Philosophen Berkeley zitiert, bedeutet, wahrgenommen zu werden, d.h. im Fernsehen wahrgenommen zu werden. Das verführt die Wissenschaftler und andere Intellektuelle dazu, so oft wie möglich auf dem Bildschirm zu erscheinen und sich den Bedingungen des Mediums zu unterwerfen. Weil Zeit - und Aufmerksamkeit - im Fernsehen knapp und teuer sind, muß alles Sagenswerte auf Sekunden zusammengepreßt oder theatralisch in der Weise von Talk-Shows inszeniert werden. Wer das gut kann, sich den Bedingungen des Fernsehens fügt, zu allem etwas zu sagen hat, alles mitmacht und als "fast-thinker" auftritt, wird dann als Prominenter oder Experte immer wieder eingeladen und von einem Sender zum anderen weitergereicht.

Das Universum der ständigen Fernsehgäste ist eine geschlossene Welt, in der jeder jeden kennt und die einer Logik ständiger Selbstbestätigung folgt.

Pierre Bourdieu

Das selektive Prinzip des Fernsehens ist die "Suche nach dem Sensationellen", das zusammenhangslos in einer permanenten Diktatur des Aktuellen in der Konkurrenz mit anderen Sendern und Medien präsentiert wird und im Prinzip alles in "Vermischte Nachrichten" verwandelt. Nur der sichtbarste Aspekt der sozialen Welt etwa werde in den Vordergrund gestellt, nämlich die Individuen, während die Thematisierung der Strukturen und Mechanismen gesellschaftlicher Prozesse eher langweilig ist und daher vermieden wird. Was in den Medien als den kollektiven Aufmerksamkeitsorganen vorkommen soll, muß sich dem Auswahlprinzip des Sensationellen und Neuen unterwerfen oder sich bereits selbst in einem Anpassungsprozeß entsprechend inszenieren. Nichts geht mehr ohne Medienberater. Und das "göttliche Gericht" ist die Einschaltquote, die die Aufmerksamkeit der Zuschauer und damit den ökonomischen Erfolg mißt.

Ein Universum, das von der Furcht beherrscht ist, zu langweilen, und von der Bemühung, um jeden Preis unterhaltsam zu sein.

Pierre Bourdieu

Neben dieser allgemeinen Kritik sieht Bourdieu das Problem vor allem in der Eigenbezüglichkeit des medialen Feldes. In der Aufmerksamkeitsökonomie geht es nicht um die Nachricht schlechthin, sondern um die Schaffung einer Nachricht im Kontext zur Konkurrenz. Man muß zum Beispiel schneller sein, aber darf auch nicht vergessen, was anderen Ortes prominent wurde. Die scheinbare Vielfalt der Programme täuscht nur über die sich durch den Mechanismus der "zirkulären Zirkulation" und der Abgleichung mit den anderen Medien ergebene Homogenität der Inhalte hinweg. Viele Journalisten recherchieren in der Tat nicht mehr vor Ort, sondern lassen sich von anderen Informanten informieren. Durch die Zirkularität und Konkurrenz entstehen aus der Medienwelt Themen, die dem Zuschauer aufgedrängt werden und eigentlich nur interne Bedeutung haben, dafür aber andere Inhalte verdrängen.

Bourdieu betont, daß er nicht einzelne kritisiert, da das Medium, gut soziologisch, eben ein Feld mit eigenen Gesetzen ist, die sich nur schwer durchbrechen lassen: in diesem "Zwangszusammenhang" werden alle, die sich hineinbegeben, zu Marionetten des Systems. Und weil in einer medialen Aufmerksamkeitsökonomie, in der soziale Wirklichkeit durch die um Aufmerksamkeit konkurrierenden Medien geschaffen wird, alles in die Medien drängt, um öffentlich wahrgenommen zu werden, sind Bourdieu für alle "Felder der Kulturproduktion ... einen strukturellen Druck des journalistischen Feldes" ausgesetzt. Das gefährdet die für Bourdieu wichtige Autonomie der anderen Felder und führt ganz allgemein zu einer "strukturellen Amnesie" sowie zur Entpolitisierung.

Seine Kritik ist ebenso einleuchtend wie bekannt. Der Ansatz ist nicht neu. Aber vielleicht ist das Bourdieu auch gar nicht wichtig, denn Neuheit ist kein Kriterium von Wahrheit, sondern nur ein Selektionskriterium der Aufmerksamkeit. Bourdieu will mit seinen Ausführungen nicht nur die Mechanismen der medialen Umformung der Kultur, Wissenschaft oder Politik bewußt machen, sondern auch zum Widerstand aufrufen: "Es wäre wichtig, daß die Bewußtwerdung all der Mechanismn, die ich beschrieben habe, zu kollektiven Anstrengungen führt, gegenüber der wachsenden Macht des Fernsehens jene Autonomie zu schützen, die Voraussetzung wissenschaftlichen Fortschritts ist." Der Aufruf richtet sich sowohl an die Journalisten - die "Tagelöhner des Alltäglichen" - als auch an jene, die im Fernsehen auftreten wollen und sollen. Es sei wichtig, im Fernsehen zu sprechen, um die Öffentlichkeit zu erreichen - "aber unter bestimmten Voraussetzungen". Welche das genauer sind, erfährt man nicht, vermuten aber darf man, daß Bourdieu etwa für sich die Möglichkeit gewahrt sehen will, ähnlich zu sprechen, wie man dies in dem Buch nachlesen kann.

Pierre Bourdieu: Über das Fernsehen. edition suhrkamp. 139 Seiten. DM 14,80.-