Kultur ist Frieden, Frieden braucht Kultur

Telepolis dokumentiert: Offener Brief zur Rolle der Kultur bei der Bewahrung der europäischen Friedensordnung

Wir Kultur- und Kunstschaffenden sowie Freunde und Sympathisanten wenden uns mit diesem offenen Brief besorgt und bestürzt an die Politik und Öffentlichkeit. Wir spüren, dass die Demokratie und freiheitliche Gesellschaft unseres Landes in eine gefährliche Schieflage gerät.

Indikator dafür ist die schockierende Eskalation von Diskriminierung und Herabwürdigung russischsprachiger Bürger in unserem Lande, als Vorreiter der Europäischen Union, deren Spirale sich praktisch täglich weiter ins Uferlose schraubt.

So wie wir Bestürzung über die durch die russische Strategie forcierte Eskalation des jahrelangen Ukrainekonflikts empfinden, fühlen wir nun gleichsam Scham über die deutsche Reaktion auf diesen Krieg, die in einem bisher nie gekannten Ausmaß an Empörung ihre Blüten schlägt.

Russland kann und muss diesen militärischen Konflikt beenden. Das wollen auch wir. Aber es liegt auf der Hand, dass die bisherigen deutschen und europäischen Reaktionsexzesse das Gegenteil provozieren, mindestens jedenfalls dazu beitragen, eine Befriedung zu verzögern, statt sie herbeizuführen.

Viele russisch-deutsche Vereinigungen, die zur Förderung der wirtschaftlichen, humanitären und kulturellen Beziehungen zwischen den beiden Ländern gegründet wurden, stehen kurz vor dem Zusammenbruch. Deutsch-europäische Firmen, die mit Handel einen wichtigen Beitrag für gutnachbarliche Beziehungen leisteten, werden von deutscher Seite in den Ruin befohlen.

Mit völlig ungebremster Sanktionierung Russlands werden billigend auch Inflation und der Niedergang deutscher Wirtschaft und damit deutschen Wohlstandes in Kauf genommen, während das Waffengeschäft brummt und die Rüstungslobby sich die Hände reibt. Wie kann das sein?

Verstörende Signale empfangen wir aber auch aus der kulturellen Landschaft: Russischen Weltstars wie der Opernsängerin Anna Netrebko und dem Dirigenten Waleri Gergijew wurden die Verträge gekündigt, weil sie sich nicht "ausreichend" gegen ihre Heimat positionierten.

"Gezwungen, zu politischen Ereignissen verordnete Partei zu ergreifen"

Im europäischen Deutschland des 21. Jahrhunderts, in dem die Rede- und Meinungsfreiheit für alle Bürger durch das Grundgesetz garantiert ist, werden verdienstvolle Kulturschaffende buchstäblich gezwungen, zu politischen Ereignissen verordnete Partei zu ergreifen. Wenn sie sich weigern, werden sie entlassen.

In europäischen Schulen werden Werke russischer Klassiker wie Puschkin oder Tolstoi aus den Lehrplänen gestrichen. Aufführungen von russischen Komponisten und Theaterstücke russischer Autoren wie Menschen werden bedroht, beleidigt, gedemütigt, ihr Eigentum wird verwüstet, sie werden in den sozialen Medien beschimpft und offen aufgefordert, Deutschland zu verlassen.

In Lebensmittelgeschäften und Restaurants wird Russen die Bedienung verweigert. Solcherlei muss dringend gestoppt werden!

"Die Menschen vermeiden es bereits, auf der Straße Russisch zu sprechen. Das macht mir große Sorgen. Es gibt Fälle von Angriffen auf russische Geschäfte, russischsprachige Kinder werden in den Schulen schikaniert. So etwas können wir nicht dulden", sagte auch Reem Alabali-Radovan, Staatsministerin für Migration und Integration sowie Antirassismus-Beauftragte der Bundesregierung.

Nach Angaben des deutschen Bundeskriminalamtes werden im Land der Dichter und Denker jede Woche mindestens 200 Straftaten gegen russischsprachige Bürger begangen.

Für kritisch denkende und kulturinteressierte Europäer sind auch Entscheidungen, wie die des Weltverbandes der internationalen Musikwettbewerbe, den internationalen Tschaikowsky-Wettbewerb aus seinen Reihen zu streichen, vollkommen unerklärbar. Denn es handelt sich dabei nicht nur um einen der weltweit bedeutendsten klassischen Musikwettbewerbe, sondern auch um einen weltumfassenden Vermittler humanistischer Werte, dessen Bedeutung weit über die Grenzen des Landes hinausreicht.

Als mitten im Kalten Krieg der herausragende US-amerikanische Pianist Van Cliburn den Wettbewerb in Moskau gewann, war dies ein friedensstiftender Akt durch die Kunst. Von Gideon Kremer bis Dimitri Schostakowitsch sind viele bedeutende Künstler untrennbar mit dem Tschaikowski-Wettbewerb verbunden.

Entscheidungen, solche hochkarätigen kulturellen Brücken niederzureißen, werden sich wohl nicht auf die Entwicklung der Kultur in Russland auswirken, ganz sicher aber auf die unsere.

Wir möchten nicht hinnehmen, dass gerade die Kultur, als eines der höchsten menschlichen Güter, stranguliert, missbraucht und ihrer friedensstiftenden und völkerverbindenden Kräfte beraubt wird.

Was ist der nächste Schritt des "kulturellen Europa"? Öffentliche Verbrennung von Büchern russischer Herkunft auf den großen Plätzen der Städte? Wohin will die deutsche Politik die Spirale noch schrauben? Und wo bleiben hingegen die politisch klugen, die diplomatischen, die humanistischen Ideen, mit denen der kriegerische Konflikt zwischen der Ukraine und Russland, unter zunehmender Beteiligung des Westens, beendet werden kann?

Im Sinne und Interesse aller Völker Europas und der Welt?! Es muss unser aller Interesse sein, das Verbindende zwischen Russen und Ukrainern zu fördern, anstatt zu ihrer vollkommenen und unversöhnlichen Entzweiung beizutragen.

Wir, die Unterzeichnenden, fordern ein sofortiges Umdenken der deutschen Politik und deutscher Medien, um der ausufernden Russophobie in Deutschland und Europa entgegenzuwirken.

Wir ersuchen den Bundespräsidenten und das Bundesverfassungsgericht, die Verletzungen des Menschenrechtes auf Meinungs- und Anschauungsfreiheit zur Kenntnis zu nehmen, zu unterbinden und rechtschaffene Bürger vor Hassattacken zu schützen.

Wir fordern, dass Behörden und sonstige staatlichen Stellen es unterlassen, ethnischen Hass gegen Russen, alles Russische und Russland Zugewandte zu schüren.

Stattdessen müssen alle möglichen Maßnahmen gegen Verhetzung und kriminelle Vorkommnisse ergriffen werden, um weiterhin dem Austausch von Kulturen und den ihnen innewohnenden friedensstiftenden Kräften Raum zu geben.

Frieden beginnt in uns. Frieden ist keine Einbahnstraße, aber Krieg ist immer Sackgasse! Frieden muss für die Völker gemacht werden, nicht gegen sie. Kultur ist Frieden; Frieden braucht Kultur.

Die Unterzeichner

Hochachtungsvoll,

Tino Eisbrenner (Songschreiber, Sänger, Autor)

Dirk Zöllner (Sänger, Songtexter, Komponist)

Gina Pietsch (Sängerin)

Dr. Matthias Oehme (Eulenspiegel Verlag)

Owe Schattauer (Rapper )

Claudia Opitz (Kinderbuchautorin)

Marc Johne (Edition Bodoni)

Wolfgang Bittner (Autor)

Renate Schoof (Autorin)

Heiner Sylvester (Dokumentarfilmer, Regisseur)

Sebastian Köpcke (Graphiker)

Dr. Klaus Gehrcke

Martina Würzburg (Konferenzdolmetscherin)

Frank Schumann (Verleger)

Mario Kedzierski

Peter Misch

Dr. Annekathrin Thyrolf (Humboldt und Universität zu Berlin)

Christine Rädi

Wieland Schiller (Diplomstaatswissenschaftler)

Friederike Schlegel (Theaterpädagogin, Ernst-Busch-Chor Berlin)

Cornelia Günther (Diplomdolmetscherin)

Ronny Matthes (Komponist und Pianist sowie der Verlagsinhaber von Matthesmusic in Dresden)

Henry Marek

Dr. Eva Ruppert (Bad Homburg v.d. H.)

Eveline Schulze (Autorin)

Meigl Hoffmann (Kabarettist)

Gina Pietsch (Sängerin, Schauspielerin, Autorin)

Volker Külow (Politiker)

Dr. Stefan Bollinger

Frank Viehweg (Liedermacher)