Kunst und die Aufmerksamkeitsökonomie im wirklichen Raum und im Cyberspace

Der Zweck der Kunst ist die Herstellung von Aufmerksamkeit.

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Michael H. Goldhaber

Als ich vor kurzem eine Kunstausstellung verließ, bemerkte ich plötzlich, wie ich den Bürgersteig, auf dem ich lief, intensiv betrachtet habe. Das ist eine Wirkung der Kunst. Sie kann unsere Aufmerksamkeit so stark als möglich in Bann ziehen. Man könnte Kunst auf diese Weise definieren. Ihr Zweck besteht genau darin, Aufmerksamkeit herzustellen. Das ist alles, was notwendig ist, wenn etwas Kunst sein will. Schönheit oder moralische Belehrungen sind nicht erforderlich, wohl aber erfolgreiche Strategien zur Gewinnung der Aufmerksamkeit.

Man kann sich die Aufmerksamkeit, die auf ein Kunstwerk gerichtet wird, so vorstellen, als würde sie durch es "hindurch" auf den Künstler selber gehen. Wir sehen ein bestimmtes Kunstwerk vor uns oft als "einen Picasso", "einen Richter" oder "eine Sherman" und verbinden das, worauf wir sehen, mit dem ganzen Leben des Künstlers oder mit dem, was wir von ihm wissen. Wenn wir das Werk genau betrachten, stellen wir uns an die Stelle des Künstlers und versuchen uns vorzustellen, was er machte oder wie es aus seiner Perspektive aussieht.

In meiner Terminologie macht dies die Künstler zu den reinsten Stars der Aufmerksamkeitsattraktion. Es würde eine Untersuchung der Bedingungen erforderlich machen, unter denen Kunst für uns alle wichtig werden kann, wenn wir unseren Weg in die neue Ökonomie zu finden suchen. Die Kunst im 20. Jahrhundert mußte mit einem zunehmend konkurrierenden Hintergrund zurechtkommen, um Aufmerksamkeit zu finden. Manche Künstler waren dabei jedoch sehr erfolgreich.

Nicht alle Künstler verwenden dieselben Strategien, aber jeder erfolgreiche hat irgendwie gegen das "Rauschen" im Hintergrund gekämpft, um Sichtbarkeit zu erreichen und einen intensiven Blick herbeizuführen. Natürlich gelingt es keinem Künstler, die Aufmerksamkeit von allen zu gewinnen. Selbst unter den besten Umständen werden Menschen einfach weitergehen, ohne die Kunst jemals wirklich in ihr Bewußtsein eintreten zu lassen.

Vor 60 Jahren sagte Walter Benjamin, daß das "Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" überall sein könnte, aber darin täuschte er sich, wie sich herausgestellt hat. Wenn ein Bild überall ist und wir das wissen, dann sind wir meist nicht geneigt, einzuhalten und es sorgfältig zu betrachten. Wenn ein Kunstwerk einzigartig oder praktisch einzigartig ist und wir dies wissen, dann wissen wir auch, daß wir es nur in den seltenen Momenten betrachten können, wenn es sich vor uns befindet. Wenn es diese Gelegenheit gibt, dann sind wir eher gestimmt, uns beim Betrachten Mühe zu geben.

Künstler haben sich eine Reihe von Strategien ausgedacht, die, bewußt oder nicht, ihre Kunst vor der erfolgreichen Reproduktion geschützt haben, wodurch jedes Werk nahezu einzigartig bleibt. Wenn ein Gemälde exakt zweidimensional ist, d.h. wenn es sich völlig auf der Fläche ansiedelt, dann kann es mit fotografischen Mitteln ziemlich gut reproduziert werden. Es ist daher kein Zufall, wenn viele Maler die Farben auf ihren Bildern dick auftragen. Ihre Werke haben in Wirklichkeit "zweieinhalb Dimensionen". In diesem Fall bildet die Fotografie nicht so wahrheitsgetreu ab. Die Einzigartigkeit bleibt erhalten.

Ähnliches trifft auf Bildhauer zu. Abgüsse können von allen gewöhnlichen dreidimensionalen Werken aus Stein gemacht und dann dazu verwendet werden, eine beliebige Zahl von Kopien aus Plastik oder Bronze anzufertigen. Moderne Bildhauer vermeiden oft dieses Schicksal, indem sie die Oberflächen auf komplizierte Weisen behandeln: sie polieren sie sehr glatt, lassen sie rosten, bestrahlen sie mit Sand, was wahrnehmbare Kratzer hinterläßt, oder bemalen sie sogar. Derartige Skulpturen sind eher Oberflächen als Volumen und daher wieder eher wie Werke mit "zweieinhalb Dimensionen". Wieder ist eine Massenproduktion nicht möglich.

Viele weitere Techniken sichern dieselbe Nicht-Reproduzierbarkeit. Gemälde und Skulpturen können Collagen sein, komplizierte Medien- oder Materialmischungen, einzigartige "gefundene Gegenstände", oder sie können ein riesige Größe besitzen. All das verhindert die Reproduktion oder läßt diese sich vom wirklichen Werk sehr unterscheiden. Andere Kunstwerke sind, wie der verhüllte Reichstag von Christo, an den Ort gebunden und existieren oft nur für eine bestimmte Zeit.

Eine einzigartige Kunst kann nicht überall sein. Meist ist sie nur während einer Ausstellung, in einem Museum oder in einer Galerie zu sehen. Heutige Museen, wie das neue Guggenheim-Museum von Frank Gehry in Bilbao, sind selbst beeindruckende, ungewöhnliche, die Aufmerksamkeit auf sich ziehende Gebäude. Wenn man in sie eintritt, gelangt man in einen besonderen Raum, fast in eine Kathedrale, wo man die Kunst an den Wänden verehren muß. Nicht jeder, der ein Museum besucht, hat einen aufmerksamen Blick, aber für viele trifft das zu, was eine dementsprechende Atmosphäre entstehen läßt.

In alten Kathedralen gab es deren bekannte Heiligen und Reliquien. Ganz genauso sollte ein modernes Kunstmuseum heute seinen bekannten Picasso, Mondrian, Rothko, Klee, Pollock, Warhol, Oldenburg usw. besitzen. In diesem fast heiligen Raum, dessen Würde durch die beeindruckende Architektur weiter verstärkt wird, begeht man seinen Gottesdienst, indem man dem seine ganze Aufmerksamkeit schenkt, was man sieht. Jeder Künstler hat einen persönlichen Stil oder einige wenige persönliche Ausdrucksformen, und die Fremdheit von diesen verführt einen dazu, wenn man sie zuerst sieht, genauer hinzuschauen. Man überlegt: "Warum ist das so?", "In welchem Sinn ist das Kunst?", "Was geschieht hier?" Das Kunstwerk antwortet oft selbst auf die Fragen. Es kann den Betrachter mit der Wucht einer Offenbarung berühren und ihn scheinbar in einen unmittelbaren Kontakt mit dem Geist des Künstlers bringen.

Das alles gilt für die Kunst, die man im herkömmlichen Raum betrachtet, aber nicht für die im Cyberspace. In diesem neuen Raum braucht die Kunst neue Strategien. Hier gibt es keine beeindruckenden Museumsräume, keine Möglichkeit für große Formate oder für ungewöhnliche Materialien, weil alles auf dem gleichen Bildschirm angeschaut wird. Für gewöhnlich bemerkt man niemanden, der den eigenen aufmerksamen Blick beurteilt. Und die Versuchung einzuhalten, um etwas Schwierigem eine Bedeutung zu geben, wird durch die Möglichkeit kompensiert, es zu übergehen und auf eine neue Site zu surfen, die eine geringere Mühe des Verstehens erfordert, auch wenn sie einen weniger belohnt.

Eine der Strategien, die man oft ausprobiert hat, ist das sogenannte Netzradio. Man überträgt "Sendungen" nur zu einer bestimmten Zeit. Zu dieser Zeit ist man entweder aufmerksam oder man erhält keine weitere Chance. Die Schwierigkeit besteht darin, daß alles, was über das Netz kommt, bereits digitalisiert ist und daher gespeichert werden kann. Es ist reproduzierbar, auch wenn der Künstler das nicht will. Auf diese Weise kann eine solche "zeitspezifische" Kunst nicht einzigartig bleiben.

Die Hyperart ist eine andere Möglichkeit. Man reagiert durch Entscheidungen, die festlegen, was man als nächstes sehen will. Schwierig dabei ist, daß man alleine unterwegs ist und keinen Grund hat zu glauben, daß das, was man sieht, im einzelnen vom Künstler geplant war, weil es zu viele Zufälle gibt, die man im voraus nicht absehen kann. Und es gibt - noch - keine Möglichkeit, andere mit einzubeziehen oder sich selbst als Teil einer Gruppe von Zuschauern zu sehen, wie das im Museum der Fall ist.

Tatsächlich ist der Cyberspace gut, um Aufmerksamkeit zu erregen, aber wie man sie halten und vertiefen kann, ist noch keineswegs klar.

Michael H. Goldhaber: Die Aufmerksamkeitsökonomie und das Netz

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer