Kurz vor 12 in Belgrad

In Serbien wurde im letzten möglichen Augenblick eine "demokratische" Regierung gebildet. Konflikt um Kosovo bleibt nach Gesprächen zwischen Putin und Rice weiter ungelöst

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Hochspannung bis zuletzt. Die Uhren in der Skupstina, dem serbischen Parlament, tickten in der Nacht vom Dienstag auf Mittwoch unbarmherzig schnell. Nach den Neuwahlen Ende Januar lief am 15. Mai um 24 Uhr die verfassungsmäßige Frist für die Konstitution einer neuen Regierung ab. Aber erst um 23:30 Uhr stimmte die Mehrheit der Abgeordneten einer Koalition zwischen der liberalen Demokratischen Partei (DS), der national-konservativen Demokratischen Partei Serbiens (DSS) und der neoliberalen G17 zu. Nachdem in den vergangenen Tagen eine Einigung immer unwahrscheinlicher schien, konnte damit im letzten Moment das Ruder umgeworfen werden. Die extremen Nationalisten der Serbischen Radikalen Partei (SRS) bleiben vorerst in der Opposition. Dem Konflikt um das Kosovo droht dennoch eine Eskalation.

Es war die komplizierteste Regierungsbildung in Serbien seit der Einführung eines Mehrparteiensystems am Beginn der 90er Jahre. Die Wahlen am 22. Januar hatten ein zweischneidiges Ergebnis gebracht. Die Parteien, welche in den westlichen Medien gewöhnlich einem „demokratischen Block“ zugeordnet werden, hatten zusammen zwar deutlich über 50 Prozent erhalten (Back to Kosovo). Eigentlicher Wahlsieger waren allerdings die Rechtsextremisten der SRS, welche mit 28,7 Prozent zur stärksten einzelnen Kraft avancierten. Zusätzlich erhielt die Sozialistische Partei (SPS) des verstorbenen Slobodan Milosevic 5,9 Prozent. Der „antiwestliche Block“ blieb damit ein starker Faktor.

Ungewissheit herrschte vor allem, weil die DSS des amtierenden Premierministers Vojislav Kostunica mit 16,7 zum Zünglein an der Waage wurde. Obwohl sie deutlich weniger Stimmen erhielt als die DS, beharrte Kostunica auf dem Posten des Premierministers. Ihren ultimativen Forderungen verlieh die DSS Nachdruck, indem sie mit einer – rechnerisch ebenfalls möglichen – Koalition mit den Radikalen drohte.

Zu einer dramatischen Zuspitzung im Poker um die Regierungsbildung war es in der vergangenen Woche gekommen. Kostunicas Partei beging den Tabubruch und stimmte bei der Wahl des Parlamentspräsidenten tatsächlich für Tomislav Nikolic, den starken Mann der SRS. Nachdem sich die beiden Parteien vor allem über die Kosovofrage bereits seit Monaten politisch angenähert hatten, schien die DSS nun ernsthaft auf ein neues strategisches Bündnis mit der SRS zu setzten. Scharfe internationale Reaktionen waren die Folge. EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn sah Serbien am „Scheideweg“ und sprach von „beunruhigenden Zeichen“. Bundeskanzlerin Angela Merkel übermittelte Kostunica in einem Telefongespräch eine „ernste Warnung“. Beide warnten vor einem Ende der Aussichten Serbiens auf eine Annäherung an die EU, falls die Radikalen weiter an Boden gewännen.

Machtkampf um das Innenministerium

Einmal im Amt, ließ Tomislav Nikolic keine Zeit verstreichen und machte seine Positionen deutlich. Der neu gewählte Parlamentssprecher erklärte, für Serbien sei es im Angesicht der Drohungen aus dem Westen besser, eine „russische Provinz“ zu werden als eine „Kolonie der Europäischen Union". Außerdem brachte er die Proklamierung des „Ausnahmezustandes“ ins Gespräch, falls es zu keiner Regierungsbildung komme und die Abspaltung Kosovos drohe. Dragoljub Micunovic, ein führender Politiker der DS, warnte daraufhin vor der Aufrichtung einer „Diktatur“. Er beschuldigte die Radikalen „im Namen des Patriotismus“ nach einer „De-facto-Suspendierung der demokratischen Institutionen“ zu trachten. Die serbische Öffentlichkeit reagierte mit deutlicher Anspannung auf die Zuspitzung.

Mittlerweile wurde allerdings deutlich, dass es Vojislav Kostunica war, der Nikolic benutzte, um sich bei den verfahrenen Koalitionsverhandlungen mit der DS in eine bessere Position zu bringen. Der Machtkampf wurde hauptsächlich um die Kontrolle des Innenministeriums und damit der Polizei und des Inlandsgeheimdienstes BIA ausgefochten. Zwei Gründe scheinen dafür ausschlaggebend zu sein. Erstens sind dem Innenministerium militärisch ausgerüstete mobile Spezialeinheiten unterstellt, welche im Fall einer Gewalteskalation in Folge der Unabhängigkeitserklärung Kosovos zum Einsatz kommen könnten. Und zweitens kann eine Verhaftung – oder auch Nicht-Verhaftung – von als Kriegsverbrechern gesuchten Militärs wie Ratko Mladic kaum an den geheimdienstlichen Strukturen vorbei erfolgen.

Aus diesem Grund machte im Vorfeld der Regierungsbildung EU-Sicherheitskoordinator Javier Solana Druck auf eine Besetzung des Innenministeriums durch einen Politiker aus der DS. Nur der Partei des ermordeten Premierministers Zoran Djindjic wird eine Verhaftung des seit Jahren untergetauchten und in Serbien noch immer populären Mladic zugetraut. Die Regierung Kostunica hat in den vergangenen Jahren zwar eine Reihe von Militärs dazu überredet, sich freiwillig dem Tribunal in Den Haag zu stellen. Sie hat aber bisher keine einzige zwangsweise Auslieferung von mutmaßlichen Kriegsverbrechern nach den Haag durchgeführt.

Nach dem Schock, den Kostunica mit der Unterstützung der SRS dem Westen und der DS versetzte, scheint er sich zumindest teilweise durchgesetzt zu haben. Während Kostunica den Radikalen Nikolic über das Wochenende wie eine heiße Kartoffel fallen ließ und kurzerhand einen neuen Parlamentspräsidenten bestimmte, konnte er gegenüber seinen neuen Koalitionspartnern den als Hardliner bekannten alten Innenminister Dragan Jocic durchsetzen.

Dennoch konnte auch der von der EU und USA unterstützte serbische Präsident und DS-Vorsitzender Boris Tadic einen Erfolg erzielen. Er wird Vorsitzender eines neu gebildeten Nationalen Sicherheitsrates, der formell die Kontrolle über alle Sicherheitsorgane ausüben soll. Noch am Dienstagabend setzte die bereits jetzt von Tadic kontrollierte Militärpolizei eine Großoperation in der Belgrader Innenstadt in Gang und durchsuchte ein Hotel nach Ratko Mladic. Die Aktion blieb freilich erfolglos. Offensichtlich wollte Tadic seine Verpflichtung auf eine baldige Festnahme unterstreichen und die Kräfteverhältnisse in den Sicherheitsorganen neu justieren. Innenminister Jocic war von der Aktion im Vorfeld nicht informiert worden.

Konflikt um den Kosovo schwelt weiter

Wie sich die innenpolitischen Machtverhältnisse in Serbien weiter entwickeln werden, hängt nun in hohem Maße vom Verlauf des Konfliktes um den Kosovo ab. Der alte und neue Premier Kostunica lässt keine Zweifel daran, dass er in keinem Fall einer Unabhängigkeit Kosovos zustimmen wird. Auch Präsident Tadic hat sich auf diese Position klar verpflichtet, wenn er auch eine weichere Rhetorik benutzt.

Unterstützung erhält Serbien dabei von Russland. Bei einem Treffen zwischen Vladimir Putin und Condoleezza Rice am Dienstag vereinbarten der russische Präsident und die amerikanische Außenministerin zwar, den aggressiven Ton in den Auseinandersetzungen zwischen beiden Ländern zu dämpfen, in der Sache bleiben die Positionen aber unverändert. Die USA drängen nach wie vor auf eine schnelle Resolution des UN-Sicherheitsrates über die Unabhängigkeit Kosovos. Russland beharrt dagegen darauf, dass nur eine Lösung mit dem Einvernehmen Serbiens denkbar ist.

Falls diese Positionen unverändert bleiben – und vieles deutet im Moment darauf hin –, droht eine Entwicklung, die von vielen Experten als „nightmare scenario“ eingeschätzt wird. Die USA und im Nachtrab die EU könnten eine Unabhängigkeit Kosovos gegen den scharfen Widerstand Russlands und Serbiens am UN-Sicherheitsrat vorbei unilateral anerkennen. Ein solches unbestritten völkerrechtswidriges Vorgehen wurde von US-Diplomaten bereits mehrmals angedeutet. Auch Condoleezza Rice erklärte am Dienstag, es sei „unmöglich“, dass Kosovo Teil von Serbien bleibe.

Eine diplomatisch nicht verhandelte Unabhängigkeitserklärung könnte allerdings zu einer gewalttätigen Eskalation im Kosovo und einem erneuten Radikalisierungsschub in Serbien führen. Bereits Anfang Mai gründeten Kriegsveteranen in der südserbischen Stadt Krusevac eine paramilitärische Gruppe, die im Fall einer Unabhängigkeitserklärung im Kosovo kämpfen soll.