Land der Lüge und der Freiheit

Über Clinton, das Impeachment-Verfahren, die Weltmacht, die Scheinheiligkeit und den Krieg

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Es gibt einen Film, dessen Titel ich vergessen habe, in dem ein befreiter Sklave nach dem Tod von Mark Aurel den römischen Senat daran erinnert, daß die Römer zur führenden Macht über die Herrschaft durch das Gesetz wurden.

Nachdem mir kürzlich Asyl in diesem Land gewährt wurde, fand ich mich selbst in einer ähnlichen Position. Immigranten, die in die USA kommen, ersetzten nur die Sklaven, seit man vor nicht allzulanger Zeit die Sklaverei abschaffte. Das Warten auf die Papiere dauert, vielleicht gewollt, entmutigend lange. Manchmal wird ein Asylsuchender auch für lange Zeit eingesperrt. Ohne Papiere kann der Immigrant nicht arbeiten oder das Land verlassen und wieder einreisen. Ohne gesetzlichen Schutz muß er nehmen, was der freie Markt anbietet, und das ist oft wenig besser als Sklavenarbeit. Wenn also die Papiere einmal ausgestellt sind, dann scheint dies damit vergleichbar zu sein, wenn ein Sklave im alten Rom seine Freiheit geschenkt wurde.

Der befreite Sklave sagte dem Senat, daß die Macht Roms nicht in den großen Legionen und der unvergleichbar großen brutalen Gewalt liegt, sondern in der Vorstellung von Ordnung, Recht und Vernunft. Die unabhängigen freien Bauern stellten mehr Lebensmittel zu günstigeren Preisen als die Sklaven auf großen Farmen her, und er versuchte zu begründen, warum man gefangengenommene "Barbaren" aus der Provinz Britannia Freiheit und Land zum Bestellen schenken sollte.

Seitdem ist eine lange Zeit vergangen. Britannia befreite sich nicht nur von Rom, sondern wurde auch zu dem, was Rom einst gewesen war, wobei es dann seinen wertvollsten Besitz, die 13 Kolonien in Nordamerika, wieder verlor, die heute den Sitz der römischen Macht darstellen.

Die USA erwarben ihr großes Ansehen vor allem durch den Verkauf der verführerischen Vorstellung persönlicher Freiheit. Zweifellos hilft dabei eine furchterregende militärische Macht und der Umstand, die stärkste Wirtschaftsmacht der Welt zu sein, doch übten die USA den stärksten Einfluß auf der kulturellen Ebene aus: im Bereich der Musik, der Sprache, des Films, der Ideen und des Designs. Daß die jüngere Generation auf der ganzen Welt, vielleicht abgesehen von extrem isolierten Ländern wie Nordkorea, das Wort "cool" verwendet, um Dinge zu kennzeichnen, die sie schätzt, und daß dies oft amerikanische Produkte sind; daß sowohl die Zuschauer der NATO-Luftmanöver über Albanien als auch die Zuschauer der serbischen Luftmanöver in diesem Sommer Coca Cola tranken, sind Zeichen, wie die USA die Vorherrschaft über die Welt gewonnen haben.

Es ist bedauerlich, daß dieser Sieg eines überlegenen Konzepts im Ausland von einer Niederlage desselben Konzepts im eigenen Land heimgesucht wird, wo es unter den Schichten einer großen Scheinheiligkeit begraben wird. Die Lebensweise, die Amerika der Welt verkaufte, ist den eigenen Bürgern durch eine Reihe von kleinlichen Gesetzen verwehrt, die genauso religiös geahndet werden wie jeder Penis nach der Geburt routinemäßig beschnitten werden. Was für einen Grund gibt es heute noch dafür, wenn sich jeder täglich duschen kann? Vor einiger Zeit stellte man fest, daß Teenager mit einem unbeschnittenen Penis eine größere Neigung zur Masturbation haben. Masturbation führt, so ließe sich sagen, zu Vergnügen, und Vergnügen ist ein wichtiges Element für das Gefühl umfassenden Glücks. Daher sollte die Beschneidung als nicht verfassungsgemäß geächtet werden, da sie das grundlegende Recht eines jeden Bürgers ernsthaft einschränkt - das Streben nach Glück.

Die jüngsten Impeachment-Anhörungen im Kongreß stellen nur die Spitze des Eisbergs der hell erleuchteten Lüge dar, in der wir leben. Im Unterschied zu manchen europäischen Demokratien (z.B. Großbritannien), wo die Exekutive der Regierung der Legislative unterstellt ist, sind in den USA beide Bereiche getrennt und jeweils denjenigen Rechenschaft pflichtig, die sie wählen: dem Volk der USA. Eine Impeachment-Abstimmung ist, auch wenn sie von vielen fälschlicherweise als ein rechtlicher Vorgang betrachtet wird (die Republikaner wiederholen das "Verhandlung-vor-einer-Jury"-Mantra), vornehmlich ein politischer Prozeß: ein Äquivalent für den Mißtrauensantrag in europäischen Parlamenten. Da der Präsident aber nicht gegenüber dem Kongreß für seine Handlungen verantwortlich ist, sondern gegenüber dem Volk, das ihn und den Kongreß gewählt hat, sollte der Kongreß das Impeachment-Verfahren nur bei extremen Fällen anwenden, die die Grundlagen der Demokratie im Land gefährden (wie das bei Richard Nixon der Fall war, der vor der Abstimmung sein Amt niederlegte). Sonst sollte die einzige Mißtrauensabstimmung gegenüber dem regierenden Präsidenten bei den Bürgern liegen. Clinton aber wurde in sein Amt zum zweiten Mal gewählt, und neue Meinungsumfragen zeigen, daß die Zustimmung über 50 Prozent liegt, was bedeutet, daß der Kongreß, wenn er das Impeachment-Verfahren weiterhin betreibt, dies gegen den Willen des Volkes macht. Ein solches Beispiel kann die Politik in den USA für immer verändern und würde von der Geschichte mit Abscheu verurteilt werden.

Überdies befindet sich der Kongreß am Ende seiner Legislaturperiode. Die Verhandlung wird nicht im Senat stattfinden, bevor nicht der nächste Kongreß die Abstimmung wiederholt hat. Wenn ein Präsident oralen Sex mit einer internen Angestellten hatte und dies dann vor der Grand Jury lügnerisch abstritt, dann ist das im Allgemeinen für die Präsidentschaft unerheblich. Viele wichtige Probleme wurden wegen des Kongresses aus parteipolitischen Gründen beiseitegeschoben. Die Forschritte in der Stabilisierung der Wirtschaft, die Einschränkung der Kriege in Bosnien und im Kosovo und die Einführung von Menschenrechtsfragen als Richtlinien der Außenpolitik stehen unter dem langen Schatten von seinem Penis. Log er das amerikanische Volk bezüglich seiner sexuellen Beziehungen mit Monica an? Ja, das tat er, aber die amerikanischen Bürger sind reif genug, sich darum nicht zu kümmern. Der Kongreß ist das allerdings noch nicht.

Wir müssen die aufgeblasene Scheinheiligkeit des Landes der freien Menschen, der Heimat der Unerschrockenen sehen. Es ist schmerzlich genug, jemandem zuhören zu müssen, der Nuklearwaffen in der Hand hat, der seine Unwissenheit darüber vorträgt, daß oraler Sex eine sexuelle Beziehung ist. Es ist genauso schmerzlich, all die anderen frömmlerischen Diskrepanzen zu beobachten. Jeder raucht Marihuana - und doch ist es illegal. Der größte Anteil der stets zunehmenden Gefängnisinsassen sind die Menschen, die im Besitz von Marihuana festgenommen wurde (ja, die USA haben heute mehr "Gulags" als Rußland). Jedes Auto wird so gebaut, daß es schneller als 55 Meilen pro Stunde fahren kann, und jede Straße ist so angelegt, daß man schneller als mit 55 Meilen darauf fahren kann, jeder Fahrer fährt über 55 Meilen, jeder Hollywood-Film, in dem Autos vorkommen, preist die heißen Stühle als wesentlichen Bestandteil des amerikanischen Lebensstils an, doch beträgt die Höchstgeschwindigkeit in allen Staaten mit der Ausnahme von Montana 55 bzw. 65 Meilen.

Alle Medien stellen perfekte Körper heraus, doch sind 60 Prozent der Bevölkerung übergewichtig. Die USA sind die Heimat der weltweit größten Zigarettenindustrie und gleichzeitig der meisten "No Smoking"-Schilder an öffentlichen Orten (Wagen Sie nicht, in einem Restaurant zu rauchen: es ist verboten). Während der Prohibition war jedermann betrunken. Das Gesetz verbietet, Alkohol an Jugendliche unter 21 und Tabak an Jugendliche unter 18 Jahren auszugeben. Gestern begegnete ich einem Teenager, der mir erzählte, er habe mit dem Rauchen aufgehört, als er 18 wurde ...

Jede Werbung zehrt von der sexuellen Obsession, doch wird es für einen Mann als unschicklich angesehen, seine Oberschenkel auch nur beim Baden zu zeigen. Deswegen gibt es die doof aussehenden Bermuda-Badehosen, an denen wir die Amerikaner erkennen. Nachdem man zuerst die Idee und dann das Produkt der Blue-Jeans und der T-Shirts an den Rest der Welt verkauft hatte, verbannte man sie großteils für die eigenen Bürger und reduzierte sie auf eine Freizeitkleidung, in der ein Erwachsener vielleicht zum Fischen, aber nicht zu viel mehr gehen kann.

Wir leben grundsätzlich in einem Land der Lüge und der Heimat der Langweiler, aber, bitte, sagen Sie das niemandem weiter! Um was geht es also, wenn man einen Präsidenten hat, der ein Lügner ist? Er ist einfach ein Produkt dieser Gesellschaft! Er lügt nicht. Er hat vielleicht in die Irre geführt oder getäuscht, aber nicht gelogen. Wie kann man eine Lüge in einem Land charakterisieren, in dem Lügen so weit verbreitet ist, daß die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge verschwimmt und oft mißachtet wird? Wenn Pat Robertson glaubt, daß die ganze Gesellschaft von der Sünde gereinigt werde, wenn Bill Clinton seines Amtes enthoben wird, so wie Jesus gekreuzigt wurde, weil er ein Produkt dieses Landes ist, dann sollte er sich die Geschichte der christlichen Gesellschaft einmal genauer ansehen, zu der er und Clinton gehören: das funktioniert nicht.

Amerika sollte aufhören, mit der Lüge zu leben. Amerikaner sollten beginnen zu sagen, was sie wirklichen wollen. der Kongreß sollte die kleinlichen Gesetze abschaffen, die die Freiheit beeinträchtigen und die es meist nur gibt, um das Leben in der Lüge aufrechtzuerhalten. Der Präsident sollte seine Arbeit machen können, die er ganz ordentlich gemacht hat, bevor man ihn einem Verfahren wegen Ehebruchs, pardon, wegen Meineids unterzog. Doch ein Meineid sollte in einer Gesellschaft nicht als Verbrechen gelten, in der die Lüge so weit verbreitet ist, oder?

Da das Impeachment-Verfahren im Kongreß so beunruhigend nahe heranrückte, war eine neue, entschlosseneHandlung notwendig. Nach Monaten der Nichterfüllung der UN-Beschlüsse wurde plötzlich, ganz aus dem Nichts heraus, der Entschluß gefaßt, daß der Irak bestraft werden sollte. Also wurde Bagdad bombardiert. Clinton benutzte in seiner Erklärung an die Nation sogar den Satz "die deutliche und die aktuelle Gefahr" von Harrison Ford aus dem Film, vielleicht um damit hervorzuheben, daß die Bombardierung Iraks jetzt an den Beginn aller Schauspiele rückt und hoffentlich die ermüdenden Impeachment-Anhörungen ersetzt, die, nebenbei gesagt, genauso schrecklich langweilig sind wie die letzten außergewöhnlichen Parteitag der Kommunistischen Partei des ehemaligen Jugoslawien.

Tatsächlich klingt für mich die Idee, Bomben in die Wüste abzufeuern, sehr überzeugend. Wir haben bereits unser Klima durch ein Jahrhundert der intensiven Produktion von Treibhausgasen vermasselt, so daß wir jetzt, egal ob mit oder ohne El Nino, bereits etwas wärmere Winter haben. Die Skigebiete in Colorado erleben die schlechtesten jahreszeitlichen Bedingungen, und hier in Vermont ist es nicht viel besser. Daher ist es ein willkommenes Korrektiv, ein bißchen Sand in die Atmosphäre zu schießen, um die Wirkung eines milden nuklearen Winters zu schaffen. Vielleicht sollte man auch an einen nuklearen Sprengkopf denken? Das würde nebenbei "wirklich" die Medien von den Impeachment-Anhörungen weglocken.

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer