Langer Weg zur Pressefreiheit

Die Debatte um eine Reform des Strafrechts in der Türkei wirft ein Schlaglicht auf das schwierige Verhältnis zwischen Medien, Regierung und Armee

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Mit der bevorstehenden Reform des Strafrechts soll die Türkei politisch an die Europäische Union herangeführt werden. Doch schon der Entwurf für die Gesetznovelle löste bei Journalisten und Menschenrechtsgruppen empörte Proteste aus. Journalisten, die gegen das "Wohl der Nation" handelten, hieß es darin, müssten fortan mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren rechnen. In den ersten Erläuterungen war unter diesem "Straftatbestand" auch die Aufforderung zum türkischen Rückzug aus Zypern oder die Kritik am Genozid an den Armeniern vor 90 Jahren genannt worden. Von strafrechtlichen Sanktionen wären auch ausländische Korrespondenten betroffen gewesen.

Erst massive Proteste von Journalistenverbänden im Land und Druck von außen durch der EU-Staaten konnte die türkische Regierung zum Einlenken bewegen. Ministerpräsident Tayyip Erdogan verschob das Inkrafttreten des neuen Strafrechts von April auf Juni, der strittige Paragraph 305 bis dahin soll überarbeitet werden. Gegenüber der französischen Nachrichtenagentur AFP versuchte Halil Özyoclu, der rechtspolitische Sprecher der Regierungspartei AKP, die Wogen zu glätten. Der Paragraph habe sich nicht auf Meinungsäußerungen, sondern auf "konkrete Aktionen" bezogen, die "im Auftrag fremder Mächte" durchgeführt würden. Doch der Paragraphenstreit hat auch die generelle Debatte um Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei neu entfacht.

Verbesserung seit den 90er Jahren

Die Sensibilität ist in der Türkei in dieser Hinsicht hoch, denn noch vor wenigen Jahren waren viele der heute in der Türkei bestehenden Grundrechte undenkbar. Noch in den 90er Jahren wurde die Presse- und Meinungsfreiheit im Rahmen des Krieges gegen die kurdische Guerilla massiv eingeschränkt. Journalisten, die gegen die Politik von Regierung und – weit wichtiger – der Armeeführung opponierten, wurden nicht selten verprügelt, inhaftiert, in Einzelfällen sogar ermordet. Noch im Jahr 1999 wurden 87 Journalisten verhaftet und mindestens vier von ihnen gefoltert. Zu den meisten Festnahmen führte ein Paragraph im "Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus", der "Propaganda gegen die Einheit des Staates" mit hohen Haftstrafen belegte.

Seither konnten einige Veränderungen durchgesetzt werden. So wurden die gefürchteten Staatssicherheitsgerichte abgeschafft, das Pressegesetz demokratisiert und das zuvor über allem stehende Antiterrorgesetz revidiert. Trotzdem weist das 1997 gegründete unabhängige Mediennetzwerk BIAnet auf eine anhaltende Repression hin. Alle drei Monate veröffentlicht BIAnet einen Bericht über den Stand der Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei. Die Jahresbilanz für 2004 verzeichnet 115 Verfahren gegen Medienschaffende. Ein Hauptproblem ist nach wie vor der Umgang mit der kurdischen Minderheit. Wie die Zeitschrift Qantara (Die Brücke) berichtet, wurde Sebati Karakurt, Reporter der Tageszeitung Hürriyet, von Polizisten zu Hause überfallen, aus dem Bett gerissen und inhaftiert – weil er eine Reportage über PKK-Partisanen veröffentlicht hat.

Hinter solchen Angriffen steht gemeinhin die Armeeführung. Der türkische Generalstab zögert nicht lange, wenn er den "Straftatbestand" der "Beleidigung und Verschmähung der Sicherheitskräfte" erfüllt sieht.

Das Thema der Presse- und Meinungsfreiheit wird auch im Dialog mit der EU weiter auf der Agenda bleiben. Bei dem letzen europäisch-türkischen Koordinierungstreffen Ende April mahnte der luxemburgische Außenminister und EU-Verhandlungsführer Jean Asselborn die Türkei, "weitere Reformen auf politischer Ebene" durchzusetzen. Solche Appelle können schwerlich darüber hinwegtäuschen, dass die Menschenrechtsdebatte im Dialog zwischen Brüssel und Ankara hinter sicherheitspolitischen Erwägungen und der Zypernfrage nachsteht. Und das, obgleich am 3. Oktober die Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden sollen.