Le Pen: Ist das Fernsehen schuld?

In Frankreich geht die Suche nach den Schuldigen unvermindert weiter - zur Zeit befinden sich die TV-Nachrichten im Kreuzfeuer der Kritik

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Der für alle politischen Beobachter des Landes mehr als überraschende Wahlerfolg des rechtsextremistischen Lagers bei den Präsidentschaftswahlen hat einen Sturm im medialen Wasserglas der erniedrigten Nation" (Le Monde) ausgelöst: Hat die monatelang genüsslich breitgetretene Unsicherheitsdebatte Le Pen vielleicht die Wahlkampagne abgenommen? Während sich die Zeitungen und die TV-Sender gegenseitig den schwarzen Peter zuschieben, haben nun auch so manche Politiker zum handlichen Sündenbock Medien gegriffen: Der sozialistische Abgeordnete Julien Dray, holte sich gar beim größten TV-Sender Frankreichs, dem privaten TF1, ein Hausverbot, nachdem er TF1 als "TFN" bezeichnet hatte - FN, wie Front National, die Partei Jean-Marie Le Pens. Wohlweislich überging er, dass auch die Sozialisten und ihr geschlagener Kandidat Jospin versucht hatten, mit dem Thema innere Sicherheit Stimmen zu fangen.

Sein Ziel hat der rührige Abgeordnete, der es wohl vor allem auf die in einem Monat anstehende Legislative abgesehen hat, jedenfalls schon erreicht: Seine Aussage, dass TF1 großteils für den Wahlerfolg Le Pens verantwortlich sei, indem man die "Unsicherheit in Szene gesetzt und sie zum täglichen Leitmotiv" gemacht habe, wurde von weiten Teilen der Presse dankbar aufgenommen.

Letztere beschäftigt sich zur Zeit damit, die Beiträge der TV-Kollegen zum Thema Kriminalität und innere Sicherheit minutiös zusammen zu zählen: So stellte Libération fest, dass die Unsicherheitsthematik seit dem "politischen Erdbeben" des ersten Durchgangs, um die Hälfte weniger mediale Aufmerksamkeit geschenkt bekommen hat als davor. Eine Art unausgesprochenes mea culpa der TV-Journalisten?

Allerdings geht aus dem Zählwerk auch hervor, dass die öffentlich-rechtlichen Sender in Sachen Sicherheitsparanoia dem Privatsektor um nichts nachstehen, ja das als "Trash-TV" verrufene TF1 sogar übertreffen. Ganz zu schweigen davon, dass sich freilich auch die Tageszeitungen und Politmagazine in den Monaten vor der Wahl nicht zurückhalten konnten, ihre Auflage mit dem reißerischen Thema Unsicherheit (L'Insécurité) in die Höhe zu treiben.

Ein Institut namens "TNS Media Intelligence" hat sogar ein Messinstrument für den "medialen Lärm", den die Sicherheitsthematik in der französischen Presse im Laufe des letzten Jahres verbreitet hat, entwickelt: So sollen 62% der Medienkonsumenten durch das Fernsehen diesem "Lärm" ausgesetzt gewesen sein und 25,6% durch die Zeitungen. Das Radio hingegen erweist sich da mit mageren 12,3% als "Leisetreter".

Das am Vorabend des ersten Durchgangs der Präsidentschaftswahlen in sämtlichen Fernsehnachrichten präsentierte Bild eines weinenden Pensionisten, dessen Reihenhäuschen von bösen, jungen Männern in Brand gesetzt worden war, soll laut dem derzeit tobenden medialen Konzert zum Wahlerfolg des rechtsextremistischen Lagers wesentlich beigetragen haben. Doch kann man wirklich davon ausgehen, dass ein mündiger Wähler sich beim allabendlichen Anblick von brennenden Autos und schreienden Müttern wie ein Pawlowscher Hund verhält und den "Sicherheitsexperten" Le Pen wählen geht?

Die Franzosen "erleiden" ihre TV-Nachrichten

Aus einer Ende letzten Jahres von Le Monde in Auftrag gegebenen Studie geht hervor, dass die schwindelerregende Bilderflut, die "Nachrichten" genannt wird, vor allem eines beim abendessenden TV-Zuschauer hinterlässt: Verwirrung und diffuse Ängstlichkeit.

Das Tempo mit dem Thematiken verschiedensten Inhalts mehr oder weniger zusammenhangslos heruntergebetet werden und in dem die zum Teil hochemotionalisierenden Bilder zu einem Einheitsbrei verschmelzen, verursache beim Zuschauer das Gefühl "eine Maus im Sturm" zu sein, erklärt der Leiter der Studie, Denis Muzet. Seitdem das Thema Kriminalität und die Beiträge aus den Chronikredaktionen in Frankreich derartigen "medialen Lärm" verursachen, füge sich zu der Angst vor der "Unsicherheit" auch die Angst vor den "Bildern der Unsicherheit" hinzu.

Doch was in Wirklichkeit Angst mache, ist laut dem Soziologen Loïc Wacquant, nicht die angeblich so sprunghaft angestiegene Kriminalität, sondern die "soziale Unsicherheit", die durch Arbeitslosigkeit, Abbau der Sozialleistungen und zunehmenden Rückzug des Staates aus der Wirtschaft verursacht werde:

"Diese diffuse soziale Unsicherheit, die Familien aus den populären Schichten (objektiv) betrifft, aber auch weite Teile des Mittelstandes (subjektiv), hat sich dank des öffentlichen Diskurses der Medien und Politiker auf die kriminelle Unsicherheit ausgerichtet. (...) Im letzten Jahr hat die Unsicherheitsthematik alle anderen Themen weit aus dem Feld geschlagen und 10 Mal mehr medialen Lärm produziert als das Thema Arbeitslosigkeit. Wer könnte heute noch behaupten, dass die Unsicherheit ein 10 Mal schwerwiegenderes Problem ist als die Arbeitslosigkeit?", fragt sich Wacquant in einem Interview mit dem Kulturmagazin "Les Inrockuptibles".

Tatsächlich hat es die neue, flugs aus dem Ärmel des Wahlsiegers Chirac gezauberte Mitte-Rechts-Regierung zur Zeit mit ca. 2,4 Millionen Arbeitslosen zu tun. Und sie beschäftigt sich, wie es nicht anderes zu erwarten war, mit der Sicherheit in den öffentlichen Transportmitteln im Speziellen - eine eigene Polizeieinheit soll geschaffen werden - und der inneren Sicherheit im Allgemeinen. Am Mittwoch wurde ein "Rat für die innere Sicherheit" ins Leben gerufen, der sämtliche betroffenen Ministerien an einen Tisch bekommen soll, um der Kriminalität den Kampf anzusagen. Präsidiert wird das Ganze vom "triumphal" wiedergewählten Staatsoberhaupt Jacques Chirac. Auch wenn ihn manche mit zugehaltener Nase gewählt haben.

Knappe 4 Wochen hat die Regierung Raffarin Zeit, um dem Volk noch rechtzeitig vor den Nationalratswahlen am 16. Juni ihre Sheriff-Qualitäten zu beweisen. Was selbst die Polizeigewerkschaften öffentlich anzweifeln, die unisono von einer "Ankündigungspolitik" sprechen. 4 Wochen haben auch die glücklosen Sozialisten noch Zeit, um die Scherben des linken Wahldebakels aufzusammeln. Zur Zeit versucht man mit den Grünen und Kommunisten gemeinsame Kandidaten aufzustellen und den Franzosen die "Angst vor der Zukunft" zu nehmen, wie es Wacquant bezeichnet.

Ob die allgemein ausgebrochene Selbstgeißelung der journalistischen Zunft am sozialen Unbehagen der Grande Nation etwas ändern kann, bleibt zu bezweifeln. Die freiwillig verordnete Zurückhaltung bei den großen Themen wird wohl auch nicht lange vorhalten: Am Ende setzen sich doch immer die Quoten durch.