Leben und Sterben in Manila

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Die Gerechtigkeit auf den Philippinen: Zwei Filme des großartigen Regisseurs Brillante Mendoza kommen jetzt ins Kino

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Warum zeigt man Grausamkeit im Kino? Warum Ekel? Warum, könnte man auch fragen, zeigt man überhaupt das Leben? "Jede Facette unserer Lebenserfahrung sollte sich im Kino spiegeln", sagt Mendoza, "Ich will so viel Leben, wie ich kann in meine Filme packen. Das Leben wie ich es sehe und so ehrlich und so wahrhaftig, wie möglich. Je mehr das gelingt, um so besser ist der Film. Das ist die Art Kino, die ich zu machen versuche. Ich versuche, das Leben auf die Leinwand zu bringen. Auch das Leben jenseits der Geschichten. Die besten Filme sind in sich dreidimensional ganz ohne technische 3-D-Effekte. " Und Armut und Gewalt sind nun mal nicht besonders sexy. Warum also sie so zeigen - zumal das ja schon in Hollywood zur Genüge geschieht?

Die Skandalisierung Mendoza und seiner Filme durch Teile der westlichen Filmkritik mag ein Übriges getan haben, aber sie wird Mendoza nicht gerecht. Es geht hart zur Sache im Kino Brillante Mendozas: Seine Filme sind in gewissem Sinn eine erschütternde Erfahrung. Eine erschöpfende auch. Und zugleich sind es liebevolle, schöne und riskante Filme. Und einfache Geschichten.

Ein ganz normaler Tag, ein Morgen wie jeder andere in Manila. Man sieht einen Marktplatz, Frauen mit ihren Kindern gehen einkaufen, fahrende Händler bauen ihre Buden auf. Jeder kauft oder verkauft irgendetwas, Ökonomie bestimmt den Pulsschlag des Lebens. Mobiltelefone werden angeboten, man sieht Gemüsestände, eine große Uhr, einen Hahn, der für seinen nächsten Kampf präpariert wird, eine Waage für die Ware, eine Metzgerei, einen Geflügelhändler, der ein paar tote Hühner köpft und dann hingebungsvoll zerlegt, junge Männer, die schwere Mülltüten wegbringen - eben Szenen aus dem Alltag der philippinischen Hauptstadt.

Im Dickicht der Metropole

Es ist eine großartige Eröffnung, die sich in ihrem ganzen Hintersinn dem Zuschauer aber erst ganz erschließt, wenn man "Kinatay" zum zweiten Mal sieht. Sie verrät viel über das Kino Brillante Mendozas, über die Unmittelbarkeit seines Stils, seine Offenheit, seine beiläufige Präzision, sein Spiel mit Zeit und Raum. Zugleich ist der ganze Film hierin versteckt schon enthalten. Und am besten ist es wahrscheinlich, wenn man gar nicht weiter erzählt, was nun alles folgen wird.

Denn ohne dass er seine Zuschauer bewusst in die Irre führen würde oder alles absichtlich im Vagen hielte, entwickelt "Kinatay" wie Mendozas andere Filme seine Geschichte doch erst allmählich aus dem Leben der Figuren, und das heißt, er bettet sie ein in ihr Zuhause, ihre Familien, ihre Arbeit, ihre tagtäglichen Verrichtungen. Das bedeutet in diesem Fall, dass wir zunächst Peping kennenlernen, einen jungen Mann, dem Coco Martin, einer der angehenden Stars des philippinischen Kinos, sein weiches, unschuldig-offenes Gesicht gibt.

An diesem Morgen wird er heiraten, ein Kind hat er schon, und während man ihn mit der Braut im Bus auf dem Weg zur Hochzeit begleitet, danach auf der Feier sieht, lauscht man Gesprächen über Geldnot, erfährt, dass Peping angehender Polizist ist, und nebenbei zeigt der Regisseur die Bürokratie, christliche Missionare, einen jungen Mann, der von einem Dach springen will, und die Medien, die das beobachten - in solchen Momentaufnahmen entfaltet er diverse Facetten seiner philippinischen Heimat.

Parabel über das Schuldigwerden

Und doch ist alles dies, die erste Viertelstunde des Films, nur Exposition. Denn im Weiteren wird man begreifen, dass Pepings Leben auch eine brutale Nachtseite hat, dass er mit ein paar Kollegen nebenbei im Sold eines Gangsterbosses steht. In der Nacht nach seiner Hochzeit wird er mit seinen Kumpanen zunächst endlos lang aus der Stadt hinaus in einen Vorort fahren, dort eine junge Prostituierte, die der Auftraggeber offenbar beseitigen will, entführen und später auf grauenhafte Weise ermorden.

Peping selbst ist dabei nur indirekt beteiligt, die Kamera zeigt sein Zögern, sein Mitleid mit dem Opfer, seine Angst, aber auch seine Unfähigkeit, sich der Beteiligung zu verweigern - und darum seine Schuld. Auch hier wieder gibt es großartige Szenen, wie jenen Moment, in dem Peping den Tatort fliehen könnte und den Mut erst findet, als die kurze Chance gerade wieder verstrichen ist. Besonders in solchen Augenblicken wird "Kinatay", mit dem Mendoza im vorigen Jahr in Cannes sehr verdient den Regiepreis gewann und seinen endgültigen internationalen Durchbruch erlebte, auch zu einer universal gültigen Parabel über das Schuldigwerden und das Dabeistehen. Jeder Europäer kann sei leicht auf seine Verhältnisse, seine Geschichte beziehen.

The Philippines according to Grandma

Um Schuld und Sühne geht es auch in "Lola", dem zweiten Film Mendozas, der jetzt ins Kino kommt, und nicht minder virtuos und elegant ist, nicht weniger ernsthaft als "Kinatay". Auch "Lola" beginnt mit scheinbar banalen Alltagsmomenten: Eine alte Frau geht mit einem kleinen Jungen in eine Kirche. Wieder draußen, versuchen sie eine Kerze anzuzünden, im Wind und Regen ein schweres Unterfangen.

Der Kleine, der den Schirm schützend gegen den Wind halten soll, stellt sich dabei nicht gerade geschickt an. Minutenlang dauert es, mit der Geduld eines Bresson, präzise eingefangen von der Handkamera. So baut Mendoza jene Atmosphäre auf, die den Film prägen wird: Menschen die schwach sind, ihre Anstrengung, die in jeder der langsamen und umständlichen Bewegungen der alten Frau enthalten ist, genau wie die Energie, die diese rührende Alte mit ihren vermutlich über 80 Jahren noch hat. Nichts passiert, werden manche sagen, alles passiert, erkennt man, wenn man hinguckt.

Brillante Mendoza ist der neueste Shooting-Star des Weltkinos. Mit unglaublicher Geschwindigkeit hat er seine Filme gedreht: Low Budget, oft mit Laien. Sie zeigen uns Facetten des Alltags in den Philippinen. Aber darüber hinaus zeigen sie - wie einst die italienischen Neorealisten Rosselini und Fellini, die Mendozas Vorbild sind - etwas ganz Universales: Das Leben selbst, das kleine Glück; den täglichen Überlebenskampf; Großfamilien, in denen oft Mütter und Großmütter den Ton angeben und auch ihren längst erwachsenen Söhnen mal eins hinter die Löffel geben; Hochzeiten, Familienfeste, aber auch Beerdigungen und den mühsamen Gang zu einer Behörde. Wie bei Rosselini oder heute bei Ken Loach und Andreas Dresen stehen in all diesen Filmen die einfachen Leute im Zentrum.

Das galt auch schon für "Tirador", der 2008 bei der Berlinale den Caligari-Preis gewann, und für "Serbis", eine Hommage an das Kino selbst, die eine Groß-Familie portraitiert, die mitten in der Stadt ein altes Kino betreibt - dieser Film war Menozas Debüt bei den Filmfestspielen von Cannes. In "Tirador" führt er in einer Form, die an "Short Cuts" erinnert, verschiedene Episoden zusammen; in "Serbis" geschieht fast alles in einem einzigen unterteilten Raum, einem Haus, das einen Kinosaal enthält. Und es gibt eine recht genau umrissene, übersichtliche Gruppe von Personen. In "Kinatay" steht ein einziger Mann im Zentrum, wir begleiten ihn auf einer Reise, in "Lola" die beiden Großmütter.

Ein Kino der Sinnlichkeit

Mendozas Kino ist ein Kino der Sinnlichkeit. In "Lola" schüttet es permanent, ein starker Wind pfeift, und beides wird in diesem Film kaum je aufhören. Man hört den Lärm der Großstadt im Hintergrund, man sieht Regen, spürt die Feuchtigkeit, den Wind, die Hitze. Die Handkamera zittert immer wieder leicht, macht dadurch die Anstrengung, die Nervosität, noch spürbarer. Natürlich liegt ein großer Reiz der Filme Mendozas - nicht der einzige und auch nicht der wichtigste -, auch darin, dass man in ihnen sehen kann, wie es eigentlich aussieht auf den Philippinen, ahnen kann, wie es sich vermutlich anfühlt, hier zu leben. Man glaubt Manila zu riechen, zu schmecken, man glaubt selbst dort zu sein.

Weiter bewegen sich die Alte und der Kleine durch die Stadt in Real-Zeit - der Umgang mit Dauer, die Ruhe des Beobachtens sind zentral für diesen Regisseur, dessen bisher acht Filme alle Passagen besitzen, in denen er seinen Figuren einfach beim Leben und der Zeit beim Vergehen zusieht, ohne etwas zu beschleunigen oder zu dehnen. Sie nehmen einen öffentlichen Kleinbus. Man hört die Gespräche der Passanten. Plötzlich eine schnelle Bewegung, kaum begreift man, was geschieht, ein Mann stürzt aus dem Wagen, eine Frau schreit - ein Taschendieb hat das Mobiltelefon entrissen. Vor zwei Jahren hat Mendoza mit "Tirador" (seinerzeit im Berlinale-Forum) die Welt der Taschendiebe dargestellt, jetzt zeigt er die andere Seite. Dass hier immer alles passieren kann, darauf hat er die Zuschauer hiermit auch vorbereitet.

Die Kamera drängt mit aus dem Bus, streift im Vorübergehen, wie die Alte den Kleinen schützend festhält, zeigt wie Passanten den Dieb fangen und zusammenschlagen. Spontane Selbstjustiz der Straße. Angst in seinem Blick, Wut in den Augen der anderen. Die Bedeutung dieser clever eingebauten Episode, entpuppt sich später als listige Reflexion über Gerechtigkeit und als Verdoppelung des Ereignisses, das die Handlung des Films überhaupt ausgelöst hat: Der Enkel der alten Frau ist bei einem Raubüberfall ermordet worden.

Die Alte geht, von der Kamera verfolgt, in einen anderen Raum. Dort liegt eine Leiche. Wer ist gestorben? Jetzt erfahren wir's: ihr Enkel. Sie wischt sich ein paar Tränen vom Gesicht, holt ihren Urenkel ein, der auf die Straße gelaufen ist. Dann geht es zur Arbeitsstelle des Enkels, ein Sicherheitsunternehmen, "Condolences" sagt eine Frau, dann zur Polizei, immer noch im Regen, immer noch mit dem Urenkel an der Hand. Bei der Polizei erfährt man mehr über den Todesfall: "His Cellphone was snatched ... he was stabbed on the bridge...", der Mörder sei bereits gefunden. Als die Alte das Gebäude verläßt, kreuzt sich ihr Weg mit dem einer anderen alten Frau. Jetzt folgt die Kamera ihr, und bald begreifen wir: Die zweite Alte ist die Großmutter des Mörders.

"Lola" - der Titel bedeutet Großmutter auf Philippinisch - zeigt den Kampf der alten Frau um Gerechtigkeit und um genug Geld für die Beerdigung, er zeigt aber auch den Kampf der zweiten Alten. Unter ständigen Perspektivwechseln parallelisiert der Film die beiden Großmütter. Sie kommen beide aus der Armenschicht und haben mehr gemeinsam, als sie trennt. Dabei werden die alten Frauen keineswegs verklärt. Mendoza zeigt, wie die eine ihre Kunden betrügt, die andere Behörden belügt, denn nur so kann man in dieser Welt universaler Korruption selbst das Geld zusammenkratzen, das man braucht.

Ein Kino der Gerechtigkeit

Wahrhaftigkeit ist wie man auf die Menschen blickt. Und wie man mit dem umgeht, was um einen herum geschieht. Ich will das ins Kino bringen, was ich sehe und erlebe. Auch wenn es etwas Böses ist. Ich will nichts verstecken. Selbst wenn ich Angst habe, etwas zu zeigen, werde ich es zeigen, wenn es der Wahrheit entspricht. Ich versuche so exakt und detailliert und aufrichtig in der Darstellung zu sein, wie möglich - das heißt Wahrhaftigkeit. Ein Kino ohne Schatten, ohne den Versuch, irgendetwas zu verstecken.

Brillante Mendoza

Mendozas Kino ist auch ein Kino, das nach Gerechtigkeit fragt. Es geht nicht so sehr um das unmittelbar Politische, mehr schon um ein facettenreiches Gesellschaftsportrait, das Anteil nimmt, dass sich - wie Zola in seinen Romanen, wie die Filme der italienischen Neorealisten - für die Lage der Armen, ihre Menschlichkeit und Not interessiert. Die Moral von Mendoza Kino liegt darin, dass er es uns Zuschauern ungemein schwer macht, uns nicht mit den Figuren zu identifizieren.

Wenn in "Lola" alle alle betrügen und sogar das Gerichtsurteil zur finanziellen Verhandungssache wird, ist es die ganze Meisterschaft des Regisseurs, dass man auch das als Zuschauer versteht und billigt. Not kennt kein Gebot. Das gilt - und hierin liegt die Hinterlist Mendozas, seine Humanität wie sein Pessimismus - sogar für Peping, den kriminellen Polizisten in "Kinatay". Nach der bestialischen Nacht graut der Morgen, und Peping kehrt nach Hause zurück. Zärtlich hält er sein Kind im Arm. Ein ganz normaler Tag, ein Morgen wie jeder andere.