Leise rieselt der Schnee

Weihnachten zwischen Mythos, Magie und Lifestyle

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Wie perfekt der Schnee im Optimalfall auch rieseln oder was immer man "mit gutem Gewissen" auf die Tafel bringen mag, das Fest der Feste funktioniert ganz gut ohne religiösen Kontext. In Krisenzeiten dient es vorzüglich dem Rückzug ins Private. Das Missverhältnis weihnachtlich generierter Stimmung zur zunehmenden kosmischen Unbehaustheit des modernen Menschen ist zwar längst offenkundig. Aber das Paradoxon wird auch in diesem Jahr wieder erfolgreich verdrängt.

So viel ist klar: Die Aromen von Lebkuchen, Spekulatius und Glühwein reizen nicht nur Nase und Gaumen, sondern wecken auch tief sitzende Gefühle. Und selbst unter Agnostikern gilt: Feiern ist "in". Grell illuminierte Weihnachtsmärkte locken an grauen Abenden Zweifler und Sinnsucher in die Innenstädte und können den Ansturm kaum fassen. Nett: Köln, die reichste römisch-katholische Diözese der Welt, präsentierte im Vorjahr eine 25 m hohe monumentale Fichte, "den größten Weihnachtsbaum des Rheinlands". Auf dem Münchner Marienplatz konkurriert eine fast 30 m hohe todgeweihte Fichte, ebenfalls ein Rekordbaum.

70 Sattelzüge lieferten Material und die Pavillons allein für den kölschen Weihnachtsmarkt. Jedoch, hier tummeln sich beileibe nicht nur Kölner. An Wochenende werden bis zu 600 Busse in der Domstadt erwartet, viele aus dem benachbarten Ausland. Vor allem Holländer, Belgier und Franzosen zieht es hin zu teutonischer Romantik und vorweihnachtlicher Glühweinseligkeit vor der imposanten Kulisse der Kölner Kathedrale.

Der sterbende Baum in Köln wurde mit deutlich mehr Lämpchen als in München geschmückt, nämlich mit 140.000 (gegenüber 3.000 in München), was zu einem Eintrag in das Guinness-Buch der Rekorde führte. Und er ist doch nur einer von vielen: Ganze Heerscharen von Fichten und Tannen, die im vollen Lebenssaft stehen, werden alljährlich für das Fest umgehauen. Allein in Deutschland wurden 2009 über 29 Millionen Christbäume verkauft. Der Weihnachtsbaum ist dabei auch Importartikel: Fast zehn Millionen Nadelbäume wurden eigens nach Deutschland eingeführt. Beachtlich: Mit dem nächstenliebenden Handel steuert die heimische Holzwirtschaft inzwischen die Milliardengrenze an (2009/BRD: rund 700 Euro Umsatz).

Mit Pink Christmas lockt in München gar ein schwul-lesbischer Markt. Täglich ab 19:00 Uhr Gibt's hier am Stephansplatz Travestie und Magie auf der Bühne, unter anderem mit Travestiestar Gene Pascale.

Jahraus, jahrein: Der zum Jahresausklang regelmäßig gestresste Zeitgenosse, schwankend zwischen Sonderangeboten, die auf digitale Glücksmomente setzen, und altbewährten Verführungen aus Parfümerie und Feinkostladen, schätzt "seine" Adventszeit über alles; sonst trennende Faktoren werden nivelliert, soziale Unterschiede eingeebnet. Fesche Mütter der young generation kaufen und verzieren Adventskränze und rudern durch Ozeane von Zuckerzeugs und festlichem Firlefanz, stylish dargeboten in kultig aufgemotzten Shops - oder billig und banal auf den Paletten der Discounter.

So oder so gilt: Seit alter Zeit setzen Menschen aller Kulturen im Jahresverlauf markante Punkte und verbinden diese mit höchst irrationalen Vorstellungen. Im alten Rom wurde das Fest der Wintersonnenwende als "Fest der unbesiegbaren Sonne" (Dies natalis solis invicti) gefeiert. Die Kirche des Mittelalters nahm solche Bräuche bereitwillig in ihren Jahreszyklus auf.

Ein frommer Schwindel

Man gab sich kirchlicherseits große Mühe, dem römischen Fest im Nachhinein einen "christlichen” Anstrich zu geben. So erklärte man, die Sonne, die ab dem 21. Dezember eines jeden Jahres an Kraft wieder zunimmt, könne Christus symbolisieren, der durch seine Verherrlichung "unbesiegbar" geworden sei. Flugs wurde aus dem römischen Fest des heidnischen Saturn ein Christusfest. Die neutestamentlichen Schriften selber geben hierzu keinerlei Anlass: Von seinem Geburtstag hat Christus offensichtlich selber nie gesprochen, und von einem Fest zum Gedenken an seinen Geburtstag ist in den Evangelien auch keine Rede.

Seltsame Blüten treibt derweil die Verniedlichung der Engel. Aber, wie der Einkaufsbummel in der vorweihnachtlichen City zeigt, Engel und Zubehör sind unverzichtbar. Der sogenannte Stern von Bethlehem, millionenfach kopiert, erweist sich bei genauer Betrachtung jedoch als zweifelhaftes Omen. Die sogenannten Heiligen Drei Könige samt ihrem Stern waren weder "heilig" noch waren es "Könige", noch ist ihre Zahl überhaupt bekannt.

Der biblische Schreiber nannte sie schlicht (und ohne weitere Zahlenangabe) "mágoi" (griechisch), das heißt "Magier", die aus dem Osten kamen. Der Osten (Chaldäa) war berühmt für seine Sterndeuter, eine nicht ganz zweifelsfreie Berufsklasse, angesiedelt zwischen altertümlicher "Wissenschaft" und purer Magie. Merkwürdig auch, dass jener biblisch bezeugte Stern die Astrologen zuerst zu König Herodes (einem Tyrannen sondergleichen) und erst danach zu Jesus führte, so dass Herodes daraufhin Jesus töten lassen wollte. Kein "guter" Stern? Es wird nicht erwähnt, dass außer den Astrologen jemand den "Stern" sah (Matthäus Kap. 2, Verse 1-9).

Das göttliche Kind

Der Mythos vom Weihnachtsbaum hängt mit dem vom Heiligen Kind unmittelbar zusammen. Auch hier fällt auf: Reale christliche Bezüge Fehlanzeige. Es war der Gott Tammuz, ein Deckname des dreisten Jägers Nimrod, der in der Bibel als ein "Gewaltiger auf der Erde" beschrieben wird, sozusagen der Urahn aller Despoten, dem die Tanne in ältester Zeit heilig war. In Gestalt des vergöttlichten Kindes erscheint Tammuz alias Nimrod in der Mythengeschichte als Konkurrenzgestalt des echten Messias und als Inkarnation der Sonne.

Darauf hat bereits Mitte des 19. Jahrhunderts wortgewaltig der britische Gelehrte Alexander Hislop in seinem Werk "Von Babylon nach Rom" hingewiesen, einem religionsgeschichtlichen Standardwerk, das jedoch immer wieder – nicht zuletzt wegen der Beherztheit seiner Thesen – auch in die Kritik geriet.

Mythische Belege finden sich indes auch in anderen Kulturen. In Ecuador wird allgemein nino divino verehrt, und es ist üblich, zum "göttlichen Kind" zu pilgern. In der Andenprovinz Cotopaxi macht sich Jung und Alt auf den Weg, um einer als heilig geltenden Puppe Verehrung zu zollen, die dort unter diesem Namen aufbewahrt wird. Allgemein wird erzählt, die Puppe werde jedes Jahr größer, d.h. sie wachse. Das göttliche Kind tritt auch in altägyptischen Darstellungen, meist als Teil einer Triade (Gottvater, Gottsohn, göttliche Mutter) in Erscheinung. Die Darstellung der ägyptischen Isis mit dem Kind ähnelt verblüffend mittelalterlichen Bildnissen der Maria mit dem kleinen Jesus.

Das Kind funktioniert so als Mythenträger. Und hier zeigt sich einmal mehr: Weihnachten ist überall. Nicht nur im Christentum, sondern auch in anderen Religionen gibt es sie, die Erzählungen von der Geburt göttlicher Kinder. Göttliche Kinder sind heute auch Medienstars: Das Fernsehen zur Weihnachtszeit schürt den Kinderglauben eifrig. Ob Peter Pan, Pippi Langstrumpf oder die unvermeidliche Heidi: "Göttliche Kinder sind als säkularisierte Stellvertreter des Gotteskindes zu deuten, die den Menschen Rettung von allen möglichen Übeln bringen", konstatieren Andrea Bramberger und Edgar J. Forster in einer Studie.

Das Schenken: Bestandteil der Übung

In vielen Fällen verbirgt sich hinter dem Schenken der Wunsch, als Gegenleistung ebenfalls beschenkt zu werden. Das belegt den ökonomischen Faktor hinter der nostalgischen Staffage: Die moderne Wirtschaft als unbestrittene Größe spielt gerade eine Parade- Hauptrolle in der vorweihnachtlichen Posse. Und die setzt gezielt beim Nachwuchs an.

Je nachdem, wo ein Menschenkind aufwächst, wird ihm erzählt, der heilige Nikolaus, der Weihnachtsmann, Santa Claus, Père Noël, Knecht Ruprecht, die drei Weisen, die elf Jultomten oder eine Hexe namens La Be-fana würde ihnen Geschenke bringen. Natürlich sind alle diese Geschichten frei erfunden. Sie beweisen eher die Evolution einer Legende.

Ist Weihnachten also eine wundersame Kulisse ohne Wahrheitsgehalt? Das Weihnachtsfest mit seinen altorientalischen Ursprüngen gehört zu den Bräuchen, in deren Übung wir uns offenbar weltweit gleichen und angleichen. Auch in China steht Shopping unter Tannendekor und flimmernden Girlanden inzwischen hoch im jahreszeitlichen Kurs. Jeder vierte Chinese verbindet mit dem Fest laut Umfragen vor allem "Romantik". Auf Schaufenstern chinesischer Geschäfte kleben weiße Aufschriften, die in holprigem Englisch "Happey Christmos" verkünden.

Christmas gehört damit zu den supranationalen Prägekräften, die von kultisch ritualisierten Anlässen auf Menschenherzen, -köpfe und ganze Systeme einzuwirken vermögen. Nicht zu vergessen: Über Jahrhunderte beanspruchte die Kirche mit ihrem Festkalendarium das Zeitmonopol; für das ungebildete Volk war die Einpassung in die klerikale Ordnung ehernes Gesetz. Für das kirchliche System – lange identisch mit dem gesellschaftlichen – bedeutete es Stabilität, und das selbst in Zeiten schwerster Krisen.

Der Grüne Riese am Kölner Dom ist dieses Jahr mit einer 400 Meter langen LED-Lichterkette versehen. Romantik zum "Fest" wird heutzutage inszeniert; ohne Technik läuft gar nichts. Und die Kassen klingeln, trotz Wirtschaftsflaute. Kölsch fließt hier in der Metropole am Rhein natürlich reichlich und macht dem Klassiker Glühwein Konkurrenz; und gern wird hier wie andernorts reflexhaft die "Kommerzialisierung" des Festes beklagt.

Ob Weihnachtsbäume und -präsente in Fernost etwa Anzeichen einer Verchristlichung der Kulturen sein könnten? Diese selige Frage darf angesichts der magischen Ursprünge getrost verneint werden: Das Wesen des Festes ist der infantile Ritus selbst, die Wiederholung des Immer-Gleichen. Mag auch sonst alles fraglicher geworden sein.